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Zweites Kapitel.

Die letzte Staubwolke, welche die Wagenräder aufgetrieben hatten, war zerstreut, als das Mittagessen, welches einen Theil der menschlichen Gedanken sogar unter den wunderbarsten und kummervollsten Vorfällen in Anspruch nimmt, auch diejenigen der Frau Gray beschäftigte.

»Wahrlich, Doctor, Ihr starret da aus dem Fenster, bis vielleicht ein anderer Patient Euch rufen läßt, und dann müßt Ihr fort ohne Euer Mittagessen; auch hoffe ich, Herr Lawford wird heute bei uns vorlieb nehmen, denn er pflegt ja zur selben Stunde zu essen; auch haben wir wirklich einen etwas besseren Tisch als gewöhnlich, der armen Dame wegen – Lammfleisch mit Spinat und Kalbsbraten.«

Der Wundarzt fuhr auf, als erwache er aus einem Traume, und schloß sich dem gastfreundlichen Gesuch seiner Frau an.

Wir denken uns jetzt das Mahl beendigt, auf dem Tische steht eine Flasche vom alten und trefflichen Antigua-Branntwein nebst einer kleinen Punschbowle, die für den Doctor und seinen Gast zweckmäßig gefüllt ist. Natürlich wandte sich das Gespräch auf den sonderbaren Auftritt, dessen Zeuge sie gewesen waren, und der Stadtschreiber nahm ein beträchtliches Verdienst wegen seiner Geistesgegenwart in Anspruch.

»Ich glaube, Doctor,« sagte er, »Ihr würdet Euch eine bittere Brühe gebraut haben, wäre ich nicht hinzugekommen.«

»Wahrhaftig, das ist wohl möglich,« erwiderte Gray, »denn um Euch die Wahrheit zu sagen, stieg der alte Cameron'sche Geist in mir wieder auf, als ich jenen Kerl mit seinen Pistolen unter den Weibern in meinem Hause prahlen sah; eine Kleinigkeit hätte mich dahin bringen können, daß ich nach dem Feuerschürer gegriffen hätte.«

»Halt, halt, das hättet Ihr nicht thun dürfen, nein, nein,« sagte der Mann des Gesetzes; »dieß war ein Fall, wo ein wenig Klugheit mehr werth war, als alle Pistolen und Feuerschürer der Welt.«

»Dasselbe dachte ich, als ich Euch rufen ließ,« bemerkte der Doctor.

»Einen weiseren Mann hätte er für einen schwierigen Fall nicht holen lassen können,« fügte Frau Gray hinzu, indem sie sich in einige Entfernung vom Tisch mit ihrer Arbeit setzte.

»Ich danke Euch, auf Eure Gesundheit, gute Nachbarin,« antwortete der Stadtschreiber; »wollt Ihr mir nicht erlauben, Euch noch ein Glas Punsch einzuschenken, Frau Gray?« Als dieß abgelehnt wurde, fuhr er fort: »Ich bemerkte, daß der Staatsboote und sein Verhaftsbefehl jeden Widerstand niederschlagen mußte. Ihr seht jedoch, wie ruhig er sich benahm, als ich das Gesetz erklärt hatte; ich glaube nicht, daß die Dame von ihm etwas zu besorgen hat. Der Vater aber ist ein harter Kerl; verlaßt Euch darauf, er hat das junge Füllen mit der Kinnkette aufgezogen, und das ist die Ursache, daß das arme Dinge von der Bahn abwich. Ich sollte mich nicht wundern, wenn er sie außer Landes brächte, und in ein Kloster steckte.«

»Schwerlich,« erwiderte Gray, »wenn meine Vermuthung richtig ist, daß sowohl Vater als Tochter jüdischer Religion sind.«

»Eine Jüdin,« fiel Mistreß Gray ein; »habe ich alle die Last wegen einer Jüdin gehabt? – Ja, ja, ich bemerkte, daß sie Widerwillen empfand, als die Krankenwärterin Simson ihr von Schinken mit Eiern sprach; ich glaubte jedoch, alle Juden hätten lange Bärte, und jenes Mannes Gesicht ist ja gerade wie eines unserer Leute. Ich habe sogar einen längeren Bart bei dem Doctor selbst gesehen, wenn er keine Zeit sich zu rasiren hatte.«

»Das hätte bei Herrn Monçada der Fall sein können,« meinte Lawford, »denn er scheint eine harte Reise zurückgelegt zu haben. Die Juden sind aber oft sehr achtungswerthe Leute, Frau Gray; sie haben allerdings keinen Grundbesitz, weil das Gesetz denselben ihnen untersagt, dagegen aber einen großen Einfluß auf den Geldmarkt – viele Staatspapiere, Frau Gray, und ich glaube, dies arme junge Weib ist besser daran bei ihrem eigenen Vater, obgleich er ein Jude und noch dazu ein harter Kerl ist, als es bei jenem Schlingel der Fall gewesen sein würde, der sie verführt hat, und der ja nach Eurem eigenen Bericht, Doctor Gray, sowohl Papist als Rebell ist. Die Juden haben Anhänglichkeit an die Regierung; sie hassen den Papst, den Teufel und den Prätendenten ebenso sehr, als irgend ein ehrlicher Kerl unter uns.«

»Ich kann keinen der beiden Herren bewundern,« sagte Gideon; »ich bin jedoch verpflichtet zu erklären, daß ich Herrn Monçada, ungeachtet seines heftigen Zornes, allem Anschein nach nicht ohne Vernunft sah. Dieser andere Mann aber, Tresham oder wie er heißt, war hochmüthig gegen mich, und wie ich glaube, etwas sorglos gegen die arme junge Frau, gerade unter solchen Umständen, wo sie am meisten auf seine Güte und ich auf einige Dankbarkeit Anspruch machen konnte; ich bin deßhalb Eurer Meinung, Stadtschreiber Lawford, daß der Christ der schlimmste Kerl von Beiden ist.«

»Und Ihr denkt daran, die Sorgfalt für dies Kind selbst zu übernehmen, Doctor? d. h. die Rolle des guten Samariters zu spielen?«

