Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Überraschungen.

»Schon auf? Was soll das heißen?«

»Doktor Klenau hat's erlaubt und Mutter auch.«

»Schön, dann darf ich nichts mehr sagen.«

»Doch, Sie dürfen's wohl. Ich bin ja zu glücklich.«

»Noch immer?«

»O, heute erst recht.«

»Natürlich. Glück muß allemal erst durchsickern. Das ist eine bekannte Sache.«

»Sie sehen gar nicht vergnügt aus, Herr Doktor.«

»Bin ich auch nicht. Der hohe Chef hat mir heute, von Pontresina aus, kaltblütig meinen Sommerurlaub abgeschlagen.«

»Ach, wie schade!«

»Ja, sogar mein Mittelfinger ärgert sich über die Einpferchung bis in den kalten Herbst hinein. Sehen Sie: er hilft sich selber und hat den Handschuh gesprengt. Zu dumm! Kein Zimmermädchen kommt mehr dazu, einen Stich für mich zu tun, und die heutige Visite im Dorf bei einem Millionär und Privatkranken vom hohen Chef mußte ich doch notwendig in Glacés machen.«

Marili sagte nichts, sie errötete vor Verlegenheit, nahm den bunten Seidenzopf aus dem Handarbeitstäschchen, das neben ihr auf dem Tische unter dem Eschenbaume lag, und hielt die braunen Fäden neben des Doktors Handschuh, den er abgestreift und achtlos hingeworfen hatte. Die Farbe paßte genau, und ohne ein Wort zu sprechen, besserte sie alle kleinen Nahtschäden aus, nähte die beiden Knöpfe fester an und umsäumte die unordentlichen Knopflöcher.

Lächelnd sah er ihr zu und zog auch den andern Handschuh ab. Der war gleichfalls etwas hilfsbedürftig, und sie stichelte emsig daran, während er am Tische stand und wartete, die Uhr in der Rechten. Mit dem Glockenschlage Acht mußte er an die Elektrisiermaschine.

»Das ist doch eigentlich sträfliche Ausnützung,« meinte er, als sie ihm sein Eigentum, sauber zusammengezogen, einhändigte.

»Nein, gar nicht Ausnützung. Wozu ist man denn da? und dann – ich möchte ja immerfort meine Dankbarkeit beweisen.«

Der lose Schelm zuckte ihm aus den Augen: »Der Kollege Klenau hat einen ganzen Kasten voll abgedankter Handschuhe: dürfte ich Ihnen den auch zur Ausbesserung herunterschicken?«

Sie sah ihm mit ihren ruhigen Augen ins Gesicht, nahm die Unterlippe zwischen die Zähne, ganz in Kittys Manier, und das feine Rot von vorhin stieg abermals in ihre Wangen. Dann zog sie ihr Tulaührchen aus dem Gürtel: »Ich meinte, Sie müßten um acht Uhr hinauf zum Elektrisieren, und ich will jetzt die Mutter abrufen,« sagte sie und erhob sich von der Bank. Sie und die Mutter frühstückten bei schönem Wetter unter den Kastanien vor der großen, öden Veranda, und vom Hause her kam schon der kleine Kellnerjunge mit dem Teebrett.

»Danke vielmals für die liebenswürdige Hilfe, gnädiges Fräulein.« Er schob seine sauber ausgebesserten Handschuhe in die Rocktasche, erhob sich gleichfalls, lüftete den hellen Strohhut und ging nach der entgegengesetzten Richtung.

