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St. Albans.

O! nun tat sich aber wirklich das Paradies auf, als sie aus dem Dunkel ins Licht zurückbrausten. Marili stieß einen Freudenschrei aus, die Mutter lachte und drückte sie an sich.

Es war auch zu entzückend schön, was sie da sahen. Weiße Klippen von üppigem Grün überwachsen; ein rascher, jäher Durchblick in irdisches Himmelsblau hinein: die See, eine winzige, altersgraue Kirche und uralte hohe Bäume, umwuchert von Epheu. Nun an Hecken hin voll von den weißen Blütenbüscheln der wilden Klematis, hier eine Vision von wilden Rosen, dort von Vergißmeinnicht und Sternblumen, und da wieder hohe Parkwipfel, elegante Beete, auf denen die feurigen Begonien glühten zwischen sammetnen Rasenflächen.

Dann hielt der Zug, wo aber war die Equipage, von der Marili so oft geträumt hatte, seitdem die Einladung kam? Nirgends ein Pferdekopf, nirgends Kutscher und Diener, nirgends auch nur ein Omnibus, und dazu war das letzte rote Sonnenfünkchen schon vor einer Viertelstunde hinter den westlichen Klippenzügen verschwunden und ertrunken im blauen Meere: die Dämmerung sank.

Was half's? Ein stämmiger Junge lud das Gepäck auf seinen Karren, versprach auch noch auf die Koffer zu warten und beschrieb den »Ladies« ihren Weg nach Rushbrook-House sehr genau und knapp: »Erst geradeaus, Madam, please, und bei der grünen Hecke rechts um bis zum grauen Torweg. Dann links halten, und von der Post wieder geradeaus bis an die braune Gitterpforte neben der Einfahrt. Madam kann gar nicht fehlgehen. Der Wagen und Mr. Alder war heute schon zweimal an der Station und Mr. Alder sagte noch extra: ›Mit dem Siebenuhrzuge kommen die fremden Damen nicht.‹ – Also zuerst geradeaus gehen, please, Madam.«

Zu Fuß, wie jeder staubige Wanderbursch, im Paradiese herumirren und die Ruhestatt mühselig suchen, anstatt im Wagen sitzend, von Rassepferden gezogen, direkt ins offene Tor eines gastlichen Hauses zu rollen mit Glanz, das war doch etwas bitter.

Grimmig enttäuscht fühlte sich Marili, Mut und Humor sanken in ein jämmerliches Häufchen zusammen; mit einemmal kam die Müdigkeit wie ein Bleigewicht und hängte sich ihr an den Hals: »Ich kann nicht mehr, Mutter.«

»Unsinn, Marili – nach der gemütlichen Ruhefahrt? Das bildest du dir wirklich nur ein, Kind. Komm, nimm meinen Arm, häng dich fest ein; gleich muß doch der graue Torweg auftauchen –«

»Zuerst die grüne Hecke, Mutter.«

»Wirklich? Dann sind wir ein bißchen fehlgelaufen; da winkt ja ein graues Holzgitter. – Please – Sir: wo geht der nächste Weg nach Rushbrook-House?«

Der Radler, den sie angesprochen hatte, weil er langsam hügelan rollte, griff höflich an die Sportmütze: »Rushbrook-House? Kenn' ich nicht, Madam.«

»Es gehört den Misses Dormers.«

»Ah – die Cottage? Allright – da müssen Sie wieder umkehren bis an die grüne Hecke, dort drüben, sehen Sie? Und dann immer daran weiter bis zur Kirche. Von der Kirche aus gleich der erste Eingang links: braune Gitterpforte, am Brunnen vorüber. Good evening, Madam.«

Fort rollte er, bergunter, bog um die nächste Mauerecke und war verschwunden.