»Um wohlfeilen Preis, Stadtschreiber; das Kind, wenn es am Leben bleibt, hat genug für seine Erziehung und für sein erstes Auftreten im Leben; es kann bei mir ein ehrenwerthes und nützliches Geschäft erlernen. Der Unterricht wird mir eher ein Vergnügen als Unruhe sein, und ich will ohnedem einige Bemerkungen über Kinderkrankheiten machen, die der Knabe mit Gottes Segen unter meiner Wartung durchmachen muß, da uns der Himmel keine Kinder geschenkt hat.« –

»Halt, halt!« fiel der Stadtschreiber ein; letztere Bemerkung ist zu voreilig, – Ihr seid noch nicht so lang verheirathet gewesen. Frau Gray, laßt Euch nicht durch meine Thorheit verscheuchen, wir wollen bald mit Euch eine Tasse Thee trinken, denn der Doctor und ich, wir sind keine Trunkenbolde.«

Vier Jahre nach diesem Gespräche trat das Ereigniß ein, dessen Möglichkeit der Stadtschreiber angedeutet hatte; Frau Gray beschenkte ihren Gemahl mit einer kleinen Tochter. Allein Glück und Unglück sind in dieser Welt unter dem Monde sonderbar gemischt. Die Erfüllung seines ängstlichen Wunsches nach Nachkommenschaft war mit dem Verlust seiner einfachen und gutmüthigen Gattin begleitet – einer der schwersten Schläge, womit das Schicksal den armen Gideon heimsuchen konnte; sein Haus wurde durch dasselbe Ereigniß verödet, welches einige Monate zuvor seiner demüthigen Wohnung neue Freude verheißen hatte.

Gray fühlte den Schlag, wie Menschen von Verstand und Festigkeit ein entscheidendes Unglück aufnehmen, von dessen Wirkungen sie sich niemals wieder vollkommen aufzurichten hoffen. Er vollbrachte die Pflichten seines Gewerbes mit derselben Pünktlichkeit wie früher, war gut gelaunt und sogar seinem Aeußern nach heiter in seinem Verkehr mit der Gesellschaft; allein der Sonnenschein seines Daseins war verschwunden. Jeden Morgen vermißte er die liebevollen Aufträge, welche ihm empfahlen, für seine eigene Gesundheit Sorge zu tragen, während er sich bemühte, diesen Segen seinen Kranken wieder zu ertheilen. Wenn er jeden Abend von seiner ermüdenden Runde heimkehrte, so geschah es ohne Bewußtsein der gütigen und liebevollen Aufnahme seiner Frau, die ihm alle kleinen Ereignisse des Tages eifrig erzählte, und mit Theilnahme anhörte. Sein Pfeifen, das er hell und stark ertönen ließ, wenn er den Kirchthurm von Middlemas erblickte, schwieg jetzt für immer; es senkte sich des Reiters Haupt, während das müde Pferd, dem die Anregung durch die Hand und die Stimme seines Herrn fehlte, einher zu schlendern schien, als empfinde es einen Theil seiner Niedergeschlagenheit; mitunter war er so niedergeschlagen, daß er nicht einmal die Gegenwart seiner kleinen Menie zu ertragen vermochte, in deren kindlichem Gesicht er die Züge ihrer Mutter wieder auffinden konnte, weil sie die unschuldige und von ihr nicht erkannte Ursache ihres Verlustes war. »Wäre es nicht um dieses armen Kindes willen« – pflegte er zu denken, sogleich aber erkannte er, daß der Gedanke sündhaft war, riß das kleine Mädchen an seine Brust und überhäufte es mit seinen Liebkosungen; alsdann sprach er hastig seinen Wunsch aus, es aus dem Zimmer zu bringen.

Die Muhamedaner haben die phantastische Vorstellung, daß der wahre Gläubige auf seinem Wege in's Paradies baarfüßig über eine Brücke von glühendem Eisen gehen muß. Alsdann aber sammeln sich alle Papierstücke, die er in seinem Leben verwahrt hat, damit nicht etwas Heiliges, darauf Geschriebenes entweiht werde, zwischen seinen Füßen und dem brennenden Metall, um ihn vor Beschädigung zu schützen. In derselben Weise mildern sogar in dieser Welt die Wirkungen gütiger und wohlwollender Handlungen bisweilen die Schmerzen nachfolgender Betrübniß. So fand der arme Gideon nach seinem schweren Verluste den größten Trost in der munteren Zärtlichkeit von Richard Middlemas, dem Kinde, welches in so sonderbarer Weise seiner Obhut anheimgefallen war. Sogar in frühester Jugend war er außerordentlich schön. Wenn er schwieg oder übel gelaunt war, zeigten seine dunklen Augen und der starke Ausdruck seiner Gesichtszüge einige Erinnerungen an den finstern Charakter, welchen das Antlitz seines vermuthlichen Vaters offenbarte; wenn er aber munter und glücklich war, eine Stimmung, die sich bei ihm weit häufiger vorfand, so wurde diese Wolke mit dem fröhlichsten und heitersten Ausdruck vertauscht, welcher jemals auf dem lachenden und gedankenlosen Antlitz eines Kindes ruhte. Er schien einen über seine Jahre gehenden Takt zu besitzen, um die Eigenthümlichkeiten des menschlichen Charakters zu entdecken und sich darnach zu richten. Seine Kindsmagd, der hauptsächlichste Gegenstand seiner Aufmerksamkeiten, war seine frühere Amme Jamieson, oder die Amme, wie man sie gewöhnlich der Kürze halber und par excellence nannte. Dieß war die Person, die ihn von Kindheit an auferzogen hatte. Sie hatte ihr eigenes Kind und bald darauf ihren Mann verloren, und da sie so ein einsam stehendes Weib war, blieb sie, wie es in Schottland Sitte ist, ein Glied in der Familie des Doctors Gray. Nach dem Tode von dessen Frau erlangte sie die hauptsächlichste Aufsicht über den ganzen Haushalt, und da sie eine ehrliche und thätige Wirthschafterin war, so wurde sie eine Person von großer Wichtigkeit in der Familie.

