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Geständnisse.

Sie stammelte und weinte durcheinander; zu Anfang wußte der brüderliche Tröster gar nicht, wo sie hinaus wollte.

»Jetzt fühl' ich's erst – fühle mein Herz – da ist es! – Du hast recht, ich – – ich verdiene es ja nicht anders – –! Warum hast du es nicht viel früher gesagt –? früher – eh' ich – –!«

»Um Gottes willen, geliebtes Marili, so fasse dich doch nur erst! Sei ruhig – weine nicht, und dann sprich dich aus. – Nein, noch nicht; erst wirst du ganz ruhig.«

Sie gehorchte, saß an ihn gedrückt und schluchzte sich satt. Solange er den Schaukelstuhl auf und nieder wiegte, schwieg sie wie unter einem Banne; dann, als sie fühlte, daß er sich gerade zu recken versuchte, ohne sie zu stören, hob sie den Kopf von seiner Brust in die Höhe, setzte sich aufrecht und strich sich das Haar aus der Stirn.

»Bitte, hör' mich an,« sagte sie mit ihrer leisen Stimme, »ich will ganz gefaßt sein – nicht mehr weinen, das versprech' ich dir. Siehst du, es ist mir so schrecklich, daß ich solch ein Halbheitsgeschöpf bin – ganz gewiß, das ist der rechte Ausdruck dafür – nicht hübsch, nicht häßlich, nicht gesund, nicht krank, nicht klug, nicht dumm. So ein Mittelding, und das ist meine Qual. Was ich anfange, mißlingt! Mutter hat nur immer Liebe und Nachsicht für mich und niemals Nutzen von mir. Immer Aufmunterung und kein Lob. Wofür auch – ach, wofür auch?«

Er hielt ihre kleine Hand sehr fest in seiner großen und strich sich mit der andern nachdenklich das kecke Schnurrbärtchen. Die Beichtvaterrolle hatte er noch nie im Leben gespielt.

»Weißt du,« begann er, zog die Brauen zusammen und blickte ihr durch den Kneifer durchdringend in die Augen, – »weißt du: ich glaube, du stellst für deine jungen siebzehn Jahre zu viel Ansprüche an dich –«

»Aber das sollen wir doch, Karl. Wie können wir sonst weiterkommen und einen Beruf erfüllen, so wie –?«

»– so wie Kitty, willst du sagen. – Nein, vergleiche du nicht, das ist Unsinn. Kitty ist robust und energisch, und du? – Na, – obgleich ich nicht glaube, daß du so minderwertig von Gesundheit bist, wie du dir einbildest. Feine Knochen hast du und keinen Wasserkopf, aber muß man denn gleich Simson und Goliath sein, um irgend etwas Anständiges im Leben zu leisten, Mädchen? Wir zwei wollen uns mal gegenseitig Beichte hören: glaubst du zum Beispiel, daß mich dies stramme Arbeiten aus den alten Schmökern und Kirchenvätern nicht angreift? Mutter darf das nicht ahnen, Mutter sieht selbst nicht brillant aus und versteckt ihre Nachtarbeiten vor uns, so wie ich meine vor ihr. Du bist die kleine Mittelsperson und mußt dich fix halten; versprich mir das heilig, aber wenn du mir so ab und an eine kleine Extrastärkung hier herein schmuggeln könntest, eine Tasse schwarzen Kaffee oder Tee, oder ein resolutes Butterbrot und Bier für meine nächtlichen Taten, so hielte ich das für einen sehr, sehr würdigen und schwesterlichen Beruf für dich. Ebenso, wenn du dir lieber zum Pauken und Trommeln die Stunden aussuchtest, in denen ich im Archiv und in der Stadtbibliothek sitzen und studieren muß. Siehst du, ich bin doch ein bißchen nervös. Später, nach der Doktorarbeit will ich dir gern dann und wann auf deinen Tasten die Flötentöne beibringen.«