»Jetzt laß uns ruhig und sachlich suchen, Marili, und greife du dir unterwegs deine frohe Laune wieder auf, Herzlieb,« sagte die Mutter. »Ins Unabänderliche muß der Mensch sich freundlich schicken. Sieh um dich her, wie entzückend es hier grünt und blüht, und spürst du den Duft? Gestern hat es hier sicher gewittert oder geregnet; kein Körnchen Staub auf der Landstraße. So, jetzt haben wir die grüne Hecke glücklich und dort guckt ja der Kirchturm auch schon über die Bäume. Nun sei vergnügt, Kind.«

* * *

An der Cottage wurde gebaut, vor dem Portale, das augenscheinlich der Haupteingang war, ragten Maurergerüste gen Himmel. Die beiden suchten eine ganze Weile an der hohen, dunklen Lorbeerhecke hin; es war wie ein Gehege für Dornröschens Zauberschlößchen. Alles totenstill ringsumher, nur der wundertätige Quellbrunn von St. Albans, der in den Reisehandbüchern eigens erwähnt wurde, plätscherte eintönig in sein bemoostes Muschelbecken nieder; in den mächtigen Baumkronen schauerte der warme Wind, und ein verborgenes Vögelchen zwitscherte im Traum, leise und verloren.

Die Mutter pochte an irgend ein vergittertes Fensterchen, und eine junge Magd lief herzu, sagte ein paar Sätze im Volksdialekt, den selbst die Mutter nicht verstand, und wies nach links.

Richtig, da steckte ein Schlupfpförtchen, das zu einem Torwege gehörte, mitten im grünen Gerank; gottlob! eine Klingel hing daneben. Der Bursch mit seinem Gepäckwagen kam auch gerade gemächlich des Weges daher, alle sieben Stück, groß und klein, ordnungsmäßig aufgepackt, das Schirmfutteral bildete die Krönung.

Sehr vergnügt war die Mutter, als sie geklingelt und Marili einstweilen auf Hutkoffer und Plaidbündel zum Niedersitzen gebracht hatte.

»Wie sagt Fritz Reuter in der ›Franzosentid‹? ›Wohl, wohl! Rettung naht!‹ Kopf hoch, Marili!«

Zwei oder drei Minuten währte es noch; dann aber nahte die Rettung wirklich in Gestalt eines eleganten Bedienten in steinfarbener Livree mit Wappenknöpfen und roten Aufschlägen. Wie ein hochedelgeborener Lordssohn, so reckte er den dunklen Kopf in die Lüfte, und so vornehm und nachlässig murmelte er zwischen den Zähnen: » Come in, please.«

»O, lieber Gott!« dachte das müde Marili nun todeserschrocken, die Kniee wankten ihr, indem sie aufstand, solchen Eindruck machte der lordsmäßige Diener auf sie.

Nun durch einen hallenden gewölbten Torweg, immer unter der Veranda hin, von deren Säulen süße Düfte ausgingen: Rose und Geißblatt und italienischer Jasmin. Im Fluge tauchten weiße Sträuche auf, blühende Myrten, und dort erhob sich eine schlanke Fächerpalme, hier die zweite, und riesige, feingefiederte Nadelzweige breiteten sich seitab über moosigen Grund und sternförmige Blumenbeete. Das waren die Zweige der Libanonceder und drüben auf dem Hügel wieder ein Riesenbaum, noch dunkler, noch gewaltiger: die uralte, schottische Fichte.

Da ging's an hellen Fenstern vorüber und jetzt durch die Gartentür in die kleine, matt erleuchtete Vorhalle. Ein befrackter Herr mit weißer Krawatte und blondem Vollbart erschien auf dem Plane: »Hier sind die Damen wirklich, Miß Dormer!« sprach er ins offene Eßzimmer hinein, und dann gab's ein Rauschen und Knistern von Seide, ein Glitzern von Juwelen an zierlichen Handgelenken und unter feinen, brünetten Gesichtern. Ausrufe der Freude und Ueberraschung von gedämpften Stimmen klangen durcheinander, und die fünf Schwestern in höchster Eleganz, mit Schmuck, Fächern und langen Handschuhen, umringten die müden Ankömmlinge in ihren zerdrückten und bescheidenen Reisekleidern.