Sie wahr kühn von Charakter, heftig in ihren Gefühlen, und zeigte, wie es oft bei Weibern ihrer Art der Fall ist, ebenso viel Anhänglichkeit an Richard Middlemas, den sie einst an ihrem Busen genährt hatte, als sei derselbe ihr eigener Sohn. Diese Zuneigung erwiederte das Kind mit aller möglichen Aufmerksamkeit, deren sein Alter fähig war.

Der kleine Richard zeichnete sich ebenfalls durch die zärtlichste und liebevollste Anhänglichkeit an seinen Vormund und Wohlthäter, Doctor Gray, aus; zur rechten Zeit und am rechten Orte war er dienstfertig, aber ruhig wie ein Lamm, wenn sein Beschützer sich zum Studiren oder zum Nachsinnen geneigt zeigte; sowie er sich auch stets als emsig und dienstfertig erwies, so oft es wünschenswerth erschien, seinem Pflegevater Beistand zu leisten oder denselben zu zerstreuen. Bei der Wahl der Gelegenheit schien er in dieser Hinsicht eine über sein Alter gehende Gewandtheit zu äußern.

Im Verlauf der Zeit schien sich dieser gefällige Charakter noch mehr zu verfeinern. Bei jeder Körperübung oder bei jedem Spiel war er der Stolz und Anführer der Knaben des Ortes, wobei ihm seine Kraft und Thätigkeit eine entschiedene Ueberlegenheit über die meisten derselben ertheilte. In der Schule waren seine Fähigkeiten weniger ausgezeichnet, er war jedoch der Liebling seines Lehrers, eines verständigen und in seinem Berufe nützlichen Mannes.

»Richard begreift nicht schnell, aber sicher,« pflegte er seinem Beschützer, Herrn Gray, zu sagen; »es ist unmöglich, mit einem Knaben nicht zufrieden zu sein, welcher so sehr den eifrigen Wunsch hat, allen Anforderungen nachzukommen.«

Die dankbare Liebe des jungen Middlemas zu seinem Beschützer schien sich mit der Ausbildung seiner Geistesvermögen zu steigern, und fand eine natürliche und gefällige Art ihrer Aeußerung in Aufmerksamkeiten gegen die kleine Menie oder Marie Gray. Ihr geringster Wink war für Richard Gesetz, und vergeblich ward er durch hundert gellende Stimmen aufgefordert, das Amt eines Anführers beim Verstecken oder Ballspiel zu übernehmen, wenn es der kleinen Menie beliebte, daß er bei ihr bleibe und Kartenhäuser zu ihrem Vergnügen baue. Ein ander Mal pflegte er die Aufsicht über das kleine Mädchen zu übernehmen, um mit ihr auf die Heide zu gehen, um wilde Blumen einzusammeln, oder Mützen aus Binsen zu flechten. Menie's Anhänglichkeit an Richard Middlemas stand im Verhältniß zu seiner liebevollen Aufmerksamkeit, und der Vater sah mit Vergnügen jedes neue Zeichen von Liebe, die sein Schützling seinem Kinde erwies.

Während der Zeit, daß Richard allmälig aus einem schönen Kinde zu einem hübschen Knaben heranwuchs, und dem Alter sich näherte, in welchem der hübsche Knabe ein schmucker Jüngling genannt werden mußte, schrieb Herr Gray jährlich zweimal mit viel Regelmäßigkeit an Herrn Monçada unter der von diesem Herrn angegebenen Adresse. Der wohlwollende Mann war der Meinung, der reiche Großvater werde nicht, wenn er einen Verwandten sehe, auf welchen jede Familie stolz sein würde, auf seinem Beschlusse beharren können, einen durch Blutsverwandtschaft ihm so nahestehenden und an Gestalt wie Charakter so interessanten Knaben als einen Verstoßenen zu behandeln. Er hielt es demnach für seine Pflicht, die geringe und mittelbare Verbindung mit dem mütterlichen Großvater des Knaben zu unterhalten, da dieselbe in zukünftiger Zeit zu einem näheren Verhältnisse führen könne. In anderer Hinsicht konnte die Correspondenz einem Manne nicht angenehm sein, welcher ein Selbstgefühl wie Herr Gray besaß. Seine eigenen Briefe waren so kurz als möglich; sie enthielten allein Rechenschaft über die Ausgaben seines Mündels mit Einschluß eines geringen von ihm selbst bezogenen Kostgeldes, unter beigefügter Bescheinigung Herrn Lawfords, als zweiten Vormunds; sie berichteten über Richards Gesundheitszustand, sowie seine Fortschritte in der Erziehung, und enthielten in wenigen Worten eine kurze aber eifrige Lobrede über die Trefflichkeit seines Kopfes und Herzens. Die Antworten waren jedoch noch kürzer; ihr gewöhnlicher Inhalt war folgender: »Herr Monçada bescheinigt den Empfang von Herrn Gray's Briefe von dem und dem Datum, beachtet den Inhalt und ersucht Herrn Gray, bei dem Plane zu beharren, welcher bisher in Bezug auf ihre Correspondenz eingehalten wurde.« Sobald außerordentliche Ausgaben als wahrscheinlich sich zeigten, wurden Geldsummen bereitwillig und sogleich eingesandt.

Vierzehn Tage nach dem Tode der Frau Gray empfing der Doctor 50 Pfd. nebst einem Billet, worin bemerkt war, die Summe sei bestimmt, um dem Knaben R. M. einen passenden Traueranzug anzuschaffen. Der Schreiber des Billets hatte einige Worte hinzugefügt, um seinen Wunsch auszusprechen, daß der Ueberschuß Herrn Gray zur Verfügung stehe, um die außerordentlichen Ausgaben bei diesem Unglück zu decken; Herr Monçada hatte jedoch die Phrase unbeendigt gelassen, offenbar, weil er daran verzweifelte, dieselben in gutem Englisch auszudrücken. Gideon fügte ohne weitere Nachforschung die Summe zum kleinen Vermögen seines Mündels hinzu, obgleich Herr Lawford dem widersprach; diesem war nämlich der Umstand wohl bekannt, daß sein Freund durch den Aufenthalt des Knaben in seinem Hause eher verlor, als gewann, und wünschte deßhalb, daß derselbe eine Gelegenheit nicht vorbei lassen solle, um einen Theil seiner Ausgaben in dieser Hinsicht wieder zu erlangen. Allein Gray blieb taub gegen alle seine Vorstellungen.