»Donnerhagel, das war ja eine regelrechte Abfuhr – dies sanfte Dingelchen und so kratzbürstig –« dachte er. »Also hier ist die Grenze und zwar deutlichst gezogen. Die ›junge Dame‹ grünt durch bei ihr – na, wollen's uns merken. Sie ist doch wahrhaftig das rechte Schwesterchen der ›Schwester‹. Wird ihr ähnlich – entschieden. Ein Segen, daß meine Handschuhe wieder ganz sind. Was, Hennes? solch 'n Fuder Briefe für uns?« (Er prallte in seinen Gedanken mit dem Postboten zusammen.) »Geben Sie her, Mensch, ich nehme den Segen mit hinein.«

* * *

Marili hatte auch ihre Gedanken; sie ging noch einmal die düstere Ulmenallee zwischen Gartenhaus und Laubengang auf und ab, ehe sie bei der Mutter eintrat. Weshalb war sie nur so schroff gewesen über den albernen, harmlosen Scherz von vorhin? Weshalb standen ihr die Augen voll Tränen? Weshalb hatte sie solch ein nagendes Wehgefühl im Herzen? Es war ihr, als hätte sie sich etwas verscherzt, und sie wußte nicht was. – Immer sah sie den gemütlichen, rundlichen Doktor vor sich und sagte sich: »Er ist doch so gut – so gut! Er hat so viel für dich getan und du nimmst ihm den kleinen Witz übel.« – Sie sah ihn, wie er damals bei der ersten peinlichen Untersuchung am Tisch saß, ganz stumm, nach Diktat schrieb und ihr, über die Köpfe der klopfenden und horchenden Kollegen hinweg, ein paarmal solch helle, mutmachende Blicke zuwarf. Dann wieder, wie er zum erstenmal nach der großen Krisis bei ihr eingetreten war, nicht auf den Zehen tappend, sondern mit ordentlichen, männlichen Schritten; er hatte ihr die Hände so recht fest gedrückt und von Kitty zur Mutter geschaut und von der Mutter auf sie selbst und hatte so recht herzlich gesagt: »Ich muß und muß mich ein bißchen mit Ihnen freuen.« – Wie konnte sie das nur vergessen und auch die Rosen, die er ihr mitgebracht – wie konnte sie unartig gegen solch einen Helfer und Freund sein? – Wenn Karl es ahnte – sein Corpsbruder! –

»Marili, mein Herz, komm frühstücken.« Da war die Mutter; sie strich ihr übers Gesicht: »Du glühst ja; du hast dich doch nicht überangestrengt?«

Marili schüttelte den Kopf. »Ich will doch noch nicht so früh aufstehen wie heute,« brachte sie mühsam heraus und legte das Gesicht an die mütterliche Schulter. Hätte sie nur beichten können. Aber sie konnte nicht. – Es war da tief drinnen in ihrem halb kindlichen, halb mädchenhaften Herzen ein neues Empfinden aufgegangen, das, in einer Aussprache mit ihrer Mutter zu berühren, ihr in diesem Augenblicke nicht möglich war.

Somit nahm sie sich mit aller Gewalt zusammen und ging am Arm der Mutter um das rosenblühende Rundgitter des Springbrunnens herum, unter die schattenden Kastanien zum Frühstückstischchen.

* * *

Die beiden Herren Doktoren frühstückten ebenfalls, aber im großen Saale, der morgens mit seinem knapp halbgedeckten, langen Tische, den künstlichen Palmen in Prunktöpfen und den unrasierten Kellnergesichtern ein wenig lieblicher Aufenthalt war.

»Famoses Wetter heute, Kollege,« sagte Doktor Lieven zu Doktor Klenau, der mit großer Gemütsruhe seine Portion Spiegeleier auf gestreiftem Speck nebst starkem Tee und Schrotbrot bewältigte.