» Dearest Henrietta!«

» My own friends!«

» Darling child –!«

So ging's durcheinander, und die warme, treue Liebe aus glücklicher, längst vergangener Jugendzeit verwischte die höchste Eleganz und überstrahlte die zerdrückte Bescheidenheit dergestalt, daß eins zum andern paßte und stimmte. Marili wanderte von Arm zu Arm, ward gegen Spitzen und Edelgestein gedrückt und zärtlich auf Stirn und Wange geküßt: »O, wie sie dir gleicht, Henrietta – liebes Kind! O James, sehen Sie Miß Mary an, ist sie nicht ganz wie Miß Henrietta vor zweiunddreißig Jahren war? Erkennst du James noch, Henrietta –? Damals war er Vaters Diener und jetzt ist er unser Hausmeister: the butler, darling little Mary. – Nun kommt, erfrischt euch – Charlotte ist oben und hilft euch, und dann sollt ihr speisen.«

»Wir bringen euch hinauf.«

Miß Janet, die Vorjüngste, und Miß Rita, die Jüngste aus der kleinen Schar, zogen jede eine Hand im Reisehandschuh unter ihren Arm und droben im behaglich schönen Fremdenzimmer dampfte das heiße Wasser schon. Charlotte, die Jungfer, hatte es geschwind die Hintertreppe hinaufgetragen, als sie die Fremden, seit Mittag vergeblich Erwarteten, kommen hörte.

Sich genau im Zimmer umzusehen, dazu fand Marili keine Zeit. »Schnell, schnell, das Essen wartet auf uns,« hieß es. So badete sie sich nur Gesicht und Hände, ließ von Charlotte in der weißen Musselinhaube ihren verstäubten Haaren ein paar kundige Bürstenstriche geben und wieder hinunter. Gemütlich war's ihr, trotz des liebevollen Empfanges, nicht zu Mut – im Gegenteil. Der neue Glanz blendete sie.

Unten hielt James die Eßzimmertür schon offen, und herein spazierten Mutter und Tochter. So komisch kam Marili sich selber vor in dieser Umgebung, so grau und bieder und wunderlich, daß sie beinahe laut herausgelacht hätte; allein nicht etwa aus Vergnügen, nur im Gefühl des eigenen, äußerlichen Unwertes.

Dies war nun wirklich wie im Märchen. Solch ein strahlender und lockender Speisetisch wurde ja sonst nur in unnatürlichen Geschichten für gewöhnliche, hungrige Schnäbel gedeckt; und dieser stand wirklich da? Es war kein Traum, daß sie, Marie Elise Ringhardt, sich daran setzen sollte? Noch über die elegante Lloyddampfertafel auf der lieben »Sachsen« ging's, was sie vor sich hatte: Silber, zartes, buntes Porzellan, feine Gläser (jedes hätte eine Blumenvase bilden können), und auf dem weißseidenen Tischläufer solche Blumen, solche Früchte! Direkt aus dem Garten Eden, die Rosen in allen Farben, die bläulich grünen Farnkräuter und Schmetterlinge auf Stengeln, Bienen, die angewachsen waren, sonderbare tiefrosa Trichter, schneeig gefranst. Marili kannte keine Orchideen und hatte niemals frische Feigen gesehen. Ueber das alles schien das volle, weiche Licht der Wachskerzen von den Armen der großen Silberleuchter herab, und Edwin, der Lordssohn in kleidsamer Livree, brachte ein Gericht nach dem andern, James fragte flüsternd, welchen Wein »Miß Maria« trinken wolle und nannte ihr gleich vier Sortennamen auf einmal.

» Some water, please –« Sie wunderte sich nur, daß sie's herausbruddelte, und das kalte Wasser brachte sie denn glücklich wieder halbwegs in ihr gewohntes Gleichgewicht. – Ja, sie besann sich sogar darauf, daß ein verkehrt benutztes Messer in England zu den schweren Verbrechen gehören sollte und nahm geschwind ein Stück Brot zur Beefsteakpastete, bis Miß Claire, die größte und stattlichste der Schwestern, lächelnd meinte: »Nehmen Sie doch das Messer, dear, oder soll James Ihnen vorschneiden?«

So verwirrt war die junge Englandsnovize, daß sie den Wald vor Bäumen nicht sah, das heißt in diesem Falle: das Messer nicht neben ihrem Teller, und deswegen trat der korrekte James auf leisen Sohlen an ihre Seite und legte ihr die Fleischstückchen nebst der Kruste zurecht wie einem unmündigen Kinde. In Grund und Boden schämte sie sich. Nur gut, daß Lord Edwin eben hinaus stolziert war, um den frisch angerichteten Caramel-Pudding hereinzuholen. Die liebenswürdigen Wirtinnen aßen das ganze Mahl wieder mit zur Gesellschaft, wenn es auch nur ein Nippen mit Grazie schien. Vorläufig unterhielten sie sich ganz ausschließlich mit der Mutter, lebhaft und eifrig. Marili sollte sich erst in aller Ruhe fassen und gewöhnen. Es klang ihren Ohren so wunderbar, daß ihre gute, liebe Mutter ganz pompös » dear Henrietta« angeredet wurde, und daß James, der treue Hausgeist, der schon seit fünfunddreißig Jahren im Dienste der Dormers stand, die respektvolle Bemerkung auf eine bezügliche Frage seiner Herrinnen machte: »O, ich besinne mich noch so gut auf Miß Henrietta. Was für eine zarte und schlanke junge Dame Miß Henrietta doch damals war. Viel schlanker als Miß Maria denke ich, wenn ich mir erlauben darf, es frei auszusprechen.«