Als der Knabe dem 14ten Jahre näher kam, schrieb Herr Gray einen genaueren Bericht von dem Charakter, den Fortschritten und den Fähigkeiten seines Mündels. Er fügte hinzu, er gebe diese Mittheilungen, damit Herr Monçada beurtheilen könne, wie die zukünftige Erziehung des jungen Mannes geleitet werden solle. Er bemerkte, Richard sei jetzt auf den Punkt gekommen, wo die Erziehung den ursprünglichen und allgemeinen Charakter verliere, und auf den verschiedenen Pfaden des Wissens sich verzweige, welche sich für besondere Berufsarten eignen; er müsse deßhalb bestimmen, für welche derselben der junge Richard zu erziehen sei; er selbst werde nach bestem Vermögen Alles thun, um Herrn Monçada's Wünsche zur Ausführung zu bringen, denn die liebenswürdigen Eigenschaften des Knaben hätten ihm denselben, ob er gleich nur sein Vormund sei, eben so werth und theuer gemacht, als es beim eigenen Vater der Fall gewesen sein würde.

Die Antwort, welche nach einer Woche oder zehn Tagen anlangte, war ausführlicher als gewöhnlich, und in der ersten Person verfaßt. – »Herr Gray,« so lautete der Brief, »unser Zusammentreffen geschah unter Umständen, die uns damals nicht günstig mit einander bekannt werden ließen. Allein ich bin gegen Euch im Vortheil. Denn da mir bewußt war, weßhalb Ihr eine schlechte Meinung von mir unterhieltet, so konnte ich Eure Gründe und Euch selbst zu gleicher Zeit achten; während Ihr, unfähig mein Verfahren zu begreifen – oder vielmehr unbekannt mit der schändlichen Behandlung, die ich erfahren hatte, nicht verstehen konntet, warum ich so handeln mußte. Durch einen Schurken meiner Tochter beraubt, welche Jener entehrte, kann ich es nicht über mich gewinnen, ein wenn auch unschuldiges Geschöpf vor Augen zu haben, dessen Blick mich stets an Haß und Schande erinnern muß. Behaltet das arme Kind bei Euch und erzieht dasselbe für Euren eigenen Beruf; tragt jedoch Sorge, daß der Knabe nicht über eine solche Stellung im Leben, die Ihr so würdig einnimmt, oder über einen anderen Stand gleicher Bedeutung hinaus will. Die Mittel zur Ausrüstung und Erziehung sollen auch für den Stand eines Pächters, eines Rechtsgelehrten oder Arztes auf dem Lande, oder für eine ähnliche zurückgezogene Lebensweise mit Freigebigkeit eingehändigt werden; ich muß jedoch ihm und Euch die Warnung ertheilen, daß jeder Versuch auf etwas Weiteres, als ich besonders erlauben werde, von mir Ansprüche zu erheben, die gänzliche Verwirkung meiner Gunst und Beschützung zur Folge haben würde. Da ich Euch hiemit meine Absichten erklärt habe, so erwarte ich, daß Ihr demgemäß handeln werdet.«

Der Empfang dieses Briefes bestimmte Gideon zu einer Unterredung mit dem Knaben, um von ihm zu erfahren, welche Wahl er unter den ihm so eröffneten Berufsarten treffen wolle; er hielt sich zugleich überzeugt, daß derselbe wegen der Gelehrigkeit seines Wesens, die Wahl seinem eigenen (Doctor Gray's) besseren Urtheil überlassen würde.

Vorher jedoch hatte er sich der unangenehmen Aufgabe zu entledigen, Richard Middlemas mit den geheimnißvollen Umständen seiner Geburt bekannt zu machen; er glaubte nämlich, der Knabe wisse nichts davon, weil er sie demselben niemals mitgetheilt, sondern ihn in der Meinung erzogen hatte, daß er das Waisenkind einer entfernten Verwandtin sei; obgleich aber der Doctor selbst nichts davon gesagt, hätte er bedenken können, daß die Kindsmagd Jamieson ihre Zunge zur Verfügung hatte, und zu deren freiem Gebrauche sehr geneigt war.

Von früher Jugend an hatte die Kindsmagd Jamieson unter den mannigfaltigen Mährchen und Sagen, die sie ihrem Pflegesohn erzählte, auch dasjenige nicht vergessen, was sie die schreckliche Zeit seiner Geburt nannte – die persönliche Erscheinung seines Vaters, eines vornehmen und gewaltigen Herrn, welcher aussah, als ob die ganze Welt ihm zu Füßen liege – die Schönheit seiner Mutter und die erschreckliche schwarze Maske, welche sie trug; ihre Augen, die wie Diamanten glänzten, und die Diamanten, die sie an den Fingern hatte, und die mit nichts als mit ihren eigenen Augen verglichen werden konnten; die Schönheit ihrer Haut und die Farbe ihres seidenen Mantels nebst vielem anderem ähnlichem Geschwätz. Alsdann sprach sie weitläufig von der Ankunft seines Großvaters und des furchtbaren Mannes, welcher mit Pistolen, Dolch und Hochlandschwert bewaffnet (die letzteren Waffen existirten nur in der Einbildungskraft der Kindsmagd), die Rolle eines Drachen oder Riesen im Feenmährchen spielte – dann folgten alle Umstände der Wegführung seiner Mutter, während Banknoten im Hause umherflogen, wie Fetzen Löschpapiers, und Gold-Guineen eben so häufig waren als Kieselsteine. Alles dieß erzählte ihm die Amme, theils um die Theilnahme des Knaben zu erregen, theils um ihrem eigenen Talente zur Uebertreibung sich hinzugeben, mit so vielen Nebenumständen und willkürlichen Erläuterungen, daß der wirkliche Vorgang, so geheimnißvoll und sonderbar er sicherlich auch war, vor der Darstellung der Kindsmagd in ein Nichts versank und sich wie demüthige Prosa zum kühnsten Flug der Poesie verhielt.