»O Karl, ich danke dir so grenzenlos. Du bist mein lieber, einziger Bruder, und wenn du mich auch nur halb so lieb haben könntest wie Kitty –«

»Halb, halb, halb! Hör auf, du kleiner Narr, mit deiner grenzenlosen Bescheidenheit!« Er lachte, stand auf und behielt sie doch noch ein Weilchen bei sich, beide Arme um ihren zarten Wuchs gelegt. »Also, wenn Kitty einen ganzen Meter Liebe bekommt, willst du einen halben? Wenn du mir jetzt den stärksten Kaffee und die fettesten Butterbrote bringst, bist du die Beste. Also, nun denk dich ein bißchen in den schönen neuen Beruf hinein, du darfst hier im Schaukelstuhl sitzen bleiben und nebenbei sorgen, daß mein Feuer nicht ausgeht – und laß mich jetzt spazierenrennen.«

»Einmal muß ich dir erst noch danken, liebster Bruder –« sie umfaßte seinen Nacken – »darf ich dir nicht einen Kuß geben?«

»Ja, du darfst, lächerliches Miezchen.« Er hielt ihr die Wange hin, aber sie zog sein Gesicht herum und legte ihre warmen Lippen mit schüchternem Druck auf seinen Mund. »Karl – ich hätte dich so gern noch etwas gefragt –«

»Morgen, Kind – sei nicht böse, ich muß nach der Uhr leben und Luft schnappen. – Adieu, und nicht mehr Trübsal blasen, hörst du?«

Im Schaukelstuhl sitzend nickte sie ihm nach; dann lehnte sie sich zurück und sah in die rote Kohlenglut hinter dem Ofenroste, und wiegte sich mit dem Stuhle auf und ab, während sie ihren Gedanken Audienz gab.

Eine schwere Last war von ihrem Herzen abgefallen, und je länger und liebevoller sie sich in den neuen Schwesternberuf hineindachte, um so glücklicher war sie darüber, daß sie Karl nicht mehr hatte fragen dürfen, was sie gewollt: »wie kommt es wohl, daß mein Herz so stark schlägt, daß ich oft so todesmatt bin und mich nur mit Mühe auf den Füßen halte?«

Hätte sie ihm davon gesprochen, unfehlbar würde er ihr den lieben Beruf wieder fortgenommen haben und dann? – Der alte, unbefriedigte Zustand! Nein, besser kein Wort sagen und sich noch immer mehr zusammennehmen. Wenn dann der erste kleine Beruf glückte, so fand sich gewiß auch ein größerer mit der Zeit, und sie verdiente sich ebenfalls »den ganzen Meter Liebe« von Bruder und Mutter.

O Gott, die Mutter! Mutterliebe geht nicht nach Maß und Gewicht. Das war doch eine selige Beruhigung.

Sie faltete die Hände und lächelte im roten Dämmerschein des Ofenfeuers vor sich hin. – Es zog etwas Warmes in ihr Herz, ein bescheidenes, echtes Glücksgefühl, das erste seit den Kindertagen. – Ja, für beide wollte sie sorgen, für Mutter und Bruder; sie hatte schon ihre kleinen Pläne im Kopf und gleich, ehe Tante Klärchen fort und die Mutter wieder allein war, mußte sie geschwind einen heimlichen Ausgang machen, hinüber zu Herrn Lampe, dem Kram- und Wurstwarenhändler.

Sehr langsam ging sie die fünfzig Schritte und überschlug unterwegs ihren Taschengeldrest. Ein Paar Handschuh brauchte sie wohl noch und irgend eine nette, billige Wollbluse zum Frühling aus einem der zahlreichen Ausverkäufe, und ein Paar Stiefel mußte sie besohlen lassen. – O, das war ja gar nicht viel! Im Gehen zählte sie aus dem Portemonnaie in ihre Hand, was an Ueberschuß da war. – Beinahe fünf Mark, herrlich; es ging, dafür konnte sie viel kaufen.