Die Damen lachten ihr sanftgemäßigtes Lachen, und »Miß Maria« mußte über ihrem Caramel-Pudding und dem goldenen Löffelchen auch mitlächeln. Ihre gemütlich vollkommene Mutter, die ein bißchen sehr in die Breite gegangen war, sollte vor Jahren »viel schlanker als sie gewesen sein?« Unwillkürlich legte sie eine Hand an ihre eigene Taille, auf deren »vierundfünfzig Centimeter« die Freundinnen sie mit Gewalt eitel zu machen suchten, und Miß Louisa nickte ihr zu, ehe sie die Tafel aufhob: »Drüben im Drawingroom werde ich Ihnen Ihre liebe Mutter von früher zeigen, wenn Sie das Bild noch nicht kennen. Wir lieben es sehr. Kennt sie es bereits, Henrietta?«

»Gewiß nicht – die Exemplare sind damals alle sechs in England geblieben.«

»Also werde ich meines dem lieben Kinde natürlich schenken. O, da kommt Shanny. Nun, schließe Freundschaft mit unsern teuren Gästen, Shan.«

Aber »Shan« tat mißtrauisch, und das konnte man seinen reifen Jahren wirklich nicht verdenken. Er hatte schon viel von der bösen und guten Menschheit gesehen, und war ein altersgrauer Skyeterrier, zottelig und langhaarig wie ein abgedankter Muff, der auf vier Stummelbeinchen einherwatschelte. Aber der Kopf mit dem spitzen Schnäuzchen war hübsch, und die Augen blickten so verständig und klug wie Menschenaugen, nur noch treuer, als diese es gewöhnlich tun. Zuerst kläffte und knurrte er und wollte nicht einmal mit dem Schwänzchen zum Gruß wedeln; dann sah er von unten herauf, zwischen den grauen Zottelhaaren hervor, die zierliche junge Dame pfiffig prüfend an, reckte die kurze Pfote auf und rieb den Kopf gegen das graue Reisekleid. Die Freundschaft war geschlossen, und mit dem gemütlichen alten Hundetierchen in den Armen, ging Marili so beherzt hinter den sechs Respektsdamen drein, über den weichen, karmoisinroten Hallenteppich ins schöne Wohnzimmer, das » drawingroom«, als hätte sie sich mit Shanny, dem alten Terrier, einen schützenden Talisman erobert.

Sie mußte laut herausrufen: »Wie himmlisch!« – ja, sie mußte, es ging gar nicht anders! Wahrhaftig, sie erlebte doch ein Märchen: warum konnte das ganze geliebte Kleeblatt der Geschlossenen nicht einmal hier hereingucken und mit ihr »wonnen«?

Was das Herz nur begehrte, lag und stand und hing in diesem Zimmer. Bücher rund um die Wände in niederen Schränken, gleich zur Hand, Bilder und Schreibgerät, bezaubernde Nippes aus aller Herren Ländern, »vom Nordpol bis zum Südpol« hätte Karl gesagt. Und überall Licht, überall Blumen, so reizvoll geordnet, ganz leicht und lose über die Ränder der kostbaren Vasen hängend, als hätte ein Zephyr sie hingehaucht. – Fenster und Gartentür weit offen; der köstliche Sommerduft strömte süß herein, und das Zirpen der Grillen klang traut und heimatlich. Von fern ein seltsamer Ton in ewiger Wiederholung, ein Raunen und Spülen und leises Anschlagen: die Flutwellen der See, die nimmer müde wird und das kantigste Gestein rund und glatt wäscht. »Gebt uns nur Zeit, wir zwingen es!« rauschen die Wellen ins Menschenohr, wenn es richtig zu horchen versteht.