Richard war ernstlich geneigt, dem Allem zuzuhören und hatte noch mehr Vergnügen an der Vorstellung, daß der tapfere Vater unerwartet an der Spitze eines tapferen Regimentes mit klingender Musik und fliegender Fahne ankommen würde, um seinen Sohn auf dem schönsten Klepper fortzuführen, den menschliche Augen jemals erblickt hätten; oder seine Mutter, glänzend wie der Tag, werde plötzlich in einer Kutsche mit sechs Pferden erscheinen, um ihr geliebtes Kind sich abzuholen; oder sein reicher Großvater werde mit Taschen voll Banknoten herbeikommen, um seine begangene Grausamkeit dadurch zu büßen, daß er den vernachlässigten Enkel mit unerwarteten Reichthümern überhäufe. Die Kindsmagd Jamieson wußte ganz gewiß: es bedürfe nur eines Blickes von ihres Pflegkindes schönen Augen, um ihr Herz und ihre Nieren zu prüfen, wie die heilige Schrift spricht; wie einst sich merkwürdige Dinge ereigneten, so könnten solche wiederum zusammen und zur selben Zeit in dem Dorfe eintreten, und solch einen Tag erschaffen wie ihn Middlemas noch niemals erblickte; dann könnte ihr Kind nicht mehr mit dem niederländischen Namen Middlemas genannt werden, welcher klinge, als habe man ihn aus dem Rinnstein des Dorfes aufgegriffen, sondern er werde Ritter Galatian oder Sir William Wallace oder Robin Hood oder wie ein anderer großer Fürst heißen, von dem Mährchen und Geschichtenbücher erzählen.

Der Kindsmagd Jamiesons Berichte von der Vergangenheit und von den glänzenden Aussichten der Zukunft schmeichelten zu sehr der Einbildungskraft, um nicht die ehrgeizigsten Phantasie-Gebilde in der Seele des Knaben hervorzurufen, welcher natürlich einen starken Wunsch empfand, sich in der Welt emporzuschwingen, und welcher ohnedem das Bewußtsein hegte, daß er die für eine höhere Stellung geeigneten Fähigkeiten besitze. Die Ereignisse seiner Geburt glichen zu sehr denjenigen, welche in den von ihm gelesenen oder gehörten Mährchen erwähnt wurden; es schien kein Grund vorhanden, daß seine eigenen Abenteuer kein ähnliches Ende, wie diejenigen solcher wahrhaften Geschichten nehmen sollten. Kurzum, während der gute Doctor Gray sich einbildete, daß sein Zögling von seinem Ursprung durchaus nichts wisse, dachte Richard an nichts anderes als an die Zeit und Weise, worin und wodurch er aus dem Dunkel seines gegenwärtigen Zustandes emporgehoben, und zur Annahme eines Ranges befähigt sein würde, auf welchen er nach seiner Meinung durch seine Geburt die Ansprüche besaß.

So verhielt es sich mit den Gefühlen des jungen Mannes, als der Doctor eines Tages nach Tische die große lederne Brieftasche hervorholte, worin er wichtige Papiere mit einem kleinen Vorrath der nothwendigsten und wirksamsten Arzneien verwahrte. Er nahm jetzt den Brief Monçada's heraus und ersuchte Richard Middlemas um ernste Aufmerksamkeit, denn er habe ihm einige Umstände in Betreff seiner selbst mitzutheilen, deren Kenntniß für ihn von der größten Wichtigkeit sei. Richards dunkle Augen funkelten – das Blut strömte in seine breite und gut geformte Stirne – die Stunde der Erklärung war endlich gekommen. Er horchte auf die Erzählung Gideon Gray's, welche, wie der Leser sich denken kann, gänzlich aller Vergoldung entkleidet war, womit die Einbildungskraft der Kindsmagd sie ausgeschmückt hatte; welche ferner auf denjenigen Inhalt zusammengedrängt war, den die Geschäftsmänner den wesentlichen nennen, nichts weiter als die Geschichte eines Kindes der Schande offenbarte – eines von Vater und Mutter verlassenen Kindes, welches von dem mit Widerstreben gegebenen Almosen eines entfernteren Verwandten auferzogen war – eines Großvaters, welcher das Kind als das lebendige wenn auch unbewußte Zeugniß der Unehre seiner Familie betrachtete, und mit weit größerem Vergnügen die Kosten seines Leichenbegängnisses als diejenigen seiner Ernährung bezahlt haben würde, die er nur mit Murren für ihn ausgesetzt hatte. Tempel und Burgen nebst tausend lieblichen Luftschlössern der kindlichen Einbildungskraft Richards fielen plötzlich zusammen, und der durch ihre Zertrümmerung erregte Schmerz ward um so schärfer durch das Gefühl der Scham, daß er solche Träumereien genährt habe. Während Gideon in seiner Darlegung fortfuhr, blieb er in der Stellung der Niedergeschlagenheit; seine Augen waren auf den Boden geheftet, und die Adern seiner Stirne schwollen durch den Kampf der Leidenschaften.

»Und nun, mein theurer Richard,« sagte der Wundarzt, »müßt Ihr bedenken, was Ihr für Euch thun wollt, da Euer Großvater Euch die Wahl von drei ehrenwerthen Berufswegen freistellt; durch einen jeden derselben könnt Ihr, wenn Ihr rechtschaffen und verständig die Euch eröffnete Bahn verfolgt, ein unabhängiger wenn auch kein reicher, ein achtbarer wenn auch kein vornehmer Mann werden. Ihr werdet natürlich ein wenig Zeit zur Ueberlegung haben wollen.«

»Nicht eine Minute,« sagte der junge Mann, indem er den Kopf erhob und einen kühnen Blick auf seinen Pflegevater richtete. »Ich bin ein frei geborener Engländer und will nach England zurückkehren, wenn ich es für passend halte.«

»Ein frei geborener Narr bist du,« sagte Gray; »so viel ich weiß, und Niemand kann es besser wissen als ich, wurdest du im blauen Zimmer hier im Hause, auf Stevenlaw's Land, im Flecken Middlemas geboren, wenn du das einen frei geborenen Engländer nennen willst.«

»Aber Tom Hillary –« dieß war ein Lehrling des Stadtschreibers Lawford, welcher kürzlich ein großer Freund und Rathgeber des jungen Middlemas geworden war – »Tom Hillary sagt, ich sei dennoch ein frei geborener Engländer in Folge des Geburtsrechts meiner Eltern.«