»Hm – ja. – Apropos, war es heute nicht etwas zu kühl unter der Esche für Fräulein Ringhardt?«

»Ich denke, Sie hatten erlaubt?«

»Hm – ja – bedingungsweise. Sehen Sie doch ein andermal nach dem Thermometer, Kollege. Das Fräulein sprach auch zuviel und machte Handarbeit. Das gestatte ich nicht in den Vormittagstunden. Vorläufig noch Schonung nach jeder Richtung. – So – o, darf ich gleich um die Post bitten? Danke. Weiter nichts für uns?«

»Na, ich dächte, es wäre genug.«

»Muß noch ganz anders kommen. So viel freie Zeit wie bis jetzt gibt es nicht mehr lange. Ist auch viel besser für uns. – Ja, ich komme, Martin. – In fünf Minuten erwarte ich Sie oben, Kollege.«

»Auch noch eine Nase, frühmorgens um ein Viertel nach Acht; – das sind mir die liebsten Tage –« brummelte der Assistenzarzt, nachdem der Vorgesetzte, stolz wie ein Spanier, von dannen gezogen war, in seine Kaffeetasse hinein, leerte dieselbe eiligst, trank das allzuweich gekochte Ei mit einem Schluck aus der Schale hinterdrein und sprang in großen Sätzen die Hintertreppe hinan ins Elektrisierzimmer. Doktor Klenau arbeitete schon mit kundiger Hand an der Maschine; die arme Miß Cheltenham saß davor und ließ sich die bösen Gesichtsschmerzen bearbeiten, daß ihr die Funken vor den Augen stoben. Heute hielt sie still wie ein Lamm und sah dem eintretenden Assistenten wirklich ganz vergnügt entgegen. Daß » this sweet little Miß Ringhardt« auf der Insel Wight Nachkur halten sollte, interessierte sie brennend. Sie selbst war ja in Niton am Undercliff zu Hause. Darüber mußte sie bei nächster Gelegenheit mit ihr plaudern.

»Ich werde Ihrem Wunsche Rechnung tragen, Madame,« sagte Doktor Klenau in seinem tadellosen Englisch und drehte dabei an den Kurbeln und Zeigern der tickenden Maschine herum, »bitte um den Augenspiegel, Kollege.«

Der Kollege reichte das Verlangte, nahm den kleinen Elektrisierapparat und was dazu gehörte aus dem Schranke, um sich damit in die verschiedenen Leidensgemächer zu verfügen und die bettlägerigen Patienten zu bearbeiten.

»Na, ich weiß, wie er den Wünschen Rechnung trägt,« dachte er ergrimmt. Die Laune war ihm für heute böse verdorben, und das kam bei solch einer sonnigen und frischen Natur, wie die seine, höchst selten vor.

* * *

Eigentlich war es doch, in Anbetracht von Marilis nahe bevorstehender Englandsreise, ungemein rücksichtsvoll und aufmerksam von Doktor Klenau, daß er, so kurz vor Torschluß, noch die neue Tischordnung machte.

Er ordnete nämlich an, daß Fräulein Ringhardt nicht mehr, wie bis dahin, am unteren Ende der Tafel neben dem Kollegen Lieven sitze, sondern sechs Plätze höher hinauf neben Miß Cheltenham. An ihrer andern Seite erhob sich zwar nur der Säulenpfeiler, der die zwecklose Rundbogenreihe unter der Decke stützen half, dafür jedoch zog sie nun auch nichts mehr davon ab, ihr Englisch tüchtig zu üben. Von Doktor Lieven konnte sie, des Pfeilers wegen, kein Zipfelchen sehen und von der Mutter nur die Hand mit der Gabel darin. Zum Ersatz hatte sie Doktor Klenaus gradnasiges Profil und kühl beobachtendes Auge hinter dem goldgefaßten Zwicker vor sich. Rose-Claire war auch zu fern gerückt zum beliebten »Ineinanderaufgehen« und Flüstern. Höchstens wäre stumme Zeichensprache möglich gewesen. Allein selbst dazu ließ es die gute Miß Cheltenham nicht mehr kommen. Sie war sehr gesprächig und belehrend und erklärte jedem, der es anhören wollte, ihre Nervenschmerzen bis ins Tz. Das war seit Jahren ihr Steckenpferd.