Draußen alles Klarheit – Licht – Friede. Eine Mondnacht im irdischen Paradiese, die erste, unvergeßlichste.

Es zog Marili hinaus mit Gewalt. Kaum daß sie ihr Täßchen Mokka trinken mochte. Selbst Mutters Jugendbild: ein langgewachsenes Jungfräulein mit hängenden Blondhaaren und dem lächerlichsten Krinolinkleide, übte gar keine Macht aus gegen den unwiderstehlichen Mond- und Seezauber und den des geheimnisvollen Gartens, dessen Gründe und Rasenflächen, Baumriesen und finsteres Gebüsch in bläulichen Dämmernebel gehüllt lagen und lange schwarze Schatten um sich her warfen. Seitab schimmerte eine breitstufige Treppe, weißlich durchmustert, herüber, und von dieser Treppe ging der Duftstrom aus. Das war die Blumenterrasse, und gleich links davor wölbten sich die Bogen des Weinganges und dahinter das früchteschwere, knorrige Gezweig der Feigenbäume und das schlanke Röhricht der Bambusstauden; die Silberblätter der fremdländischen Fieberweide.

Natürlich errieten die Schwestern den Wunsch ihres jungen Gastes. Rita und Janet nahmen sie in die Mitte, während die Aelteren behaglich und träge in ihren weichen Kissensofas liegen blieben, handarbeiteten und sich von der Jugendzeit und den alten Freunden unterhielten.

Rita lief einmal zurück, geschwind und zierlich wie ein junges Mädchen, trotz ihrer fünfundvierzig Jahre. Sie holte eines der langen Fernrohre, die zur Beobachtung der vorüberkommenden Dampfer und Segler immer bereit lagen; »Mary muß den Mond durch das Teleskop betrachten; seht nur, wie schön er gerade heute ist.«

Einen Blick in den Himmelsraum tun, sich mit diesem kunstreichen Glase den Mond herunterholen in die Nähe – Marilis Herz fing an zu klopfen, ein Schauer überrann sie, wenn sie sich's ausmalte. Das war ja, als wenn man dem lieben Gott in die Fenster schaute. – Merkwürdig – geradezu Ueberwindung kostete sie's.

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Zuerst mit ängstlich blinzelnden Augen, nach und nach kühner, blickte Marili durch das Rohr.

Zuerst mit ängstlich blinzelnden Augen, nach und nach kühner blickte sie durch das Rohr auf Ritas geduldiger Schulter in die große, goldene Scheibe, die wie ein unbewegliches Schild am Firmamente hing. – Wie ehrfurchtgebietend, wie wundersam. Das liebvertraute Mondgesicht löste sich in deutliche Bergzüge auf, in blendende Höhen und schaurige Tiefen: Kratertrichter, helle Flächen und silberne Rillen.

Ein altmodisches, sonderbares Gedicht, das die Mutter ihr einmal vorgesagt und dann auf ihre Bitte in ihr kleines Kinderstammbuch geschrieben hatte, bald nach dem Tode des lieben Vaters und des schwächlichen Brüderchens, fiel ihr ein, Wort für Wort, und schnürte ihr die Brust zusammen:

»Auf deinen sel'gen Höhn,
O Mond, im Golde,
Hab' wandeln ich gesehn
Engelchen holde.
Englein vom Erdenstamm,
Gestorbne Kindlein,
Lobsingend Gottes Lamm
Mit frommen Mündlein.

Ach, diese sel'gen Höhn
Möcht' ich erklettern,
Möcht' in der Tiefe sehn
Stürmen und Wettern;
Unter mir Tod und Qual,
Ringen und Toben –
Ach, liebster Mondenstrahl
Zeuch mich nach oben.

Gottvater, Sohn und Geist,
Helft meiner Seele.
Wer dich da droben preist,
Ist sonder Fehle –
Gottvater, sei gelind,
Hilf mir, dem Kinde;
Gotteslamm, Gotteskind,
Nimm meine Sünde.

