Karl Söhle
Schummerstunde
Karl Söhle

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Die alte Apotheke.

Am Oldenberg, genau in der Mitte des Dorfes, da macht ein lattenverschaltes, genau viereckiges, altes Haus sich recht bemerklich, und ein Schild über der Haustür zeigt in verwaschenen Goldbuchstaben seine Bestimmung an: »Apotheke«. Fünf ausgetretene Steinstufen führen empor an die Tür. Weinreben umranken Tür und Fenster, und ihre Blätter decken im Sommer den rostigen Draht wie auch Griff und Schildchen der unangenehmen »Nachtglocke« barmherzig zu.

In der Apotheke wohnt der Apotheker, natürlich, Herr Gustav Fraatz, ein kinderloser und verhärteter Witwer, mit seiner nudeldicken Haushälterin. Der alte Apotheker Fraatz – er ist in Wirklichkeit gar nicht so weltscheu und verärgert, wie er allemal tut, wenn er an seinen Schalter vorkommen muß! Überhaupt, er genießt sein Leben ganz in seiner besonderen Weise. Die nudeldicke Haushälterin kocht ihm seine Leibgerichte. Über alles aber geht ihm seine Flöte! Schon sein Vater, sein Großvater bliesen, und die berühmte Schlacht bei Austerlitz für zwei Flöten, die hat er in seinen jungen Jahren mit dem Vater zusammen geblasen und seine Freude daran gehabt, wie oft! Gottlob, er braucht sich nicht zu überarbeiten, denn die Gegend ist gesund, ernstlich »patschent« wird der Heidjer doch höchstens mal im 143 faulen Hornung: und so hat er Zeit zum Flöteblasen, hat er Zeit, alle seine Leibgerichte auch ordentlich zu verdauen, daß sie ihm gut bekommen.

Wenn so die Sonne früh hier hereinscheint. Der Kaffee dampft und duftet auf dem runden Sofatisch, und der Korbsessel mit der Schlummerrolle ist herangerückt. Das saubere Geschirr auf schneeigem Linnentuche. Rundstücke, Scheibenhonig, frische Butter. Und die Ruhe. Nur die Standuhr auf der Kommode hört man ticken, ein auf korinthischen Säulen ruhendes, rundliches Ding, wie ein Fäßchen, und vorn überm Zifferblatt sitzt rittlings ein goldener Affe, einen Apfel fressend und mit jedem »Tick« das Maul bewegend. Die »Offizin« verbreitet durchs ganze Haus ihre balsamischen Kräutergerüche. Bis auf die Straße riecht's nach Kamillen, nach Pfefferminz, Baldrian, Fenchel, Veilchenwurzel. Pst, schnell auch noch einen heimlichen Blick in Apotheker Fraatzens Heiligtum. Sieh, die vielen Gläser, Kruken, Büchsen, von keiner profanen Hand jemals berührt, stumm-feierlich reihen sie sich aneinander auf den Börten, in gleichmäßigen Abständen, mit ihren gelahrten lateinischen Aufschriften, und bezeichnet eine jede ein Geheimnis der Natur. Aus einer düsteren Ecke grinst grellweiß ein Totenkopf an einem Schrank, schwarz wie ein Sarg: schlank das ganze Kirchspiel könnte Apotheker 144 Fraatz aus seinem Giftschrank –, bequem, es würde zulangen! Hm, man lieber wieder vor, in die sichere Wohnstube! Gleich wird er wohl aus seiner Schlafkammer nebenan zum Vorschein kommen, in seinem Käppchen, in seinem wattierten Schlafrock, er hat ohne Zweifel prächtig geschlafen, und das Frühstück wird ihm schmecken.

Montag, Dienstag, Mittwoch – Gott sei Dank, sechs Tage hat die Woche. Wehe aber der Sonntag, verkehrte Welt: der Sonntag ist des Dorfapothekers Plagetag! Reicht euch die Hände, Apotheker und Pfarrer! Da kommen aus den eingepfarrten Dörfern sie herein, und wie in der Kirche der Pfarrer für die Seele, so muß für den kranken Leib der Apotheker Rat wissen, wozu hat er denn sonst alle seine Mittel. So denkt der Heidjer, und deshalb fragt er, wenn er »patschent« ist, nach dem Schäfer zunächst den Apotheker. Den wirklichen Doktor fragt er jedenfalls immer zuletzt. –

Sonntag Okuli heute, die Kirche war voll gewesen schier zum Platzen. Apotheker Fraatz – neben seinem Mörser stehend, ohne sie anzusehen, scheinbar unaufmerksam hört er nur die Leute an und gibt ihnen das Verlangte. Er antwortet, wenn überhaupt, immer erst nach einer längeren peinlichen Pause kurz und bissig über die Schulter weg, und wenn er zwischendurch mal 145 nachdenkt, so schaut er dabei tiefgesenkten Hauptes und starr, wie abwesend, in die blanke metallene Höhlung. –

Ein ganzer Trupp Bauern kommt, Männer und Weiber.

»Hei hat wedder sinen Dullen,« flüstert Krischan Kliefoth von Lingwedel: »Wer gaht tauirst 'rann? Lehrke,du!«

»Den Deuker!« grunzt der Angesprochene.

»Peesel, Fuhlboom, du – nee, holt, täuw: Niebuhrs Mudder van Weddersell, de hat Kurasche!« Und Krischan Kliefoth siffelt beobachtend auf die Seite.

»Och 'ott, ick woll man fragen –«

Eine unheimliche Stille, und aller Augen lesen unwillkürlich den Spruch aus dem Jesus Sirach über der obersten Gläserreihe, in leuchtenden, zinnoberroten Buchstaben: »Prüfe, was deinem Leibe gesund, und siehe, was ihm ungesund ist: das gib ihm nicht. Denn allerlei dienet nicht jedermann.«

Apotheker Fraatz tut einen ungeduldigen Stoß in den Mörser. Der erste Schuß zum Gefecht.

»Glieks!« kreischt erschrocken die alte Niebuhrn. »Och 'ott, unsen Willem hat't schön beluert, hei hat keine Luft nich, un all drei Dage nich un hei hat nich Natt nich un nich Drög nich hat, och 'ott un dabi 146 Koppweihdag, och un rögen kann hei sick nich, un ganz swart is hei all, un de Ogen stahn öm rut ut'n Kopp, och 'ott, un hei jammert in eine Tuhr, un ick woll man fragen, wat is da woll gaud vör?«

»Marsch, hin zum Doktor, den fragt um Rat!«

»Och 'ott, Sei kennt ja de Krankheiten ebenso gaud!«

Die Alte weicht nicht vom Fleck, und endlich bekommt sie auch wirklich ein Mittel – eine Flüssigkeit.

Das hat Bresche gemacht, und nun kauft einer nach dem andern Salben, Pulver, Pillen, Mixturen und Latwerge, es ist eine Freude.

Ein erbärmlich verknorkstes Bäuerlein arbeitet zuletzt sich an den Schalter durch: »Mine ollen leegen Krüzweihdag (Kreuzschmerzen) heww ick wedder, un ick will 'n Plaster daup, un man ja gaud upsmär'n, dat't ok würklich wat helpt.«

Krischan Kliefoth von Lingwedel, der schmunzelt, und er nickt bestätigend: »Jawoll, scharp mudd dat Plaster sin! Ick kenn den ollen Bengel, is'n bannig taagt Ledder (zähes Leder). Ick mein' man, Herr Fraatz, smär'n Se öm man 'n Ossenkrüzplaster!« 147

 


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