Ein paar Tage schon nach der neuen Anordnung (Rose-Claire war abgereist, und in Marilis Verkehr gähnte eine bedauerliche Lücke) sagte Marili beim ärztlichen Besuche im Gartenhaus zu Doktor Klenau, vor dem sie sonst eine tödliche Scheu empfand: »Ich glaube, eine Kranke wie Miß Cheltenham könnte ich jetzt beinahe so gut pflegen wie meine Schwester, so genau hat sie mir alles beschrieben. Es interessiert mich fabelhaft, und mein Englisch gedeiht ordentlich dabei.«

»Gut denn. Gehen Sie von jetzt ab täglich eine knappe Stunde mit der Dame spazieren,« entgegnete er. »Sie haben wohl keine Einwände, gnädige Frau? Die Dame ist seiner Zeit bei den Gordon-Lennox in Schottland Erzieherin gewesen und, wie ich erfahren habe, eine ausgezeichnete.«

»Ich ordne mich natürlich Ihrer Meinung unter in diesem Falle,« sagte die Mutter, und der Doktor verneigte sich steif im Sitzen, während Marili schon den Matrosenhut vom Haken und die Handschuhe aus der Schieblade nahm: »Dürfte ich dann jetzt gleich gehen? Es ist gerade Miß Cheltenhams Stunde und sie wollte mir von der Isle of Wight erzählen, vom Undercliff und der Steinformation und dem Golfstrom.«

Der Doktor nickte gemessen seine Zustimmung: »Nur nicht zu gelehrte Klaubereien, wenn ich bitten darf, und nicht länger als dreiviertel Stunden.«

Marili hätte ihr Mütterchen gern geküßt, wie sie's am liebsten vor jedem Fünfminutenabschied tat, und in Doktor Lievens Gegenwart schon mehr als einmal getan hatte. Mit Doktor Klenau war's etwas andres. Sie machte ihm eine respektvolle Abschiedsverbeugung, warf der Mutter einen scheuen Liebesblick zu über den gelichteten Scheitel des Strengen hin und verschwand. Durchs offene Fenster sahen die beiden ihr nach, wie sie im Sonnenschein dahinging, der Schritt noch ein wenig langsam und schleppend, aber das zarte Gesicht war kein Kinderantlitz mehr.

»Sie muß anfangen sich selbständiger zu bewegen,« sagte der Arzt, als erriete er die stillen Gedanken der Mutter. »So zerbrechlich sie noch ist, sie wird schon etwas leisten, wenn man ihren Trieb zu nützen in eine vernünftige Bahn leitet. Nur kein Gefasel ins Blaue dulden, gnädige Frau, das fällt auf die Nerven. In die neumodischen Frauenbestrebungen paßt sie nicht hinein – Hand davon, aber absolut Hand davon. Dagegen wird ihr die altmodische Rolle der liebenswürdigen Helferin im Rahmen des Hausglücks desto besser passen. Wenn sie die fixe Idee hätte, es Schwester Katharine nachtun zu wollen, sollte mir das recht leid tun. Dazu reicht die Kraft nicht.«

»Und darauf baut das Kind seine ganzen Zukunftspläne.«

Der Arzt zuckte die Achseln. »Hilft mir nichts – ich rate ab. Lassen Sie Ihr Töchterchen sich erst einmal in der Welt umsehen. Die kleine Reise ist vortrefflich. Es gärt so mancherlei in solch jungen Wesen herum, und das hält die Genesung auf. Der Verkehr mit den Patienten hier und uns abgearbeiteten Medizinern hat seine Schattenseiten. Also Schluß damit gemacht, gnädige Frau.«

»Wann denken Sie, daß wir reisen sollen?«

»Spätestens Ende nächster Woche. Auf dem Rückwege sprechen Sie dann noch einen halben Tag hier vor, das wird uns von großem Interesse sein. Unterhäuser ist bis dahin auch zurück. – Das was ich mir erlaubte Ihnen klarzulegen in Hinsicht auf Fräulein Tochters Zukunft, ist natürlich Privatmeinung.«

»Aber sehr dankenswert und zu beherzigen, Herr Doktor. Gebe Gott, daß ich's durchführen kann!«

