Karl Söhle
Schummerstunde
Karl Söhle

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Von allerhand Spuk und unrechten Dingen

Halb wahr,
Halb Mar.

Der Heideschaper.

Die Hirten von Bethlehem, jawohl und:

»Laßt uns jederzeit
Arme Hirtenleut'
Halten wert und hoch in Ehren.«

So singt das fromme Lied – die Heidjer aber denken anders darüber:

»Schäfer und Schinder
Geschwisterkinder.«

Wenn auch über die hundert Jahre ehrlich gesprochen – durch hochwohllöbliche Obrigkeit rehabilitiert und die Makula von ihnen genommen: der Heidjer weiß, was er von Schäfern, Müllern, Leinewebern, Nachtwächtern und Fillern (Schindern), Kuhlengräbern (Totengräbern), Musikanten und Kamöjemachern (Schauspielern) zu halten hat.

So gut wie vor alters wird in der Mühle auch heute noch »gemoltert«, und Freund Adebar hat seine triftigen Gründe, niemals zu nisten auf ihrem Dache; er weiß, auch ihn würde der Müller beschummeln und um das Seine bringen. Und aus dem Schafstalle verschwindet auch heute noch manches neugeborene Lämmlein, vom Webstuhl manches Zöpfchen Garn; wer kann denn 20 immer und überall dabei sein und aufpassen. Um Gottes willen, aber nur denken darf man, wie man denkt! Deshalb den Mund halten und sich möglichst gut mit ihnen stellen, das ist das Klügste. Vornehmlich mit dem Schaper. Was ein richtiger Heideschaper, der ist erfahren in der geheimen schwarzen und weißen Magie. Der kann hexen und prophezeien. Und auch kurieren kann er; wo der Schaper im Dorfe keinen Rat mehr weiß, pah, was will da so'n Medizindoktor? Und die Schaper, aufs Wettermachen verstehen sie sich mit besonderer Kunst – man denke an ihren berühmten Thomas –, leider aber auch aufs Raupen- und Mäusemachen und ähnliche schädliche und schändliche Dinge. Darum, liebes Kind, wahr' dich, sei immer höflich und grüße ihn respektvoll, so du in der Heide einen Schaper siehst.

In der öden Brutlagheide ist's passiert, nördlich der Aller. Steht hier an einem silberklaren Septembernachmittag so ein alter Schaper und hütet seine Schnucken. Weit ringsum ausgeschwärmt sind sie, o heilige Genügsamkeit und es schmeckt ihnen! Prachtheide freilich auch in der Brutlag, wahre Leckerbissen wachsen da überall zwischen den Bulten, wo sich's zum Hesteunmoor allmählich senkt, Windhalm, Schwingel und Wollgras und saftige Rüschen (Binsen). Die 21 schlanken Läufe und krummhörnigen Köpfe, glänzend schwarz wie Ebenholz, und der Wolle Silbergrau, die lustigen Ringellöckchen. In der Herde ein ewig Geschnucker. Und die jährigen LämmerSchnuckenklämmer sind im ersten Jahre alle kohlschwarz, wie kleine Teufel. Wenn sie's zu bunt treiben, kommt in würdevoller und zugleich drohender Haltung der alte Herdbock, und das dämpft im Handumdrehen den Übermut. treiben ihre Scherze. Besonders die Böcklein, die fangen an, sich zu fühlen, und es juckt sie in den sprossenden Hörnern. Na, na, der alte Herdbock wird gleich kommen! Schnucken der Heide, gar nicht zu vergleichen sind sie doch mit den gewöhnlichen dummen Bähschafen draußen!

Und dazu der Schaper! Ein däftiger Kerl, wie in eins aus Kienholz grob zusammengezimmert. Die ebenmäßige Nase, die haarigen Ohren mit blinkernden Ringen, so alle Krankheiten an sich ziehen, und die harten Zotteln des grünlich-grauen Kraulebartes unterm Kinn, der sehnige Hals und darunter leibabwärts das altmodisch wunderliche Ungetüm von Überrock aus hausgewebter Schnuckenwolle, abgetragen und verwittert – schwarz-grünlich-graubraun, wie die Winterheide, wenn's taut. Von einem Plaggenhügel herunter, den Eichheister im Arm, in den Händen das Knüttzeug (Strickstrumpf), so steht der Alte da und regiert; rammfest, in 22 Holtenstäweln (Stiefel mit Holzsohlen), regungslos, wuchtig, gleich einem erzenen Standbild seiner selbst, ragt er auf in die reine Luft. Schimmel, der Reichskanzler, und Wasser, der Staatssekretär – der junge und noch etwas windige Wasser, die hocken ihm zu Füßen.

