Karl Söhle
Schummerstunde
Karl Söhle

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Der schwarze Kolk

Tief im Kessel, wo das Moor ansetzt, schaut immer gleichen, wimperlosen Blickes der schwarze Kolk in den Himmel, in die Wolken. Ein mächtiger Irrblock dicht daneben, übermoost und verwittert, eine Gruppe Wacholder, vom Schnuckenzahn zernagt und wunderlich verwachsen, verblüffend menschenähnlich von weitem gesehen – wie beieinander hockende Menschen mit Gebärden stummer Verzweiflung. Da habe »ganz vor diesen« ein Kloster gestanden, erzählen sie im Dorfe, »de böse Düwel« aber habe mit diesem Stein zerschmettert Kloster und Kapelle, als die Mönche in Sünden verkamen. Mit großen Steinen anrüchige und ihm verfallene Klöster zusammenzuschmeißen, daran hat Satanas in jenen ersten christlichen Zeiten ja lange seinen besonderen Rachetrost gehabt.

An das müde Auge eines alten Gaules erinnert der schwarze Kolk in seiner länglichrunden Form und bräunlich-blauschwarzen Farbe. Erdöl entquillt hier und da dem Ufer und rinnt auf dem Wasser zusammen, krausigte Fetzen bildend, die in allen Regenbogenfarben schillern.

Unbeweglich steht das windgeschützte Wasser. Einer unergründlichen Tiefe aber entsteigen von Zeit zu Zeit 30 winzige, eilige Bläschen. Sie zerplatzen oben, und indem die Wellenringlein verebben, wie verhaltenes Seufzen tönt's da herauf. So oft ein Bläschen kommt, stirbt irgendwo in der Heide ein Mensch.

Nacht ist's. Johannisnacht. Horch, Mitternacht – dumpf hallen die Schläge herüber. Im Dorfe aber ist noch Leben; Johannisnacht feiert das junge Volk im Kruge.

Wind fegt plötzlich daher über die Heide; er peitscht die Hängebirken, Fuhren, Wacholder, und erschrocken starrt durch die Wolkenfetzen der Mond. In den Wacholdern am Kolk regt sich's. Das Klageweib hält sich drinnen verborgen, und nun aber tritt es heraus. Mit dem Totenvogel auf der Schulter, grau und plustrig, und er hat scharfe Augen, scharfe Krallen. Tief vornübergebeugt, mit schlaff hängenden Armen lauscht lange das Klageweib und späht aus in die Nacht; scharf vor spitzen sich Kinn und Nase. In die Hucke setzt es sich jetzt, und die Hände fahren in die zerfetzte Nachtjacke. Kleine, blanke Kiesel grappschen sie daraus hervor: die sind's, die machen die Bläschen im Kolk, da hineingeworfen von unsichtbarer Hand. Das Klageweib betrachtet erst eine Weile nachdenklich die Kiesel. Emsig beginnen sodann die Finger zu zählen, zu ordnen, und ertönt dazu ein klagendes Lied, abgebrochen, schauerlich 31 – es klingt wie das ferne, kurze Aufheulen einer hungrigen Füchsin.

»Süh, all (schon) tau Platz, Vaddersche (Gevatterin), nu, segg, du tellst woll aff, dinen nächsten Satz, wat? 'n Abend! Rück bitau!« Der Heidezähler! Aus einem HessenwegeDie sogenannten Hessenwege rühren von Lastkarren her, die von Mittel- und Süddeutschland heraufkamen. Alles, was jenseit des Harzes zu Hause ist, nennt der Heidjer kurzweg Hessen. Den voreinandergeschirrten Pferden dieser ungefügen Karren waren Glocken umgehängt, und die hohen Kummete zierte allerhand Schellen- und Schleifenwerk. Hunde umkläfften die schnaubenden Pferde. Die Fuhrleute trugen blaue Kittel, mächtige Peitschen schwangen ihre gebräunten Fäuste, und im Fluchen leisteten sie Großes. Gerastet wurde in den alten Heidkrügen, an der »Krümme«, an der »Günne«, am »Großen Kain«, »Breiten Hees« u. a. m. ist er plötzlich herangekrochen, ein Männlein in altertümlicher, verschlissener Ratsherrntracht, krausem Kragen und hispanischem Mantel und mit einem Dreispitz auf der modrigen Allongeperücke. Alles ist mürbe wie Zunder. Eine ungeheure Brille trägt der Heidezähler, und wie ein Schild bedeckt seinen eingehutzelten Leib eine arg vernutzte Schiefertafel mit Schwamm und Rechenstift daran. Ein Hochmögender einst, doch hat er gewuchert mit fremdem Gut, Waisenkinder hat er schmählich gebracht um das Ihrige. Der im Leben ein Geizhals gewesen und die blanken Dukaten zählte, zur Strafe dafür muß nunmehr er umgehen und 32 die Heidekräuter zählen, Nacht für Nacht, die ganze große, weitgedehnte Heide durch zwischen der Aller und der Marsch, so lange, bis eine silberne Kugel einst ihn wird treffen von hinten, durchs Herz. Nur in den »zwölften«, imgleichen Theißnacht (Walpurgis) und an den »vier Zeiten« ist ihm vergönnt, dem Ärmsten, mal zu verschnaufen. So heute, Johannisnacht.