Heil'ger Geist, der du bist
Mondenstrahl-reine,
Mach mich mit Gott und Christ
Einiglich-eine.
Schleuß mir das Pförtlein auf
Ew'ger Gefilde:
Heil'ger Geist, dort hinauf
Leuchte mir milde.«

* * *

»Ich kann nicht anders – – ich muß weinen – Verzeihung –,« sagte sie in stammelndem Englisch zu ihnen, als sie das Rohr sinken ließ und in Janets Hand zurückgab. »Ich muß es – – ach Gott! – –«

Sie drückte ihr Gesicht gegen einen der Rebenbogen, und aus den zusammengepreßten Augenlidern hervor rannen ihr die Tränen heiß über die Wangen.

» Darling, poor, dear child – was ist denn? – Nein, nein, sagen Sie nichts, weinen Sie sich satt.«

»Hier ist mein Schnupftuch, little one – kommen Sie in meinen Arm. Wir haben Sie lieb, Henriettas liebes, kleines Mädchen. So, ist es jetzt besser? Janie; da ist Edwin, laß ihr ein Glas Orangenwasser hierherbringen, ja gewiß, Sie werden das trinken, Liebe, es beruhigt.«

»Aber ich bin wieder ruhig, Miß Rita –«

»Nicht Miß, nur Rita. Wenn wir auch alt sind und Sie jung, Freundinnen können wir doch sein, nicht wahr? Wir sind auch jung gewesen und erinnern uns, wie wir damals gefühlt haben, ist es nicht so, Janie?«

»Genau so; und wenn Sie uns vertrauen wollen, was Sie eben gequält hat –«

Marili strich sich das Haar aus der Stirn und trocknete sich mit Ritas Spinnwebtüchelchen die Augen. »Es ist überhaupt keine Qual gewesen – nur zu groß und zu schön war der Mond, – und ich mußte an ein deutsches Lied vom Monde denken; ich weiß es von Mutter, und Mutter hat es manchmal zum Klavier gesungen. Wenn ich es nur übersetzen könnte – Sie würden wohl begreifen, daß man darüber weinen muß.«

»Vielleicht verstehen wir's auf deutsch: ein wenig haben wir's gelernt. – Hier ist Edwin; nun trinken Sie, Mary dear, und dann wollen wir das Lied hören.«

Ganz umeinander verschlungen gingen die drei gleich darauf in einer Reihe über den kurzen tauigen Rasen, der unter ihren Tritten federte, vorbei am Pavillon, der Ellinors, der Zweitältesten, Maleratelier enthielt, und an einem laut rauschenden, kleinen Bache hin, treppan durch einen niedrigen, dunklen Laubengang. Dann tat sich wieder ein Pförtchen auf; – grüne Wiesen dehnten sich den Klippen entgegen, zur Linken erhoben sich zwei weiße Schilderhäuschen auf der Hügelkuppe, umringt von kleinen Kanonen. Das war des längstverstorbenen Lord Dormers, des Großvaters, »Batterie«, die noch niemals einen Schuß abgegeben hatte hier im lieblichen Paradiesesfrieden. Zur Rechten schluchtete sich der Felspfad tief hinunter in die Seebucht, die zur »Cottage« gehörte. Da sprangen die Wellen auch an den stillsten Tagen schäumend gegen die spitzen und rundgewaschenen Steine auf und suchten sie zu überspringen, und wenn man auf dem großen viereckigen Blocke dort, inmitten des Halbkreises der Bucht, saß, hätte man gar nicht wieder fort mögen, so schön und ewig wechselnd war das Schauspiel.

Jetzt fiel eben die Ebbe ein, und der Block lag frei und trocken. Gut, daß die drei ein Plaid mitgenommen hatten; nun gab es einen köstlichen Sitzplatz.

O, wie unbeschreiblich und märchenhaft war dies wieder. Marilis Herz, das sich, trotz der fortschreitenden Genesung, noch so leicht erregte, kam gar nicht aus dem Klopfen heraus.