Queröd Heide, Well' an Welle ein braunes Meer, umgrenzt von sanft geschwungenen, wonnig umblauten Linien. Silberiger Sand blutet hervor unter dem knorksigen Kraut, wo Risse im Boden, und Feuersteine liegen darin herum. Voll atmet die Heide aus ihren köstlichen Duft. Wind frischt die Brust. Am Himmel segeln kleine, lichte Wolken eilig hintereinander dahin, und die Sonne blinzelt ihnen nach und hat ihren stillen Spaß daran. Die Wolkenschatten geistern über die Heide, über den Brahm, die weißen Birkenstämme, über das dunkle Wacholder- und Fuhrengrün. Und tiefste, wundertiefe Stille rings, die Schatten – es ist schier, als hörte man sie auch zugleich. Immerdar im Traume doch die Heide, ob Sonne, ob Mond am Himmel. Wachen Auges aber und Ohres träumt sie, wenn im Sonnenglast die Libellen und Schmetterlinge und all die tausend sommerfrohen Käfer, Grillchen, Immen sie umschwärmen. Blüht sie aber, die Heide, blüht sie, o sieh, da schimmert ein rosiges, ein bräutlich-keusches Lächeln in ihrem verträumten, ernsten Antlitz. Ein 23 Septembertag jedoch heute und die Blüte ist gerade vorbei, auf ein langes Jahr vorbei.

Doch was kümmert's den Schaper; der steht da und knüttet und denkt an nichts. Schimmel kratzt sich und denkt an nichts, und Wasser schnappt nach Fliegen. Und die Schnucken trappeln herum und scharren und fressen und denken gleichfalls an nichts.

Horch: Wagengerassel plötzlich auf der gänzlich verödeten alten braunschweigisch-lüneburgischen Heerstraße, die hier ihren langen weißen Strich quer durch die Heidewelt zieht. Sollte man's für möglich halten, ein Gespann kommt! Schimmel und Wasser, der Schaper, die ganze Herde hebt in eins den Kopf wie am Schnürchen gezogen. Alles äugt hin, doch gleichgültigen, halben Blickes, wie man wohl unter währender Predigt nach einem Niesenden oder Hustenden sich wendet. Nur der stattliche alte Herdbock, der reckt den Kopf mit den kühn gewundenen Hörnern, und er blickt schärfer hin, unangenehm berührt offenbar ob der Störung; auch blökt er etliche Male, kurz abgerissen, als keimten ihm Gedanken.

Im Wagen ist Streit entbrannt. Es ist der bekannte Doktorwagen, der dann und wann die Heide durchkreuzt, und der Herr Doktor kampelt sich wieder einmal mit seinem Kutscher Friedrich. Richtewege 24 auszuforschen und zu fahren, kühn, mit Todesverachtung, das nämlich ist des Herrn Doktors Passion. Friedrich denkt aber leider immer mit Sancho Pansa entgegengesetzt.

Nach einem abgelegenen Dorf in der Brutlag soll heute die Fahrt gehen. Eile ist vonnöten. Der große Vollmaier Christopf, Hinrich Deicke-Jabelmann, der hat zum Doktor geschickt, seinen Hütejungen, einen flachshaarigen, resoluten Bengel: in die Forke wäre der Bauer gefallen beim Ausmisten, schon vor drei Tagen, drei Löcher habe er im Pansen (Bauch) und grausam viel Weihdag (Schmerzen).

»Friedrich,« ruft der Herr Doktor, er beißt sich die Unterlippe, lugt schiefen Blickes durch seine großen, blanken Brillengläser, und er hippelt wie ein Hamster: »hörste endlich, Friedrich, hier wo 'rum könnten wir abbiegen!«

Friedrich schlenkert mit der Leite (Zügel) und tut, als wäre er taub.

»Zum Henker, willste oder willste nicht?«

»Wie bliwt so bi. Schassee. Hals un Bein brekt wie ganz sicher noch mal.«

»Maulhalten, Esel, hab' ich hier zu befehlen oder du? Halt, da seh' ich 'nen Schäfer, halt, brr, der weiß hier sicher Bescheid.«

»Christi Barmherzigkeit, nee, Herr Doktor, man blot 25 nich mit'n Schaper anbinnen! Hei behext uns den Weg, och un den Patschenten ok taugliek un de Bur bliwwt dod, ganz sicher; trau einer 'n Schaper!«

»Pah, Hühnerglauben! Brrr! He, Schaper!«

Die Pferde stehen.

