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Scheiden und Meiden.

Unvermutet verzögerte sich Kittys Abreise noch um ein paar Wochen. In der Stadt trat das Scharlachfieber bösartig auf; es wurde eine förmliche Epidemie. So blieb sie, im Einverständnisse mit ihrer Frankfurter Oberin, vorläufig als Aushilfsschwester daheim und siedelte ins Rote Kreuz über. Schon acht Tage nach Marilis Konfirmation ging sie in eine schwere Privatpflege, und trotz Mühe und Liebe mußte sie die beiden Kinderchen, an deren kleinen Betten sie unermüdlich gewacht hatte, sterben sehen und den bittern Kummer der Eltern miterleben. Kurze Zeit darauf kehrte sie in die Gartenstraße zurück, aber nur, um ihre Sachen zu packen.

An einem Mittwochnachmittage kam sie heim. Die »Geschlossene« war gerade zum letztenmal bei Marili versammelt, ehe die vier Freundinnen zur Pensionsreise an den Genfersee aufbrachen. Sie sollten unter Kittys Schutz bis Frankfurt reisen (»rasend interessant, mit einer ›Schwester‹! und wen von uns man dann wohl für die Kranke halten wird?«), und in Frankfurt nahm Herr Hellwig die Backfischschar zur Weiterbeförderung in Empfang. Er war augenblicklich geschäftlich am Rhein und wollte aus gleichen Gründen ohnehin nach Lyon und Bordeaux. Das ließ sich ausgezeichnet mit der Südschweiz vereinigen. Uebermorgen, also Freitag, ging's mit dem Abendzuge fort. Alle fünf nach menschlicher Voraussicht mindestens für ein volles Jahr.

»Wenn ich nicht schon lange vorher gestorben bin vor Heimweh,« hatte Aenne ganz sentimental gemeint, und Carry war urprosaisch dazwischen gefahren: »Du Dicke, mit den roten Backen – du und sterben! Laß dich abmalen!«

Nun war Kitty wirklich zuguterletzt noch einmal dabei als hochbeliebtes Ehrenmitglied der berühmten »Geschlossenen«. Allerdings nicht ganz auf die Art, wie die Freundinnen sich's ausgemalt hatten. Sie saßen eben um den Teetisch und übertäubten den Trennungsschmerz, der sich nachgerade doch zu regen begann, mit reichlich lärmendem Jubel über die kleinen Reisebequemlichkeiten, die das seelengute Marili ihnen wieder heimlich zusammengestichelt hatte. Abwechselnd Schirmhüllen oder sehr vollständige Nähtäschchen, je nach Wahl. Gottlob, nicht etwa aus dem widerlichen grauen Leinen gefertigt und rot bestickt, sondern ungemein patent aus weichem Leder, das ordentlich nach Juchten duftete und ganz sattlermäßig mit abstechendem Leder umsteppt war. Zur Verzierung nichts als ausgesprochen vornehm wirkende Monogramme.

Es war faktisch, um vor Rührung zu weinen über dies Marili. All ihr bißchen Taschengeld hatte sie natürlich darauf verschwendet und lief ohne Murren in Zwirnhandschuhen für vierzig Pfennig herum. Und dieser liebe Blick, mit dem sie ihre hübschen Gaben ausgeteilt, dies schüchternfrohe Lächeln bei der überlauten Empfangsfreude. – Zu nett!

Alle, außer Aenne, mußten sich im stillen Vorwürfe darob machen, daß man so wild für Kitty flammte und den Reisetag mit ihr kaum mehr erwarten konnte, während doch Marili – – da glitt die Schiebetür von der Mutter Wohnzimmer in die Eßstube geräuschlos zurück und Kitty trat zu der schwatzenden Gesellschaft herein.

Sie war in der Schwesterntracht. Die welligen Haare, aus denen sich, trotz allen Glättens, die kleinen Ringel um die Schläfen hervorstahlen, lagen tiefgescheitelt unter der weißen Haube, und ihr Antlitz schien den Mädchen so blaß und ernst geworden zu sein, wie sie es noch niemals bei ihr gesehen hatten.

Es bestürzte sie förmlich. Wie vor einer Wildfremden erhoben sie sich und standen ehrfurchtsvoll schweigend.

»Just als ob sie Fräulein Blenderberg oder Herr Pastor gewesen wäre,« meinte Nelle nachträglich.