Die See, im Rahmen der vorspringenden Klippen, eine goldflimmernde Fläche, bis zum fernsten Horizonte hin. Ein großer Dampfer und ein Dreimaster unter vollen Segeln zogen lautlos und schattenhaft ihre Bahn vorüber, gegen Westen zu. Der Dampfer hatte ein rotes Lichtfünkchen aufgesteckt, und als er ein wenig drehte, kam auch ein grünes hervor. Jetzt schwebte seine Rauchwolke an der klargoldnen Mondscheibe hin und umflorte sie; – jetzt trat das Himmelslicht, das liebe, wieder in vollem Glanze heraus und goß seinen Schimmer von neuem ins wogende Wasser. – Da konnte Marili mit einemmal Mutters Lied singen:

»Auf deinen sel'gen Höhn,
O Mond, im Golde,
Hab' wandeln ich gesehn
Engelchen holde.
Englein vom Erdenstamm,
Gestorbne Kindlein,
Lobsingend Gottes Lamm
Mit frommen Mündlein – –«

* * *

Sie hatte keine Stimme, nur ein zartes Stimmchen, aber es klang weich und ausdrucksvoll, und die einfache Melodie, einfach wie ein kindlicher Weihnachtschoral, war nicht zu verfehlen. – Und wie das Lied in diese Umgebung hineinpaßte!

»Vielen Dank – es war ein großer Genuß, sweet one,« sagte Janet und drückte die kleine Hand der Sängerin, die vor lauter schwer bekämpfter Schüchternheit ganz kalt geworden. »Ich habe alles verstanden, sehr gut, und ich finde es sehr schön, und du, Rita?«

»Mary soll mir noch einiges erklären, Janie. Was meinst du, ob es ihr Freude machte, unsers Vaters Hoffnungslied von den Sternen ins Deutsche zu übersetzen? Möchten Sie's wohl, dearie?«

»O, wenn das möglich wäre?«

»Warum denn nicht? Wo nur ein Wille ist, da gibt es einen Weg, wissen Sie das nicht, Sie Kleine, Liebe? Wollen Sie vormittags eine Stunde mit uns arbeiten? im Pavillon? Ellinor malt dort und Janet spielt Klavier; Claire hat für die Blumen zu sorgen und Louisa für den Küchenzettel. Ich gehe mit Shanny hinaus, um den Kranken dort drüben im Hospital vorzulesen, und Ihre liebe Mutter wird etwas Neues schreiben wollen. So ist alles eingeteilt, und Sonntags ruhen wir und übertragen die Paulusbriefe aus der Bibel für unsre Blinden in ihre Schrift. – Wo und wann Sie nur mögen, finden wir auch für Sie Arbeit. Nun, was denken Sie zunächst einmal vom Uebersetzen?«

»Gleich morgen, so früh wie möglich.«

Marilis Augen glänzten vor Freude, sie hatte einen innern, stürmischen Drang, ihre neuen Freundinnen zu umarmen und Shanny zu küssen oder zur Mutter zu stürzen und sie mit aller Gewalt an sich zu pressen. Uebersetzen! Vielleicht – ja vielleicht tat sich da ein Beruf auf, der heißersehnte. Alle die kleinliche Eifersucht, die sie noch vor ein paar Tagen gegen ihre Carry empfunden und so hart bekämpft hatte, ohne den vollen rechten Erfolg in ihrem jungen Herzen, die schrumpfte in ein Nichts zusammen.

Die ganze Welt liebte sie heute abend, und nun also: morgen! Nein, wie sie sich freute.

* * *

Eine halbe Stunde später standen sie alle sieben in der Halle, jede mit einem Silberleuchter in der Hand. Die sieben Kerzen brannten, und man sagte sich Gutenacht.

Zu gemütlich war's droben im Gastzimmer. Da stand der Mutter Bad für morgen schon bereit, und gleich daneben, im grünumrankten Erkerstübchen, fand Marili ihres fertig.

Aber sie schliefen zusammen, Mutter und Tochter, unter einem kunstvoll drapierten »Himmel« in einem riesigen Vierpfostenbette auf spitzenbesetzten Daunenkissen.

»Nun, wie findest du die Cottage und England?« fragte die Mutter, als sie ihr Kind zur Gutenacht küßte.

»Das kann ich dir gar nicht sagen, wie. – Geradezu himmlisch!«

»Das freut mich von Herzen. Schlaf wohl, mein Herzenskind, Gott behüte dich.«

»Und dich auch, beste Mutter – schlaf gut.«

* * *

Vor sich sah Marili das einzig schöne Seebild im Rahmen der Klippenvorsprünge, goldflimmernd wie vorhin. Um die offenen kleinscheibigen Fenster lief ein breiter Rand von tiefblauem Glase. Das machte das ganze Bild noch magischer. – Die ganze Nacht träumte Marili davon.


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