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1.

An dem Ende des Dorfes, da, wo die Landstraße nach dem Gebirge allmälig zu steigen beginnt, lag rechts »der Hof.« Der Hof war ein Complex von Gebäuden: Wohnhaus, Inspectorhaus, ein paar Ställe und Scheunen, deren Zwischenräume von einer hohen Mauer aus behauenen Feldsteinen ausgefüllt waren. Wer auf seiner Tour vom Gebirge in's Thal auf dem gut chauffierten Wege im Wagen rasch durch die Dorfstraße rollte, konnte, wenn er sich nicht eines besonders scharfen Auges für die Einzelnheiten der Umgebung erfreute, nichts an diesem »Hofe« bemerken, was ihn von den übrigen, deren das Dorf mindestens zwanzig zählte, wesentlich unterschieden hätte; der junge Student oder Landschafter aber, der zu Fuß reiste und also nicht verhindert war, genauere Beobachtungen anzustellen, sah gar bald, daß der »Hof« kein gewöhnlicher Bauernhof war. Da waren zuerst die zwei Linden, die rechts und links vor dem Eingange in den Hof standen und die mindestens so alt sein mußten, wie die Inschrift über dem Spitzbogenthor (in welcher man nicht ohne einige Mühe die Lettern A. D. und die Ziffern 1 6 5 2 erkannte), und das Wappen über der Jahreszahl, dem Regen, Wind und Wetter so arg mitgespielt hatten, daß außer dem Ritterhelm, der das Ganze krönte, wenig mehr daran zu erkennen war. Sodann deutete auch die Reihe steinerner, mit einer schweren verrosteten eisernen Stachelkette verbundener Pfeilerchen, welche den Hof nach der Landstraße und ebenso auf der anderen Seite nach einer der schmalen Dorfgassen umgaben, darauf hin, daß hinter dieser Kette eine andere Welt lag, als diejenige, aus welcher die zerlumpten, fröhlichen, hungrigen Geschöpfe stammten, welche sich oft stundenlang auf den kreischenden Seilen schaukelten, zum großen und gerechten Aerger eines alten Mannes in einer verschossenen Livree, der von Zeit zu Zeit die grünen Jalousien des hohen Erdgeschosses öffnete und eine runzlige Faust gegen die Kinder ballte, die, so wie sie des Alten ansichtig wurden, spornstreichs die Dorfstraße hinabzulaufen begannen. Die grünen Jalousien sah man übrigens meistens verschlossen, selbst in dem zweiten Stock, und die Zimmer der Bewohner, wenn das Haus überhaupt bewohnt war, mußten nach den beiden anderen Seiten des Hauses, nach dem Hofe zu, liegen.

Ließ man sich nun durch das verregnete adlige Wappen und durch die eiserne Stachelkette nicht abhalten, die kleinere, in die großen Thorflügel geschnittene Thür aufzuklinken und einen Blick in das Innere des Gehöftes zu werfen, so war da wenig, was die Neugierde hätte reizen können. Eine mit einem eisernen Geländer versehene Treppe, die zu einer Estrade hinaufführte, auf welcher einige grün angestrichene Bänke standen und von der man durch eine reichgeschnitzte Eichenthür in den Hausflur trat; in der Mitte des Hofes ein runder, überdachter Brunnen mit einer primitiven Vorrichtung zum Hinunterlassen und Heraufholen des Wassereimers; über der Thür des Inspectorhauses ein ungeheures Hirschgeweih; unter einem nach den Seiten zu offenen Schuppen ein Leiterwagen und eine alte gichtbrüchige Kutsche, auf dessen Stange ein sehr schöner Pfau saß; im Hintergrunde einige aus Stein aufgeführte, der Reparatur sehr bedürftige Wirthschaftsgebäude, die ein- für allemal in Ruhestand gesetzt schienen und über deren vielfach geflickte Ziegeldächer die hohen Wipfel stattlicher Parkbäume nickten – das war es ungefähr, was der Wanderer erblickte und was, so wenig es auch war, ein nachdenkliches Gemüth doch als etwas nicht Alltägliches berührte. Wenn man so eine Minute durch die Thür schaute, und den Sonnenschein um die Wipfel der Bäume und die Dächer und auf dem bunten Gefieder des Pfaues spielen sah, und wie das Gras, das in langen Halmen zwischen den Pflastersteinen des Hofes emporwucherte, in dem Morgenwind nickte, und die Schwalben, welche ihre halbflüggen Jungen in den Nestern unter dem Giebel des Wohnhauses fütterten, lautlos hin und wieder flogen, und man dann leise die Thür wieder zumachte, war es einem, als ob man eine Seite in einem hübschen alten Märchen gelesen hätte.