Er sah sie mit einem merkwürdig guten und schönen Blicke an. »Wenn ich an meine eigene Jugend zurückdenke, gnädige Frau, so bin ich überzeugt, daß Mütter die größte Macht auf Erden haben. – So, nun habe ich mich über Gebühr verplaudert. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor.«

Die Mutter blieb sehr nachdenklich zurück, als der ärztliche Besucher hinausgegangen. Sein Menschengesicht gefiel ihr weit besser als das Berufsgesicht, und die Winke, die er ihr gegeben hatte, waren sehr praktisch. Sie sagte sich jetzt ernst, daß sie ihren Liebling wohl zu arg in Watte gewickelt und dazu mit ihrer selbständigen Natur, die es seit Jahren gewohnt war, den Kindern den Vater zu ersetzen, die Selbständigkeit ihrer Jüngsten völlig unterdrückt habe. Das stille Schattenblümchen mußte wirklich in die lichte Freiheit des Lebens hinaus, empor vom Boden, fort aus dem Winkel, den kein Windhauch berührte.

Wahrlich, sie durfte Gott dankbar sein, innig, von Herzen. Auf Monate hatte sie sich gefaßt gemacht, und nun konnte sie ihr genesendes Kind schon nach acht Wochen mit sich hinwegnehmen, zu den lieben, alten Freundinnen, in ein Heim, von dem sie freilich nur ahnte, daß es wunderschön sein müsse. Die Arbeit war ihr über Erwarten geglückt in den vielen, stillen Stunden der Krankenpflege; beruhigt durfte sie den Sommer genießen und dem Winter entgegensehen. – Kitty schrieb glücklich und berufsfreudig, und Karl – das war eine ganz besondere Seligkeit für ihr Mutterherz – hatte, nachdem sich Göttingen zerschlagen, in der Heimatstadt eine sichere Stellung am Archiv erhalten. Nun bewachte er das verödete Gartenstraßenhäuschen, schrieb treulich und arbeitete gemütlich, bis Mutter und Schwester zum Herbst wieder einzögen.

Unter allen diesen Gedanken fing sie an, ihre fahrende Habe ein wenig für die Reise zu ordnen und nachzusehen. Durchs offene Fenster nickte das Gezweig zu ihr herein, und die Vögel zwitscherten in Nähe und Ferne. Der hübsche Garten lag augenblicklich totenstill, wie ausgestorben, es war die Zeit der Bäder und Douchen und der Spaziergänge vor dem Abendessen.

Marili blieb lange aus; da kam ja schon der Postbote, heute gab's den üblichen Sonnabendbrief von Aenne für das Kind.

»Gar nichts heute, Hennes?«

Hennes zuckte die Achseln, lächelte mitleidig und strebte weiter zum Haupthause. Die Madame Ringhardt und das kleine Fräulein waren die briefhungrigsten Leute in der ganzen Anstalt.

Hier war Miß Cheltenham zurück und ganz allein; was hieß denn das?

» Where 's the child?«

Miß Cheltenham setzte gerade zu einer längeren Rede in ihrem vornehm gewählten Gouvernanten-Englisch an, da flog die lebendige Antwort schon um die Ecke. Ein Kleeblatt: Marili in der Mitte, umschlungen und geschleift von Aenne und Carry; ein Gejubel war's von der andern Welt. Hinterdrein im Verdeckwägelchen, zwischen Taschen und Hutkoffern, Tante Klärchen, furchtbar elegant in Steingrau und weißem Basthut mit Goldlacktuff. Sie lachte auch und nickte der »Cousine um die Ecke« zu. Wunderbar geglückt die große Ueberraschung.