Das Klageweib verzieht den Mund und grinst.

»Wat haste denn vör 'ne Höge, Ollsche, büst hüte ja bannig upgekratzt?« Und der Heidezähler windet sich plötzlich, seine gichtgekrümmten Hände fahren herum, die Lippen schippern und schmatzen, er will weiter sprechen, ein schwerer Husten aber würgt ihn.

»Hi, den Leeghold, den Eickhoffbur, heww't 'n stäken,« kichert das Klageweib schadenfroh in sich hinein, ohne den Heidezähler anzusehen. »Den engel'schen Sweet (englischer Schweiß: die Pest) heww ick 'n bannt up'n Hoff, un dod sünd nu all sine Kinner, dod as de Fleigen! Dat nimm vör't ›Pracherwiew‹ (Pragerweib: Bettlerin), Bur, denk an dat Pracherwiew gistern!«

Schweigen. Das Klageweib hat platt sich hingeworfen und starrt ins Leere. Der Heidezähler hockt trübselig daneben.

Da, im Moore rechter Hand, neben einer Dimme Torf, steht plötzlich der Helljäger, aufragend wie ein 33 Pfahl, und die lange Flinte hält er im Arme. Er nähert sich mit geräuschlosen, spinnigen Schritten und mit ihm sein Köter, seine Meute: »n Abend ok! Na segg, wo gaht't Geschäft, Heidteller, wo wiet büste, segg, stimmt die Reknung? Lat man 'n Maud nich sinken, olle Junge!«

Der Heidezähler schweigt erst. Plötzlich aber krächzt er den Sprecher an, erbärmlich hustend zwischendurch und sich windend wie ein sterbendes Huhn: »Sast dick wat schamen, Helljäger, ha, du wudd mick hier noch brüen, du wudd mick noch vörn 'n Lütjen bruken (necken)? Knapp noch rögen kann ick mick mehr, van't Bücken, in Hänn' un Fäute, in alle Knaken heww ick de Jicht, och so veel Weihdag! Kiek leiwerst tau, Helljäger, du, dat du endlich – endlich –! Aewerst nee, du wudd man nich! Wo't tau maken is? All oft naug heww ick dick dat verkloart. Du makst man blot mal 'n Kattensprung int Bückeburg'sche rinn, du, un da nimmste dick 'n x-beliebigen ollen dicken Burenvadder up 'n Kieker, un rann un grippst tau un kriegst einen van sine sülwern Knöp up de Weste tau faten, de is ja liek as 'ne Kugel un ganz sicher tau bruken, du un den ladst du in, leggst an van achter up mick, un: bautz – erlöst! Aewerst nee, du wudd man blot nich, du Hund, du Kanallje du!«

»Hm, wenn't wieter nicks nich is, ick heww hüte grade 34 eine in, in meine Flinte, Heidteller, 'ne ganz richt'ge sülwerne Kugel!« Und der Helljäger nimmt die Schöße seines verschlissenen roten Tressenrockes zusammen und setzt sich auf eine große Heidebulte, von weichem Torfmoos durchsprenkelt und erhaben wie ein Polster, und er schiebt weit die steifen Beine vor, lehnt sich zurück und pustet sich in die Fäuste. In guter Laune ist der Helljäger. Wie immer Johannisnacht. »Wo man de Mondschaper noch rumstrunzen mag?« Längelang dehnt er sich aus und alle seine dürren Gelenke knacken, als brächen sie ab. »De Slöks, ganz schändlich hat hei mick rinnleggt, Theißnacht, bi unse letzte Partie!«

»Kiek, hihi, da baben sidd hei all un mischt de Korten! Nee ok de Mannslüt, glieks hewwt sei de ollen Korten in de Hand,« schrillt ihm zur Antwort höhnisch das Klageweib, zugleich sich aufrichtend, und ihr einziger dünner Zopf, der löst sich ab und weht im Winde.