Warum nun Alt und Jung und Mann und Frau und Kind im Dorfe dieses Gehöft schlechtweg »den Hof« nannten, das konnte der Wanderer an dem entgegengesetzten Ende des Dorfes erfahren, wenn er in das Wirthshaus »Zum Rothen Hirschen« einkehrte. Denn der krausköpfige Wirth zum Rothen Hirschen war ein außerordentlich kluger Mann, der nicht blos Alles, was in seinem Dorfe vorging, wußte, sondern auch so ziemlich das, was in der übrigen Welt geschah, und dem es blos an der nöthigen Gelegenheit gefehlt hatte, um die große historische Rolle, zu der er ohne Zweifel geboren war, auch wirklich zu spielen. Nur einmal – im Jahre 1848 – war er nahe daran gewesen; aber das Schicksal hatte nicht das rechte Stichwort zur rechten Zeit gebracht. Erst hatten die dummen Bauern gar nicht begreifen können, um was es sich denn eigentlich handle, und als sie begriffen hatten, daß nun die goldene Zeit gekommen sei, wo Alles getheilt werden müsse: Weiber und Kinder, Haus und Hof, Pferde, Ochsen, Schafe und Schweine, da hatte die Regierung wieder nicht gewollt und sogar nicht übel Lust gehabt, den beredten Wirth zum Rothen Hirschen ins Gefängniß zu stecken, hätte er nicht noch eben zur rechten Zeit die Hahnenfeder vom Calabreser genommen.

»Aber sehen Sie, mein Herr,« sagte der Wirth zum Rothen Hirschen, »das kommt von dem Mangel an der rechten Bildung, die freilich die guten Leute nicht zwischen ihrem Kraut und ihren Rüben finden. Hernach, als es zu spät war, haben sie's wohl eingesehen, welche dumme Teufel sie gewesen sind, als sie Achtundvierzig, wo ihnen Alles, so zu sagen, auf dem Präsentierteller geboten wurde, nicht zugriffen. Damals hätten sie umsonst haben können, was sie hernach mit schwerem Gelde haben kaufen müssen. Na, sie haben's nun verwunden, und unter uns gesagt, sie konnten's zahlen; aber eine Schande ist und bleibt es doch. Zinsabzahlung! den vierzehnjährigen Betrag in blanken harten Thalern, nachdem unsere Eltern und Elterseltern wer weiß wie viele Jahrhunderte mit ihrem besten Korn und ihrem besten Vieh und sonst noch mit allerlei Frohnden und Plackereien dem Hofe pflichtig gewesen sind! Wollen der Herr wohl glauben, daß keine alte Frau hier im Dorfe Lumpen sammeln konnte ohne Erlaubniß des Hofes? und daß die Abdeckerei, die seit funfzig Jahren in meiner Familie gewesen ist, eine Hofgerechtigkeit war! – Hofungerechtigkeit, habe ich gesagt am einundzwanzigsten März Achtzehnhundertachtundvierzig, als wir Alle auf den Hof gezogen waren und der Alte vor der Thür stand und wir unten, und ich das Wort führte. Wir wollen keine Hofungerechtigkeiten mehr, habe ich gesagt, und das kupferne Scheffelmaß, mit dem der Verwalter das Zinskorn mißt, ist unten ausgebogen und um ein Drittel zu groß, habe ich gesagt. Da hätten Sie den Alten sehen sollen, wie er kreideweiß vor Zorn wurde und in das Haus lief und eine Flinte holte und schrie: wer ihn für einen Betrüger halte, den wolle er todt schießen wie einen Hund. Da sind sie weggelaufen und ich allein konnte es natürlich auch nicht durchsetzen. Aber Hochmuth kommt vor dem Fall. Als die Zinsablösung kam und der Herr von Weißenbach uns nicht mehr des Freitags vor seinen Amtmann auf den Hof citieren und uns in's Loch stecken konnte, wenn's ihm beliebte, hat er erst alle unsere schönen Thaler in die Tasche gesteckt und seine zwei andern Rittergüter verkauft, und den Hof hier würde er auch verkauft haben, blos daß keine Ländereien dabei sind und Niemand auf das alte Haus – der Herr müssen es ja gesehen haben, als Sie herein kamen – gleich rechts das Haus mit den grünen Jalousien und den Linden vor dem Thor – ja? nun, darauf wollte Keiner etwas bieten, denn der große Park hinter dem Hause ist auch meistens nur schlechtes Holz und wir haben vom Walde herunter das Holz hier billig genug, Gott sei Dank. So hat er denn den Hof behalten, und er kann jetzt froh sein, daß er keinen Käufer dafür gefunden hat, denn es ist hinterher Alles anders gekommen, als sich der gnädige Herr dachten. Sie waren nämlich in die Stadt gezogen, der gnädige Herr und das Fräulein, und wollten da herrlich und in Freuden leben. Aber was geschieht? der Herr von Weißenbach legt sein Geld in der neuen Creditbank an, und denkt wahrscheinlich: es würde sich da verdoppeln und verdreifachen, und hop, heisa, weg war, was er hatte, und die Leute sagen: mehr noch, als er hatte. Und eines schönen Abends – es sind nun just zwei Jahr – und ich stand hier vor der Thür und sah nach der Post aus, da kamen sie wieder an, aber nicht, wie sie weggefahren waren, in schöner Equipage mit vier Apfelschimmeln, sondern in einer alten Karrete mit einem Pferde davor, das früher des gnädigen Herrn Reitpferd gewesen und während der fünf Jahre, daß es in der Stadt im Stall gestanden, auch gerade nicht jünger und besser geworden war. Seitdem leben sie auf dem Hofe, wovon, mag der Himmel wissen, wahrscheinlich von dem alten Gerümpel, mit dem das Haus von oben bis unten angefüllt ist; denn in mein Haus haben sie wenigstens noch keinen Groschen gebracht, trotzdem ich das beste Bier zwei Meilen in der Runde braue und das ganze Dorf von mir Zucker, Kaffee und Cichorien kauft. Nun, mir kann es recht sein, ich kann ohne die adligen Hungerleider fertig werden; ich habe auch meinen Stolz und ziehe meine Mütze, vor wem ich will, und mache mich nicht gemein, wie meine Nachbarn, die noch immer vom ›gnädigen Herrn‹ sprechen, und wenn er sich einmal im Dorfe sehen läßt, sich vor ihm bücken, als ob's der Herrgott selber wäre, und seine Tochter ›das Fräulein vom Hofe‹, und wenn sie's recht gut meinen, ›Fräulein Röschen vom Hofe‹ nennen, als ob wir nicht alle freie Männer wären, die dem Staat ihre Steuern zahlen und sich den Kukuk um einen andern Hof, als um ihren eigenen, zu scheren brauchen.«