»Liebe Klara!«

»Beste Henriette!«

»Kinder – Herzensseelen, wie geht das zu?«

»O Mutter – ist es nicht himmlisch?«

»Direkt von Genf kommen wir, Tante Jettchen –«

»Nein, aber ich bitte euch! Willkommen, willkommen in Freyenthal, ihr Lieben!«

»Laßt mich nur erst aussteigen, beste Henriette. Da nimm den Hutkoffer, Aenne: bitte, bitte, Kellner – die Tasse behalte ich bei mir – Carry, hier ist die Plaidrolle.«

»Und ich, Tante Klärchen? Gib doch mir auch etwas!«

»Ja Kind, darfst du dich denn schon wieder anstrengen? Da hast du die Blumen. Behalte sie gleich. Wir haben seit Genf damit herumgehökert, damit du sie ganz frisch hättest. So –! Was bekommen Sie, Kutscher? – Drei Mark, was? Ist das die Taxe, Kellner?«

Der junge Mann benahm sich sehr taktvoll, und ermahnte den Rosselenker strafenden Tones zu bedenken, daß zwei Mark fünfzig für drei Damen und sieben Gepäckstücke vom Bahnhof bis zum Hotel Beyer neben der »Anstalt« schon eine reichliche Forderung sei. Sich herumzuzanken, das hielt Tante Klara unter ihrer Würde; so zahlte sie ihre zwei Mark fünfzig, und der Kutscher bekam kein Trinkgeld.

»Zimmer haben wir in aller Heimlichkeit bestellt, bestes Jettchen, die Kinder wollten durchaus –«

»Ja, durchaus wollten wir, Tantchen! Unser süßes krankes Hühnchen! Und wie wonnig ist es hier – eure Anstalt so fein nahe!«

»Marili – schwöre mir: sind auch wahrhaftig keine kranken Leute bei euch, vor denen man bange werden kann? Schwöre mir –!«

» But, Aenne dear – was sind das für verrückte Einfälle – stupid!«

»Siehst du, siehst du, Marili? Carry ist auch nicht patriotisch!«

»So? Du, das verbitte ich mir. Das kommt nur von dem Engländer vorhin im Coupé. – Kein Wort Französisch; nur per Order de Mufti und zur Belehrung. Aenne hat schon die Hälfte wieder verlernt, Marili.«

» C'est toute même saucisson!«

»Kinder! kommt erst einmal herauf und macht euch ordentlich!« rief Tante Klärchen aus dem Fenster, aber das Kleeblatt war schon außer Hörweite. Blumen in Händen, so eng nebeneinander wie nur immer möglich, verschwanden sie im Gartenhause, und die Patienten, die sich allmählich wieder im Freien versammelten bis zum lauten Gongzeichen fürs Abendessen, amüsierten sich über das fortgesetzte Jubeln und Lachen der Mädchenstimmen, das zum offenen Fenster zu ihnen herausklang.

»Süße – ich muß dich sofort etwas Wichtiges fragen – Carry weiß es auch – ich schwöre dir: niemand sonst,« sagte Aenne, während sie mit vereinten Kräften den dicken Genfer Rosenstrauß in ein überzähliges Waschtischglas zwängte – »wie ist es mit ihm – ›L‹ – weißt du. – Du mußt ihn uns heute zeigen, bitte, tu es!«

»O Aenne – laß doch!« – Marili wurde so feuerrot, wie es ihrem feinen Teint irgend möglich war. »Es ist doch nichts – er ist eben nur der Doktor – und wie soll ich ihn euch überhaupt zeigen?«

»Aenne, was hast du für Ideen!« Carry zupfte sich zwei dunkelrote Rosen aus dem Bouquet und steckte sie sich vorn in den Ledergürtel. »So, Kinder, jetzt waschen wir uns die Hände und striegeln uns die Mähnen wegen unsrer dearest aunty Clairie. Hast du nur Mandelseife, Marili? nichts Holdriechendes? Der Doktor ist wohl dagegen? – Na, Aenne, zu sehen bekommst du ihn; wir bleiben ja bis morgen abend – (hu! Nachtzug – schrecklich!)«

Da klopfte es, und ehe Carry das Handtuch über den Ständer schleudern und sich durch die versträubten Haare fahren konnte, stand Doktor Lieven auch schon im Zimmer.