Kitty lächelte ein bißchen und reichte allen nach der Reihe die Hand. Marili zog sie an sich, drückte sie fest gegen ihre Brust und küßte sie zwei-, dreimal hintereinander. Einen lustigen Scherz wie sonst machte sie heute nicht, sondern strich dem Schwesterchen übers Haar, bog ihm, nach alter Gewohnheit, die schmalen Schultern zurück und behielt es im Arm: »Nun, ihr Kinder? Habt ihr noch eine Tasse Tee für mich? Fast sechs Wochen lang haben wir nichts voneinander gesehen. Wie geht's euch? Eure Lieben daheim wohl und frisch?«

»Danke vielmals. Alle gesund.«

»Nur Nelles kleiner Bruder hat Mandelentzündung, seit gestern; nicht, Nelle?«

»Ach, es ist ja kaum der Rede wert, Milly. Mama findet nicht mal den Doktor für nötig.«

»Lieber doch den Doktor, Nelle; laßt euch raten. Gelt, du sagst es der Mama gleich von mir? – und recht fleißig mit Kalkwasser gurgeln; alle Stunde, gelt? Man kann gar nicht sorgsam genug sein in dieser argen Zeit. Du solltest lieber zur Gesellschaft mitgurgeln, Nelle, und auch dein Fränzchen nicht küssen. Ihr werdet doch Kalkwasser im Haus haben?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Gut, so geb' ich dir später von uns eine gespülte Saftflasche mit und du holst darin aus der Apotheke, wenn du heimgehst. Erinnere mich daran. – So, jetzt wollen wir Tee trinken, ihr Kinder. Schenk ein, Marili.«

In ihrem ernsten Gewande saß sie zwischen den hellen Mädchenkleidern, runzelte die Stirn nach oben und fuhr mit der flachen Hand darüber hin, als müsse sie dort etwas wegwischen. Dann nahm sie mit all ihrer Willenskraft einen Anlauf und wurde äußerlich wieder die heitere Kitty, deren Worte immer ins Schwarze trafen und deren Lachen ansteckte. Allein Milly und Aenne, ihre Nachbarinnen, sahen es wohl, daß der Frohsinn ihr diesmal nicht aus dem Herzen kam. Die drei feinen Falten, die ihr in der jugendlichen Stirn eingegraben lagen und sich nicht nur so mit der Hand fortstreichen ließen, die waren vor den schweren Pflegewochen nicht dagewesen.

»Arme Kitty! Daß dir deine zwei süßen, kleinen Patienten haben sterben müssen,« flüsterte Aenne ihr zu; aber so gut ihr warmes Herz es auch mit diesen Worten meinte, sie taten nicht gut. Kitty preßte die Lippen zusammen, schlug die Augenlider ein paarmal rasch auf und ab und die Tasse, die sie Marili zum Frischfüllen hinhielt, klirrte in ihrer Hand: »Schwere Arbeit – schwere Arbeit und ein trauriges Ende; bald geht's so, bald so, mein liebes Aenny,« entgegnete sie und nahm einen großen Schluck Tee, um sich die Stimme zu klären. »Wenn man aber seinen Beruf ganz mit dem Herzen ergreift, sieh, dann lernt man auch das Schwerste und das Traurigste ruhig hinnehmen. Man muß eben nur den Trost in sich haben dürfen: ›Du hast deine Pflicht gern getan, aber über deinen Menschenwillen ist ein höherer gesetzt.‹« –

Aenne lehnte beide Ellbogen weit vor auf die Tischplatte, stützte das Kinn darauf und sah so, aus lebhaft fragenden Augen, in Kittys Gesicht: »Wird es dir schon leicht? Jetzt schon? Süße Kitty, sag mir das ganz ehrlich, bitte. – Ja oder nein?«

»›Ja‹ und ›nein‹, liebes Fragezeichen. Das ist meine ganz ehrliche Antwort. Noch bin ich am Lernen, weißt du. Freilich, auslernen tut keiner in diesem Leben, ich hab' wenigstens noch von keinem gehört; nur vorwärtskommen muß man, zum mindesten so weit, daß man nicht mehr fort und fort ans teure ›Ich‹ denkt, sondern ein bißchen mehr ans ›Du‹. Da liegt's!«