Ordentlich großartig erschien sie sich mit ihren Einkäufen bei Herrn Lampes lächelndem Ladenhelfer; eine schöne, dicke Cervelatwurst, ein halbes Pfund gebrannten Kaffee – beste Sorte – und dann noch das Fläschchen Portwein, auf den Herrn Lampes Jüngling heilige Eide schwor, und das Dutzend Eier, etwas winzig, aber so frisch gelegt, wie die braven, jungen Hühnchen es nur irgend vermochten. Auch darauf schwur der Helfer, und Herr Lampe kam zur Bekräftigung höchsteigen aus dem kleinen Comptoir neben dem Laden.

Marili war selig und wichtig zugleich und zog Minna, nach reiflicher Erwägung, ins Vertrauen. Die kleinen Vorräte konnten vortrefflich in der luftigen Bratröhre des alten Kochherdes unterkommen, der jetzt mit Linoleum bedeckt stand und als eine Art Anrichte verwendet wurde, seit der Gasherd, eine hochmoderne Errungenschaft, in Benutzung war.

»Tu' ich auch Mutter gegenüber unrecht mit dem Geheimnis?« fragte sich das übergewissenhafte Kind wohl zwanzigmal an diesem Abende, während sie der Mutter, die sehr müde in ihrer Sofaecke saß und häkelte, Pierre Lotis poetischen » Roman d'un enfant« vortrug. Sie machte ungewöhnlich viel Fehler beim Lesen, so daß die Mutter ihr schließlich das Buch aus der Hand nahm und selbst ein Kapitel las; ein wunderschönes Kapitel war's aus dem stillen und sinnigen Leben eines frühreifen, kleinen Knaben, dem der Garten eine Welt war, von flüsternden Blättern und warmer Sonne, gaukelnden Schmetterlingen und summenden Netzflüglern belebt. Die Welt jenes kleinen Knaben aus der alten Hugenottenfamilie hatte etwas so entzückend Heimisches und Heimliches zugleich, daß der Lauschenden dabei, durch einen wunderlichen Gedankensprung, das Bibelwort einfiel, das auch von heimlichem Tun und stillem, inneren Glück redete: »Laß deine Linke nicht wissen, was die Rechte tut.«

Nein, nun fühlte sie sich völlig beruhigt: ihr Geheimnis war gewiß kein Unrecht, über das sie sich hätte Gewissensskrupel zu machen brauchen.

Die Mutter, wenn sie oft ganz in ihren engbeschriebenen Blättern begraben saß, wunderte und freute sich freilich darüber, daß ihr kleines Hausmütterchen so feinfühlig und verständnisvoll wurde und immer gerade bei den besonders anstrengenden Kapiteln mit einem frischgekochten Ei und ein paar belegten Brötchen zum Frühstück hereinkam. Ehe sie sich dann mit Worten freuen und »danke dir, Liebchen« oder so ähnlich sagen konnte, war Marili schon wieder zur Tür hinausgeschlüpft und das chinesische Teebrettchen stand so recht einladend am Ellbogen der Schreibenden. – Dann frühstückte sie förmlich mit Wonne und fühlte, daß sie's im Grunde recht nötig hatte. Nach dem Frühstück mußte sie sich dann wieder in irgend einen interessanten Baustil oder ein Trachtenbild aus der Empirezeit für das neue Buch vertiefen, und natürlich: dabei versank der Genuß des guten Frühstücks meistens vollständig in Vergessenheit.