Ganz verblüfft machte ihn der gemeinsame Schreckensschrei der drei Grazien; und er wich auf die Türschwelle zurück: »Bitte sehr um Entschuldigung –«

»O verzeihen Sie, Herr Doktor – es ist mein Besuch.« –

»Das seh' ich.«

»Wir haben um Entschuldigung zu bitten.« Carry war allemal am flinksten mit dem Munde fertig. »Darf ich uns gleich vorstellen? Aenne Hellwig und Carry Hellwig –«

»Marilis beste Freundinnen –« (Aenne hatte faktisch Tränen in den Augen vor unmenschlicher Verlegenheit). »Sollen – müssen wir auch hinausgehen?«

»O durchaus nicht; im Gegenteil, sehr angenehm. Sie wissen übrigens doch noch gar nicht, wer ich bin: Doktor Lieven. Ich wollte nur mal en passant vorfragen, wie es dem gnädigen Fräuleinchen geht.«

(Es war ihm ganz belustigend, aber vollkommen unverständlich, daß die drei Grazien, oder besser die zwei fremden unter ihnen, ihn anstarrten, wie das größte Meerwunder.)

Schließlich zwinkerte er schelmisch mit den Augen, um den ungemütlichen Bann zu brechen und zeigte über Marilis weißgedeckte Lagerstätte an die Wand: »Wer von Ihnen ist denn nun das ›Jawort‹, meine verehrten jungen Damen?«

* * *

»Ich hätte wer weiß was tun können vor Angst, so fürchterlich war das!« stieß Aenne hervor, als der lose Schalk nach drei ferneren, peinlichen Minuten wieder entschwunden war, und Carry platzte heraus: »Kinder, ich bin bitter enttäuscht – er ist ja ein dicker Herr und nur einen Fingerbreit größer als ich –«

»Sag doch so etwas nicht – o Carry, wie unzart!« Aennes gutes Herz litt Qualen für Marili. »Kann er denn was dafür? Ich hatte ihn mir auch anders gedacht, groß und schlank –«

»Und bildschön. Natürlich – er kann der allernettste Moppel von der Welt sein, aber ein Moppel ist er.«

»Carry – Car–ry!«

»Ja, Aenne.«

Merkwürdigerweise lachte Marili ganz vergnügt.

»Gräm du dich nicht, Aenne; wenn ihr ihn erst richtig kennt, denkt ihr gar nicht mehr an – an –«

»An die Moppeligkeit! Ich finde, du bist das dankbarste Geschöpf von der Welt.«

»O, so dankbar – euch! Dafür, daß ihr gekommen seid, ihr zwei Geliebten. Ich muß euch jetzt küssen so viel ich kann – kommt – alle beide!«

Der »dicke« Doktor, der in Wirklichkeit mehr breit und kräftig als dick war, wurde flugs vergessen und das offene Fenster desgleichen. Tante Klärchen und die Mutter waren so gerührt von der Zärtlichkeitsgruppe da drinnen im Gartenhäuschen, daß es, ob der Flucht, weder Schelte noch Tadelblicke setzte. Der Gong wurde nämlich mit Macht unter dem Anstaltsportal geschlagen und im Hotel bimmelte es, als würde irgend eine verlorene Kostbarkeit ausgeklingelt.

»Heute seid ihr meine Gäste, selbstredend, beste Henriette,« sagte Tante Klärchen, und so zogen sie im Reigen dem hellen Gebimmel nach.

»Schade!« flüsterte Carry und kniff Marili nachdrücklich in den Arm. »Bist du nun rasend unglücklich, Hühnchen?«

Glücklicherweise drehte sich die Mutter im nämlichen Augenblick um: »Morgen mittag müssen sie aber bei uns am Tisch zu Gast sein, nicht, Marili? Morgen gibt's Eis zum Dessert, und das ist vorzüglich, Klärchen.«


 << zurück weiter >>