»Ich verstehe dich ganz gut, Kitty; – aber wie bist du überhaupt – –?«

Kitty schnippte ihr mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenspitze und lachte so vergnügt wie in den frohen, vergangenen Tagen: »O du Schlaufuchs du! ›Wie bist du überhaupt?‹ – und so weiter: gelt, so fragt man die Leut' aus, Aenny! Da müßt' ich ja mein Erinnerungsbuch hervorsuchen, um dir das interessante ›wie‹ und ›überhaupt‹ zu erklären, und das ganze schöne Buch ist irgendwo vergraben: Ja, gib dich nur ohne die Erklärung zufrieden, Miß Aenny. – Nun, zeig her, Nelle, was du vom Marili hast, und du Carry? Also die Nähtaschen, ihr zwei Glückspilze.«

»Aber du bekommst doch natürlicherweise auch eine Nähtasche und ein Schirmfutteral dazu!« rief Marili dazwischen.

»Das ist wirklich herzig von dir, liebstes Kleines; danke dir vielmals. Habt ihr denn auch bunten Seidenfaden und Knöpfchen zum Handschuhflicken in euren Taschen? Guckt einmal nach: gelt, nicht? Das einzige hat 's Marili vergessen. Macht nichts; ich hol' euch von mir.«

Damit schlüpfte sie hinaus und stieg zwei Treppen höher, hinauf unters Dach in ihr Stübchen. Klein war's, niedrig und braun getäfelt, aber bunt ausgeschmückt und reizend behaglich mit seinem Alkoven, der an eine Schiffskabine erinnerte und dem hellen Fenster mit rosa türkischen Gardinen, von denen sich der dunkle Nußbaumschreibtisch so hübsch abhob. – Lange blieb Kitty von der lustigen Gesellschaft dort unten fern. – Ob sie die Knöpfchen und Seidenfäden suchte, oder ob sie doch noch in irgend einem Geheimfache ein paar lose Blätter aus dem Erinnerungsbuch entdeckt hatte und las und weiterlas? – Das erfuhr keine Seele.

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Leise trat Kitty hinaus und lehnte sich ans Blumenfenster der kleinen Veranda.

Schon vor einer ganzen Weile hatte die Mutter sich die »Geschlossene«, der ihr Gesprächsstoff anscheinend ausging, ins Wohnzimmer geholt und um den sechseckigen Tisch vor der Chaiselongue und das angerückte Bauerntischchen gruppiert. Da bekamen sie nicht nur rosa Creme mit dem beliebten Schlagrahm vermengt, sondern obendrein die drei letzten Kapitel des neuesten Jungfrauenbuches vorgelesen: sozusagen warm aus dem Ofen. – Die Tinte lief noch beinahe, aber darin gipfelte ja eben die Annehmlichkeit, und der Held war diesmal ein leibhaftiger ostpreußischer Baron in kleidsamer Kürassieruniform vom Regiment Wrangel. Er heiratete natürlich die Heldin, die den Zuhörerinnen sehr beneidenswert erschien.

»Das Schlußkapitel wollen wir überschlagen,« sagte die Mutter und tat so, als wollte sie ihr Heft zuklappen. Aber da brach ein schöner Sturm der Entrüstung los!

Als Kitty unhörbar wieder eintrat und in den Lehnsessel an der halboffenen Verandatür glitt, wendete sich keines der aufmerksamen Mädchengesichter nach ihr um, so gespannt lauschten sie.

Leise trat sie hinaus, lehnte sich ans Blumengitter der kleinen Veranda und sah zwischen den Zuckerhutstürmen der Paulskirche den Mond hell und golden aufsteigen. Die Gärten waren ein schneeiges Meer: alle Birnbäume und Apfelbäume blühten wundervoll. Auch vor der Veranda streckte der einzige, alte Stamm des Gärtchens der Einsamen seine rosigweißen Blütenzweige entgegen. Ein ganz feiner Duft ging von ihnen aus, so zart und schwach wie der Hauch der Erinnerung. Kitty sah durch die lichten Blütenzweige in den Mond. Der leuchtete auch dort in der Ferne, wo der Vater begraben lag und das Erinnerungsbuch; er leuchtete auch über dem Dache des Schwesternheims zu Frankfurt, das in wenigen Tagen ihr Heim sein würde.