»Bah, Kind, was wissen wir von deinen Eltern? – Aber was hat der Umstand, daß du ein Engländer sein willst, mit der gegenwärtigen Frage zu schaffen?«

»O, Doctor!« antwortete der Knabe in bitterem Tone, »Ihr müßt wissen, daß wir, die wir von der Südseite des Tweed kommen, uns nicht so hart fortbringen können als Ihr. Die Schotten sind zu moralisch, zu klug und zu stark, als daß ein armer Puddingesser unter ihnen leben könnte, sei er Pfarrer, Advokat oder Doctor – mit Eurer Erlaubniß, Herr.«

»Bei meinem Leben, Richard,« sagte Gray, »dieser Tom Hillary verdreht dir das Gehirn. Was ist aber der Sinn von alle dem Geschwätz?«

»Tom Hillary sagt, der Pfarrer lebe von den Sünden des Volkes, der Rechtsgelehrte von ihrem Unglück und der Doctor von ihren Krankheiten – ich bitte Euch jedoch um Verzeihung, Herr.«

»Tom Hillary,« erwiderte der Doctor, »sollte aus dem Flecken gejagt werden, ein Windbeutel von einem Advokaten-Lehrling, der in Newcastle durchgegangen ist! Höre ich ihn so schwatzen, so will ich ihn lehren mit mehr Achtung von gelehrten Ständen zu sprechen. Laß mich von Tom Hillary nichts mehr hören, mit dem du seit Kurzem viel zu oft umgegangen bist; jetzt aber bedenke dich ein wenig wie ein Bursch von Verstand, welche Antwort ich Herrn Monçada geben soll.«

»Sagt ihm,« erwiderte der Knabe, indem er den Ton affectirten Hohnes aufgab, und den des beleidigten Stolzes annahm, »schreibt ihm, daß sich meine Seele über die niedrige Stellung empört, die er mir anempfiehlt. Ich bin entschlossen, die Laufbahn meines Vaters in der Armee zu betreten, wenn nicht mein Großvater mich in sein Haus aufnehmen und mich für sein Geschäft erziehen will.«

»Nicht wahr, er soll dich wohl zum Theilhaber an seinem Geschäft machen und dich für seinen Erben anerkennen?« bemerkte Doctor Gray; »das ist ohne Zweifel sehr wahrscheinlich, in Betracht der Weise, wie er dich auferzogen hat, und der Bedingungen, von denen er jetzt hinsichtlich deiner schreibt.«

»Für jeden Fall, Herr, darf ich ein Verlangen an Euch stellen,« antwortete der Knabe. »Eine große mir zugehörige Geldsumme befindet sich in Euren Händen; da sie Euch für meinen Gebrauch zugewiesen wurde, so verlange ich, daß Ihr mir die nothwendigen Vorschüsse macht, um mir eine Offiziersstelle im Heere zu verschaffen; händigt mir das Uebrige ein, dann will ich Euch nicht länger belästigen und danke für bisherige Gefälligkeiten.«

»Junger Mann,« sagte der Doctor mit Ernst, »es thut mir sehr leid, daß Eure gewöhnliche Klugheit und gute Laune nicht bei der Vereitlung einiger albernen Erwartungen aushielten, die zu hegen Ihr nicht den geringsten Grund hattet. Allerdings befindet sich in meinen Händen eine für Euch bestimmte Summe, die sich ungeachtet verschiedener Ausgaben vielleicht auf 1000 Pfd. und vielleicht auf noch mehr beläuft; ich bin jedoch verbunden, nach dem Willen des Schenkers darüber zu verfügen, und jedenfalls dürft Ihr nicht eher darauf Anspruch machen, als bis Ihr die Jahre der Klugheit erreicht habt, ein Zeitpunkt, der nach dem Gesetz noch sechs Jahre entfernt ist, und den Ihr wenigstens in Eurem Sinne niemals erreichen werdet, wenn Ihr nicht Eure gegenwärtigen albernen Grillen aufgebt. Aber kommt, Richard, es ist das erste Mal, daß ich Euch in einer so abgeschmackten albernen Laune sehe; ich gestehe übrigens ein, daß sich zu Eurer Entschuldigung bei Eurer Lage viele Umstände vorfinden, welche sogar noch einen größeren Drang erregen könnten. Ihr solltet aber nicht gegen mich Euren Aerger auslassen, da ich durchaus nicht Schuld an dem Unglück bin; Ihr solltet bedenken, daß ich Euer frühester und einziger Freund war und die Sorgfalt für Euch zu einer Zeit übernahm, wo Jedermann sonst Euch Preis gab.«

»Dafür danke ich Euch nicht,« sagte Richard, indem er sich einem Ausbruch ungezügelter Leidenschaft hingab, »Ihr hättet besser für mich sorgen können, wenn das Euer Wille gewesen wäre.«

»In welcher Weise, undankbarer Bursch?« fragte Gray, dessen Gleichmuth etwas gestört wurde.

»Ihr hättet mich unter die Räder des Wagens werfen sollen, als jene Leute wegfuhren, damit sie den Leib ihres Kindes ebenso zerträten, wie sie mit dessen Gefühlen verfahren sind.«

Mit den Worten stürzte er aus dem Zimmer und schlug die Thüre hinter sich mit großer Heftigkeit zu, indem er seinen Pflegevater erstaunt über diese heftige und plötzliche Veränderung seiner Stimmung und seines Wesens zurückließ.

»Was zum Teufel ist mit ihm vorgegangen?! Ah, so, er hat hohe Gedanken und ist in einigen Thorheiten getäuscht worden, welche jener Tom Hillary ihm in den Kopf gesetzt hat. Allein seine Krankheit läßt sich noch mit schmerzstillenden Mitteln heilen.«

Während der Doctor diesen gutmüthigen Entschluß faßte, stürzte der junge Middlemas in das Zimmer der Kindsmagd Jamieson, wo die arme Menie, bei welcher seine Gegenwart immer eine heitere Stimmung erregte, sich beeilte, seiner Bewunderung eine neue Puppe zu zeigen, deren Erwerbung sie gemacht hatte. Niemand nahm in der Regel mehr Antheil an Menie's Vergnügungen als Richard, allein dießmal hatte Richard wie sein berühmter Namensvetter keine gute Laune. Er stieß das kleine Mädchen so sorglos und beinahe so roh von sich weg, daß die Puppe aus Menie's Hand flog, auf den Kaminstein fiel und ihr wächsernes Gesicht zerbrach. Die Rohheit entlockte der Kindsmagd einen Verweis, obgleich der Uebelthäter ihr Liebling war.