Der Schaper sieht den Doktorwagen; er läßt langsam das Knüttzeug sinken und hebt wie ein Geier beobachtend den Kopf: »Wat, bi uns hier buten wer patschent (krank), un schickt nah'n Dokter, so'n Dussel, so'n Döskopp –?«

Erst als er den Schaper, blau vor Ärger, zum dritten Male angerufen und befragt hat, wird dem Herrn Doktor in Gnaden Antwort: »Man bautz rinn hier in de Mahtheid« – Ausspucken, Nachsinnen – »un man ümmer hotteweg nah Klock sößNach der Richtung, wo die Sonne nachmittags um sechs ihren Stand hat. Nach dem Stand der Sonne bezeichnen die Heidebauern gern die Richtung. hentaustüren« – abermaliges mehrfaches Ausspucken, Nachsinnen – »un dunn bi de olle Voßkuhle (Fuchsbau) van de drei Heidwege hier, da glieks links aff den smallen (schmalen).«

Friedrichen läuft die Galle über: »Olle Hexenmeister!«

Der Alte, der's gehört hat, für sich: »Täuw man (warte), davör sast du mick betahlen!« Und zum 26 Schimmel gewandt, nach einer Weile, hämisch: »Ole DietwegeDietwege: Die uralten Spuren der Frachtwagen, labyrinthisch durcheinander laufend, da man auf dem Heidekraute besser fuhr wie im Sande und frei nach der Himmelsgegend ehemals getrost seinen Kurs nahm. sünd't un eine Traje (Wagenspur) bi de anner, na paß up, Schimmel, paß up!«

Friedrich haut wütend in die Pferde, und hinein geht's in die Heide. Wehe, aber wehe, in die Dietwege ist man geraten, natürlich, und nach einer zweistündigen, wahren Marterfahrt kommt der Wagen genau da, wo er verschwunden ist, wieder zum Vorschein, doch schneckenlangsam, höchst erbärmlich: Nabe ab, Reifen ab, und einen doppelten Achsenbruch hat's gesetzt! Die Pferde sind mit Schaum bedeckt über und über und können kaum mehr jappen, und Herr und Knecht helfen schieben, schweißtriefend, laut ächzend. Und beide in Wut, schimpfen den Schaper nun herunter. Sie finden ihn wieder genau auf dem gleichen Fleck, und nur die Schnucken in ihrer Unrast haben sich etwas weiter in die Wacholder hinein zerstreut.

Der Schaper aber läßt sie sich austoben, Kutscher und Doktor, ruhig weiterstrickend, ohne eine Miene zu verziehen, als hätte er's mit unartigen Kindern zu tun. Doch endlich hebt er die Nase und blickt auf, und 27 spöttisch verziehen sich die harten Lippen. Auf den Punkt bezeichnet er ihnen unheimlichermaßen die Stelle, wo sie abgekommen sind, um sodann wieder nach rückwärts einen richtigen Zirkel zu umschreiben. Der Alte kennt seine Heide und ihre Nucken.

Starr vor Staunen und Grausen darob Herr und Knecht, und sie sehen sich an. Und ganz blaß ist er geworden, der sonst so kluge Herr Doktor, ganz kleinlaut, ganz verstört. Kein Wort ist mehr gesprochen worden. Nur fort schleunig und aus dem Bannkreise heraus, sonst passiert auch mit den Pferden noch was!

Friedrich bringt darauf den zertrümmerten Wagen zurück nach Hause, und der Herr Doktor – zu Fuß will er eiligst weiter und solide auf der Landstraße, seiner Pflicht nach. Sein Gewissen peinigt ihn: der unglückliche Kranke! Kaum hat er's gedacht – plötzlich wird er auch gemahnt zum Aufbruch, von hinten, kräftig, durch einen wohlgezielten Puff. Bis fast auf die Landstraße fliegt er, durch den Brahm und gegen eine Birke schließlich, ihm vergeht Hören und Sehen. Groß ist sein Schreck. Beide Hände preßt er feste hinten an und er macht eine recht erbärmliche Figur. Was war's gewesen, der alte Herdbock hatte nur den richtigen Zeitpunkt wahrgenommen und seine Meinung zur Sache geäußert. 28 Und nun schreitet er befriedigt, in der stolzen Haltung des Siegers, langsam wieder zurück zu den Seinen.

Vorwärts, Herrgott, hin endlich, der erbarmenswerte Patient!

Doch nur ein paar hastige, lange Schritte – da taucht der Hütejunge vor ihm auf, schnaufend, ganz außer Atem, und er winkt dem Doktor zu und ruft, daß es weithin über die Heide schallt: »Man aewer Ors (rückwärts) wedder trügg, is nu nich mehr nödig, de Bur is all dod!«

Und hat der Schaper darauf sich gebückt und gewaltigen Schwunges eine große Plagge geschleudert unter die Schnucken, mitten hinein in den dicksten Haufen, und voll grimmigen Hohns aufgelacht hat er:

»Hexenmeister – ha, jawoll!« 29

 


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