Es war gut so. Wohl denen, die mit sich selber und mit den vergangenen Schmerzen kämpfen und den Sieg erringen können. Die nicht nur ihre müden Hände schlaff in den Schoß legen und sich fort und fort wiederholen: »was hab' ich gelitten! – wie tat's doch weh!« – sondern die Zähne zusammenbeißen und sich ernste Pflichten schaffen. – Kitty dachte an einen alten Spruch, den sie immer sehr geliebt hatte:

»Keiner weiß, wie fest er steht,
Der sich nimmer noch bewährt hat;
Keiner weiß, wie stark er sei,
Dem das Leben nichts zerstört hat;
Keiner weiß, wie gut er sei,
Den der Tod noch nicht verklärt hat.« –

* * *

Zweimal vierundzwanzig Stunden später, ungefähr um dieselbe Zeit gingen die Mutter und Marili Seite an Seite langsam vom Frankfurter Perron treppab. Marili weinte. Sie hatten den fünf lieben Reisenden das Geleit gegeben: eine ganze Gesellschaft. Millys und Nelles Eltern waren schon wieder fort; Tante Klara hatte einen Wagen draußen vor der Bahnhofshalle und bot sehr freundlich an: »Ich bringe euch beide rasch nach Haus, Jettchen.«

Marili aber war nur froh, daß die Mutter ihren Armdruck gleich verstand und Tante Klaras Anerbieten zum Mitfahren dankend ablehnte: »Es ist solch wunderschöner Mondschein diesen Abend; ich denke wir gehen ebenso lieb noch eine halbe Stunde auf der Chaussee spazieren, nicht wahr, Marili? Ich komme wirklich viel zu selten hinaus, liebes Klärchen.« –

– Da zogen die dicken Schimmel schon an und das Coupé rollte davon. – Marili hängte sich fest bei der Mutter ein und schob den Schleier über das Bolerohütchen zurück. Heiß und tränennaß ihr Gesicht; sie hatte Kopfweh und war noch lange nicht fertig mit Weinen, wenn das auch bei ihr keine geräuschvolle Veranstaltung gab. – Im Gegenteil; ganz still rannen ihr die Tränen aus den Augen und jagten einander die schmalen glühenden Wangen hinab. Nur die Stimme klang sehr nach Schluchzen, obwohl sie sich bemühte gefaßt zu sein.

O, wie war es tröstlich, daß die Mutter gleichfalls nasse Augen hatte, als sie Arm in Arm mit Marili schritt. Marili sah es im Lichte des Mondes, der dort über den blühenden Chausseekastanien am klaren Himmel mitwanderte.

»Mutter,« sagte Marili und mußte sich zweimal räuspern, ehe sie weitersprechen konnte, »findest du den schönen Abend auch so grenzenlos traurig? – – Liebste Mutter, ich möchte Kitty so gern ersetzen, dir und Karl, und ich fühle, daß ich es nicht kann, ich mag mir hundertmal Mühe geben. Ach, Mutter, glaube mir nur meinen guten Willen. – Aber sieh: was bin ich gegen Kitty?«

»Herzensliebes Kind; wozu vergleichen?« antwortete die Mutter und legte ihre freie Linke um Marilis Hand auf ihrem Arme. »Jeder nach seiner Weise und seinen Kräften. Gestern abend zum Beispiel – du schliefst schon – saß ich noch allein mit Kitty auf. Da seufzte sie auch: ›Ja, wenn ich so sein könnte wie Marili, dann hätte ich mir meinen Entschluß nicht halb so schwer erkämpfen müssen!‹ – Und Karl hat erst im letzten Briefe geklagt: ›Warum hat nun Kitty Vaters prachtvolle Art, mit allen Leuten fertig zu werden, von ihm geerbt und nicht ich?‹ Kind –: bei dem ewigen Abwägen und Abmessen kommt nichts heraus! Laß uns einander nehmen und tragen wie wir nun einmal sind und uns Liebe erweisen, nicht wahr? Du hältst mir für meine Arbeitsstunden Störung fern, damit ich in aller Ruhe für euch denken und schaffen kann, und in meiner Freizeit gehöre ich dir. Wir beraten unsern Haushalt und genießen die kleinen Freuden, die wir uns mit ruhigem Gewissen gönnen dürfen. Du und ich, wir halten jetzt sehr fest zusammen.«