»Zurück, Richard – das war nicht nach Eurer Art, Miß Menie so zu behandeln – seid still, Miß Menie, ich will der Puppe Gesicht bald wieder ausbessern.«

Wenn aber Menie weinte, so geschah dieß nicht wegen der Puppe; während ihre Thränen ihre Wangen herabfloßen, blickte sie schweigend auf Richard Middlemas mit einem kindlichen Ausdruck von Furcht, Kummer und Erstaunen. Die Kindsmagd lenkte bald ihre Aufmerksamkeit von Menie Gray's Kummer ab, besonders da diese nicht laut weinte, und richtete dieselbe auf den veränderten Gesichtsausdruck, die rothen Augen und die geschwollenen Züge ihres Lieblings und Pflegekindes. Sie begann sogleich eine Untersuchung nach der Ursache seines Kummers mit der gewöhnlichen inquisitorischen Weise der Matronen ihrer Klasse. Solche Fragen, als »was gibt es, mein Kind?« und »was hat mein Kind gequält?« brachten zuletzt seine Antwort heraus.

»Ich bin nicht Euer Kind – ich bin Niemands Kind – Niemands Sohn. Ich bin von meiner Familie verworfen und Niemanden angehörig. Doctor Gray hat es mir selbst gesagt.«

»Hat er meinem Kinde vorgeworfen, daß er ein Bastard sei? – Wahrlich, das war nicht artig – aber gewiß, Euer Vater war ein besserer Mann als derjenige, welcher auf des Doctors Beinen steht – ein hübscher vornehmer Herr mit Augen wie ein Taubenfalke und einem Schritt wie ein hochländischer Dudelsackpfeifer.«

Die Kindsmagd war auf ihr Lieblingsthema gekommen und würde weitläufig darüber geschwatzt haben, denn sie hatte eine große Bewunderung für männliche Schönheit; allein dem Knaben mißfiel das letztere Gleichniß; deßhalb brach er das Gespräch mit der Frage ab, ob sie genau wisse, wie viel Geld sein Großvater Herrn Doctor Gray zu seiner Ernährung zurückgelassen habe. »Sie konnte das nicht genau sagen – sie wußte es nicht – es war sicherlich eine so furchtbare Summe, als eine solche nur durch die Hände eines Mannes gehen kann – sie war überzeugt, daß es nicht weniger als 100 Pfd. waren und auch recht wohl 200 sein könnten.« Kurzum, sie wußte nichts von der Sache, sie wußte jedoch gewiß, daß Doctor Gray ihm die Summe bis zum letzten Heller auszahlen werde, denn Jedermann sei es bekannt, daß er sich als ein gerechter Mann bewähre, sobald es sich um Silber handle. Wolle jedoch ihr Kind mehr von der Sache wissen, so werde der Stadtschreiber ihm alles darauf Bezügliche sagen können.

Richard Middlemas stand auf und verließ das Zimmer, ohne ein Wort weiter zu sagen; er ging sogleich zum alten Stadtschreiber, bei welchem er sich sehr beliebt gemacht hatte, wie das bei den meisten Würdenträgern des Fleckens der Fall gewesen war. Er begann das Gespräch mit Darlegung des Vorschlags, der ihm über die Wahl eines Berufes gemacht war: nachdem er von den geheimnißvollen Umständen seiner Geburt und den zweifelhaften Aussichten gesprochen hatte, brachte er den Stadtschreiber leicht zu der Erklärung über den Betrag der Summe und vernahm den genauen Stand des Geldes in den Händen seines Pflegvaters – Angaben, welche den schon von ihm empfangenen genau entsprachen. Alsdann befragte er den würdigen Stadtschreiber über die Möglichkeit in's Heer zu treten, erhielt aber eine zweite Bestätigung des von Doctor Gray ihm mitgetheilten Berichtes. Er erfuhr, daß kein Theil der Geldsumme ihm vor seiner Mündigkeit zur Verfügung gestellt werden könne, und zwar nicht ohne die besondere Einwilligung seiner beiden Vormünder und hauptsächlich derjenigen seines Pflegvaters. Er nahm deßhalb Abschied von dem Stadtschreiber, welcher unter großer Belobung des vorsichtigen Benehmens, mit welchem er sprach, und seiner klugen Auswahl eines Rathgebers in dieser wichtigen Krisis seines Lebens ihm zu verstehen gab, daß er selbst für ein sehr mäßiges Lehrgeld ihn in seine Schreibstube aufnehmen würde, wenn er die Laufbahn des Rechtes wählen wolle; er werde gern Tom Hillary fortschicken, um ihm Platz zu machen, denn der Bursch sei ihm zu naseweis und plage ihn mit Geschwätz von seiner englischen Praxis, womit man hier auf dieser Seite der Grenze, Gott sei Dank, nichts zu schaffen habe. Middlemas dankte ihm für seine Güte und versprach ihm, sein gütiges Anerbieten zu überlegen, im Fall er sich für den Beruf eines Rechtsgelehrten entschließen sollte.