Der Mondschaper – wirklich, da hockt er, neben einem Haufen Feuersteinen, hell vom Mond gerade beschienen. Den eschenen Schaperstab mit dem Wurfeisen hat er wie einen Spieß neben sich in der Erde stecken. Und hinter ihm im Heidekraut bewegt sich's seltsam hin und her, ein Gewimmel wie Ameisen: kleine, bläulich-weiße, fast durchsichtige Vierfüßler, das sind die Mondschafe, und die milchweißen Rehe mit kuhlangen Schwänzen, 35 die dreibeinigen Hasen kommen von allen Seiten herangesprungen unter die Mondschafe.

Eifrig mischt der Mondschaper die Karten. – Nun wirft er sie hin; er muschelt die Hände um den Mund und ruft:

»Ho, holla, 'ran hier, fix tau Platz! Kumm, Helljäger, fix, nimm aff! Heidteller, du hast de Vörhand, fix, du speelst ut! Fix, fix, Kinners, fix!«

Schleunig erheben sich die Gerufenen, Beine gemacht – hin. Die Partie nimmt ihren Anfang. Lebhafter das Geben, Abnehmen, Ansagen, Auftrumpfen, Gewinneinstreichen. Immer wilder wird's, wüster, und das Zanken geht an.

Der Wind bläst aus vollen Backen, und am Himmel die Wolken, sie sausen nur so dahin; grell und verzweifelt starrt herunter der Mond. Und grausig belebt hat sich's mittlerweile weitherum. Alle »bösen Undinger« der Heide sind krall auf den Beinen. Der Pastor ohne Kopf. Die Nonne im schlohweißen Totenhemd, und sie wiegelt Eia Popeia ihr Kindlein in den Armen. Der Zaunhase macht seine Sprünge. Der Nachtrabe krächzt und flattert herum. Und überall im tiefen Bleisand, da scharrt es, da dappelt's, da krappelt's: die hier vor grauen Jahren im Kampf erschlagenen und verscharrten Wenden, als der Billung dem großen Kaiser Otto die Heide 36 bewahrte – alles ist heraus, alles sucht emsig sich seine Knochen zusammen, und dabei gibt's Verwechslungen, setzt's Zank und Hader. –

Der Pastor ohne Kopf hat nun den Granitblock am Kolk bestiegen, und er predigt von ihm wie von der Kanzel herunter, aus dem abgeschnittenen Kopfe heraus, den er weit vor sich hinhält mit beiden Händen. Dazu surren in den Fuhren schauerlich die Nachtmaren. Im Moore läuten unablässig tief, hell, in allen Übergängen die Unken:

Lullullullullullull
In Mudd un Mull
Lollollollollolloll
Ick Hochtied holl.
Lillillillillillill
Un hög mick still,
Mak wat ick will.

Dazu ununterbrochen die Moorfrösche mit großen Soli und Zusammengesängen und Chören.

Das Klageweib ist inzwischen langsam wieder ans Ufer zurückgeschritten. Hier steht es, und auf die Nachtmaren lauscht das Klageweib, auf die Unken, auf den Poggenkantor und seine besten Solisten, und auch auf die Predigt. –

Plötzlich gellt ein fürchterlicher Lärm. Gemogelt hat 37 der Mondschaper; der Helljäger aber, der hat ihn dabei abgefaßt. Handgemein werden sie, einer will dem andern an die Gurgel. Zur langen Flinte greift der Helljäger, und er schlägt auf den Mondschaper an. Der Heidezähler stürzt mit Gekreisch sich auf den Mondschaper und er klammert sich an ihn fest: Erlösung endlich, die silberne Kugel!

Da schallt vom Eickhoff der erste Hahnenschrei. Und verschwunden ist alles, wie ausgewischt. Dunst nur noch, Nebelschwaden – qualmige, graue Fetzen lösen sich und schleichen, tasten herum in den Furchen, in den Gräben. –

Der Wind hat sich gelegt. Klar und ruhig ist wieder der Himmel. Der Mond – er verblaßt, verschwindet. Und leise rötet sich's im Osten. Auf die Wipfel der Fuhren spielt ein erster, matter Strahl. Ein neuer Strahl. Schnell, freudig noch einer – immer mehr, und Tauperlen blitzen auf. Eine Lerche steigt langsam empor, mit zagen, zitternden Flügeln, halb noch im Schlafe; sie trillert eine kurze Probestrophe. Der Morgenhimmel spiegelt sich im Kolk. Und eine einsame, alte Wasserspinne ruckt herum inmitten des ölglatten Spiegels, planlos, in tiefen Gedanken. 38

 


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