»So unbeschreiblich gern möchte ich auch einen Beruf haben, Mutter!« Marilis Augen blickten förmlich hungrig zu den mütterlichen auf. »Dürfte ich nicht vielleicht ganz regelmäßig an Kitty schreiben? – so wie ein Tagbuch? Was man mit Liebe und Ausdauer tut – nicht, Mutter? – das ist doch schon wie ein kleiner Beruf?«

»Gewiß, mein Herz; der Anfang dazu ist es.« Zu leid taten der Mutter die hungrigen, trübgeweinten Augen; sie hätte diese kindliche Auffassung des Wortes »Beruf« nicht belächeln können. »Soll dein Bruder denn ganz dabei zu kurz kommen, Marili?« fragte sie. – Ihr Aeltester und ihre Jüngste standen sich noch ziemlich fremd gegenüber: Karl fand Marili viel zu zimperlich und unwissend – Jünglinge lassen so etwas wie Zartheit und Geduld nicht gern gelten und zuweilen empfand die Mutter diese Anschauung ein wenig kummervoll. »Du mußt Karl auch mit in deinen schwesterlichen Beruf ziehen,« meinte sie.

»Ich will es lieber erst etwas später tun, Mutter,« gab Marili zurück. »Wenn Karl älter wird, kritisiert er nicht mehr so viel an mir herum.«

»Das gibt sich auch schon dadurch, daß du älter wirst,« sagte die Mutter ernst, »das gehört auch mit dazu, mein liebes Kind.«

Marili antwortete nicht. Sie wendete ihr Gesicht weg, und die Mutter betrachtete das kindliche Profil, dessen Linien noch ungeformt und weich waren. Der Mondschein jedoch machte sie ein wenig schärfer und entschiedener; er schuf eine Spur von Ähnlichkeit mit Kittys Profil. – Ehe die Mutter ein weiteres Wort auf die Backfischweisheit fand, drehte sich das abgekehrte Antlitz ihr wieder zu, und der alte, sanfte Ausdruck war wieder da: »Ich habe es mir doch anders überlegt, Mutter, ich will es gern mit Karl versuchen. Morgen könnte ich ihm gleich von unsern letzten Tagen mit Kitty und von der Abreise mit den übrigen erzählen, nicht? Das ist ein sehr gutes Thema; findest du nicht auch? Von Kitty will ich Karl gern drei Bogen voll schreiben. – Ach Mutter – an jeden Beruf muß man sich ja erst gewöhnen.«

Jetzt mußte die Mutter doch wider Willen lachen und sie steckte Marili damit an. Der schwere Alp war von den abschiedstraurigen Seelen gefallen. Während des ganzen Rückweges unterhielten die beiden sich so lebhaft und schmiedeten Pläne, daß es ihnen eine richtige Ueberraschung war, als sie urplötzlich wieder vor der Tür ihres Gartenstraßenhäuschens standen. Da fuhr es noch einmal, schmerzhaft wie ein Messerstich, durch Marilis Gedanken, daß ihr Leben nun für volle dreihundertfünfundsechzig Tage schwesterlos und freundinnenlos sein sollte. Allein glücklicherweise war schon bald ein halber Tag vorüber; sie hatte ihre Mutter, mit der sie alles teilen konnte, und hatte einen »Beruf«! O nein: nicht nur einen: – mehrere. Korrespondenz, Haushalt, Stopfkorb und die eigene Fortbildung.

»Wird man ohne Pension wohl wirklich erwachsen, Mutter?« fragte sie, eben vor dem Einschlafen, vom Bette aus und war wesentlich erleichtert durch die Antwort der Mutter, die noch saß und eine Kleinigkeit nähte: »Quäle dich nur nicht mit solch unfruchtbaren Gedanken, Marili. Für alle Pflanzen paßt doch nicht der gleiche Standort. Manche gehören in den Garten, manche ins freie Land und andre wieder ins Treibhaus oder an die Hausmauer. Da gedeihst du am allerbesten. Glaube du nur deiner Mutter, die dich lieb hat und dich kennt wie niemand sonst. – Gute Nacht, Marili.«

»Gute Nacht, Mutter.« – – Marili drehte sich gegen die Wand und sagte nichts mehr. Sie dachte nur noch weiter: – »Eine Pension wäre ja viel zu teuer für mich gewesen; Karls Examen ist jetzt die Hauptsache. Das muß sein. – Karl will doch später für Mutter sorgen – – –«


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