Von Tom Hillary's Herrn ging Richard zu Tom Hillary selbst, welcher sich damals gerade auf der Schreibstube befand. Es war ein 20jähriger eben so lebhafter als kleiner Bursch, welcher sich durch die Genauigkeit, womit er sein Haar frisirte, und den Glanz eines mit Tressen besetzten Hutes so wie einer gestickten Weste auszeichnete, womit er der Kirche von Middlemas am Sonntage zur Zierde gereichte. Tom Hillary war der Schreiber eines Sachwalters in Newcastle am Tyne gewesen, hatte aber seit einigen Jahren aus irgend einem Grunde es für zweckmäßig gehalten, seinen Wohnsitz in Schottland aufzuschlagen; hierauf empfahl er sich dem Stadtschreiber durch die Genauigkeit und Schönheit, womit er die Urkunden des Fleckens in's Reine schrieb. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Berichte über die eigenthümlichen Umstände der Geburt von Richard Middlemas, so wie die Kenntniß, daß derselbe eine beträchtliche Geldsumme besaß, Hillary bewogen, den Knaben, obgleich er selbst älter an Jahren war, in seine Gesellschaft aufzunehmen, um dessen jugendliche Seele mit einigen Zweigen des Wissens zu bereichern, welche sein Zögling in jenem abgelegenen Winkel sonst nicht so bald würde erlangt haben. Hierunter befanden sich gewisse Karten- und Würfelspiele, wobei der Zögling, wie auch vernünftig war, den Preis der Einweihung durch seine Verluste seinem Lehrer bezahlte. Nach einem langen Spaziergang mit diesem Burschen, dessen Rath Richard Middlemas, wie der unweise Sohn des weisesten Mannes, wahrscheinlich höher schätzte als denjenigen seiner älteren Rathgeber, kehrte Letzterer zu seiner Wohnung in Stevenlaw's Land zurück und ging betrübt und ohne Abendessen zu Bette.

Am nächsten Morgen stand Richard mit der Morgensonne auf, und seine nächtliche Ruhe schien die häufige Wirkung des Schlafes gehabt zu haben, daß die Leidenschaften sich abkühlten und der Verstand sich besserte.

Die kleine Menie war die erste Person, bei welcher er seine Unart wieder gut machte; ein weit geringeres Sühnopfer, als die neue ihr geschenkte Puppe, wäre von derselben als Ausgleichung einer weit größeren Beleidigung angenommen worden. Menie war eines jener Wesen von reinem Gemüthe, denen ein Zustand gegenseitiger Unfreundlichkeit ein Zustand des Kummers ist, wenn die entfremdete Person ein Freund war; die geringste Zuvorkommenheit ihres freundlichen Beschützers genügte, um all ihr kindliches Vertrauen und ihre Zuneigung wieder zu gewinnen.

Der Vater war nicht unerbittlicher als Menie. Herr Gray glaubte wirklich, er besitze Ursache, Richard bei der nächsten Unterredung mit Kälte zu behandeln, denn er war nicht wenig über die Undankbarkeit gereizt, die er am Abend vorher erfahren hatte. Jedoch Middlemas entwaffnete ihn durch das freimüthige Geständniß, er habe seine Phantasie durch die Vorstellung des vermuthlichen Ranges und der Wichtigkeit seiner Eltern zur eitlen Ueberzeugung fortreißen lassen, daß er einst dieselben theilen werde. Der Brief seines Großvaters, der ihn zur Verbannung und niederen Stellung für sein ganzes Leben verurtheile, war, wie er anerkannte, ein sehr schwerer Schlag; mit tiefem Kummer bedachte er, daß die gereizte Stimmung getäuschter Hoffnungen ihn verleitet habe, sich in einer Weise auszudrücken, welche von der Achtung und Ehrerbietung eines Pflegekindes weit entfernt sei, welches gegen Herrn Gray die Verpflichtung des Gehorsams und der Liebe eines Sohnes haben, und seiner Entscheidung jede Handlung des Lebens anheimgeben müsse. Gideon, durch ein so aufrichtiges und mit so viel Demuth gemachtes Eingeständniß günstig gestimmt, gab sehr bereitwillig seinen Aerger auf und erkundigte sich mit gütigen Worten bei Richard, ob er die Wahl eines Berufes, welche ihm vorgelegt sei, überdacht habe; zugleich machte er ihm den Antrag, er werde ihm alle gehörige Zeit zu Ergreifung eines Entschlusses gestatten.

Hierauf antwortete Richard Middlemas mit derselben Bereitwilligkeit und Offenheit. Um seine Meinung mit mehr Sicherheit zu bilden, hatte er seinen Freund, den Stadtschreiber, um Rath gefragt. Der Doctor nickte Beifall. Herr Lawford war wirklich sehr freundschaftlich gewesen und hatte ihm angeboten, ihn in seine eigene Schreibstube aufzunehmen. Wenn jedoch sein Vater und Wohlthäter ihm erlauben wolle, die edle Kunst, worin er selbst einen so ausgezeichneten Ruf besitze, unter seiner Anleitung zu studiren, so werde schon allein die Hoffnung, daß er Herrn Gray in seinem Geschäfte helfen könne, jede andere Rücksicht bedeutend überwiegen. Eine solche Erziehung und eine solche Anwendung der Kenntnisse seines Berufes, wenn er dieselbe erlangt haben würde, müsse seiner Thätigkeit ein größerer Sporn sein, als die Aussicht, sogar Stadtschreiber von Middlemas in eigener Person zu werden.

Da der junge Mann erklärte, es sei sein fester und unveränderlicher Entschluß, die Medizin unter seinem Pflegevater zu studiren und ein Mitglied seiner Familie zu bleiben, setzte der Doctor Herrn Monçada davon in Kenntniß; dieser auch übersandte, um seine Beistimmung zu bezeugen, dem Doctor die Summe von 100 Pfd. als Lehrgeld, eine Summe, die beinahe dreimal mehr betrug, als Gray's Bescheidenheit als nothwendig ihm angegeben hatte.

Bald darauf, als Doctor Gray und der Stadtschreiber in dem kleinen Club des Fleckens sich trafen, war der Stoff ihres Gespräches der Verstand und die Festigkeit von Richard Middlemas.

»Er ist wirklich,« sagte der Stadtschreiber, »ein so guter und uneigennütziger Freund, daß ich ihn nicht bewegen konnte, eine Stelle in meiner Schreibstube anzunehmen, weil er besorgte, man werde glauben, daß er sich auf Kosten Tom Hillary's vorwärts bringen wolle.«

»Wahrlich, Stadtschreiber,« sagte Gray, »ich habe bisweilen besorgt, daß er mit jenem Tom Hillary zu viel umgehe, allein zwanzig Tom Hillary's würden Richard Middlemas nicht verführen können.«



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