Wenn der Wirth »Zum Rothen Hirschen« seinen Gästen Dieses und mehr der Art »vom Hofe« erzählte, und überhaupt bei jeder Gelegenheit auf Herrn von Weißenbach und auf das Fräulein sehr schlecht zu sprechen war, so hatte er insofern einigen Grund dazu, als er, trotz seiner weltgeschichtlichen Mission, nachdem seine Eltern in Armuth gestorben, aller Wahrscheinlichkeit nach elend zu Grunde gegangen sein würde, wenn der Vater des Herrn von Weißenbach und der jetzige Herr sich nicht des verlassenen Knaben angenommen, ihn in die Schule geschickt und ihm sonst auf alle Weise im Leben fortgeholfen hätten. Vielleicht beschränkte sich das Wahre in den böswilligen Aeußerungen des krausköpfigen Wirthes auf Einzelheiten, die den Bewohnern des Hofes nicht eigentlich zur Unehre gereichten. Daß der alte Herr von Weißenbach sich selten außerhalb der Grenzen seiner Besitzung sehen ließ, und gegen Jedermann, es mochte sein, wer es wollte, eine gewisse vornehme Zurückhaltung beobachtete, war freilich nicht zu leugnen; aber da er nicht, wie der Wirth zum Hirschen, den Beruf hatte, den Reisenden die Honneurs des Dorfes zu machen und sie mit schlechten Geschichten und mittelmäßigem Bier zu unterhalten, so unterließ er am Ende nur, was nicht seines Amtes war; und wenn die Frauen im Dorfe, und nicht wenige Männer dazu, welche das Fräulein zum Mädchen hatten heranwachsen sehen, sie jetzt, nachdem sie fünf Jahre vom Dorfe entfernt gewesen und sich unterdessen zu einer sehr stattlichen jungen Dame entwickelt hatte, noch immer, wenn sie von ihr sprachen, wie in der vergangenen Zeit: »Fräulein Röschen vom Hofe« nannten, so lag doch auch in diesem Umstande für einen billig denkenden Menschen nichts geradezu Verfängliches oder gar dem guten Rufe des Fräuleins Nachtheiliges. Vielleicht, daß man gar umgekehrt daraus einen günstigen Rückschluß auf den Charakter der Dame machen durfte; vielleicht daß sie sich bis zu ihrem zwanzigsten Jahr – in welchem Alter sie gerade jetzt stand – ein Etwas von der Kindlichkeit und Treuherzigkeit bewahrt hatte, die ein feineres Ohr aus der traulichen Benennung heraushören mochte. Mindestens sprach es gegen diese Vermuthung nicht, daß man das Fräulein sehr häufig in die Wohnungen gerade der ärmeren und ärmsten Dorfbewohner treten und manchmal erst nach langer Zeit und jedesmal begleitet von den Segenswünschen der Armen, die oft ihre Hände und den Saum ihres Kleides küßten, wieder herauskommen sah. Nur das Eine war an der Benennung auszusetzen, daß der, welcher das Fräulein nicht kannte, sich, verleitet durch das Diminutivum »Röschen«, leicht ein ganz falsches Bild von ihr machte; aber da das Bild immerhin ein gefälliges war, so konnte man auch dies Unglück fast erträglich nennen.



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