Manchmal kam aber doch bei Tisch eine kleine Frage: »Marili, Kind, warum verziehst du mich mit Eiern und Wurstbrötchen? Ist das erlaubt?« Und wenn das »Kind« darauf so allerliebst errötete und antwortete: »Die Eier sind jetzt schon billig, Mutter, und es ist ja nur gewöhnliche Bauernwurst und tut dir so gut –« dann nickte sie freundlich: »Vergiß dich aber selber nicht, lieber Schatz. Du siehst mir in letzter Zeit gar nicht zu Dank aus. Es ist mir sehr ungewohnt, daß du nicht mehr bei mir schläfst. Wie ist es denn eigentlich damit – mit dem Schlaf, Kind?«

»Gut, Mutter, bitte, quäle dich um Himmels willen nicht meinethalben.«

Und Marili pflegte sich bei solchen Gewissensfragen einen ganzen Berg gelbe Rüben und Hammelfleisch oder Leber und Linsen, oder was sonst der Mittagstisch trug, auf ihren Teller zu laden, damit die Mutter nur keine Fragen weiter täte und keinen Argwohn schöpfte. Sie hütete sich auch wohlweislich, Karl bei solchen Fragen und Antworten mit den Blicken zu streifen und war nur froh, daß er ganz unbefangen blieb und nichts verriet.

Ihn berührte es nicht im geringsten unnatürlich, daß sein Schwesterchen so treulich und verschwiegen für ihn sorgte. Gar zu wenig Muße hatte er, um von seinen alten Folianten mit den Dokumenten aus der Geschichte der Hansa aufzublicken oder verwundert nach der leicht tickenden Schwarzwälderuhr umzuschauen, wenn die schmale Mädchengestalt unhörbar durch seine sorgsam eingeölte Tür zu ihm hereinglitt, auf den Zehenspitzen, trotz der flanellenen Badepantoffeln anstatt der ledernen Morgenschuhe. Er hob kaum einmal die Augen vom Papier, wenn er studierte, und ließ die Feder ohne Unterbrechung weiterkritzeln, wenn er Auszüge machte. Sie wartete dann ein paar Augenblicke hinter seinem Stuhle, und machte er immer noch nicht Miene, sich zu stärken, so deckte sie die Untertasse über den dampfenden, schwarzen Kaffee oder den Glasuntersatz über den Portwein im Gläschen und drückte, als müsse sie sich selbst ihre kleine Belohnung nehmen, ihre blasse Wange zärtlich gegen das kurze Haar seines gesenkten Kopfes.

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Karl erhob kaum die Augen, wenn Marili fast unhörbar ins Zimmer glitt.

Zuweilen sah er bei der behutsamen Berührung doch in die Höhe, reckte sich mit Macht und dehnte die Arme über dem Kopfe in die blaudurchräucherte Luft der warmen, stillen Stube: »A – h! Der Kopf wird einem dumm – das geht wie ein Mühlrad! Wie spät ist's denn! Was? Halb Zwei! Du mußt ja zu Bett, Mädchen – das geht und geht nicht – wahrhaftig: gib den sauren Beruf auf, es ist eine Schande von mir.«

»Nein, nein. Laß mich doch, es macht mich ja so glücklich, du glaubst nicht, wie ich zufrieden bin.«

»Nett ist's auch. Da nimm einen Schluck und iß ein Häppchen, und dann flink in die Ba–ba.«

»Liebster Bruder, lieber Junge! Ich möchte nur noch ein kleines bißchen im Schaukelstuhl sitzen. – Das ist zu gemütlich. Störe ich dich?«

Gewöhnlich war er schon wieder bei der Arbeit, schüttelte nur mechanisch den Kopf und die Feder flog; den Zigarrendampf paffte er in Wolken empor. Wenn die Chroniken und Akten aber besonders große Anforderungen ans Begriffsvermögen stellten, qualmte die lange Studentenpfeife und Marili hielt manchmal den Atem an, so krampfhaft, daß ihr die Tränen kamen, um nur nicht husten zu müssen und die Mutter zu wecken, die zwei Türen weiter fest schlief nach ihrem anstrengenden Tage.

So blieb sie, von eigener, lähmender Müdigkeit überwältigt und doch schlaflos, oft noch fast eine Stunde lang ohne Regung im Schaukelstuhl sitzen; ihre Gedanken wanderten und schlichen träge im prosaischen Kreise. Sie freute sich, daß die Mutter ihr seit zwei Monaten das Haushaltungsbuch anvertraut hatte und die tägliche Abrechnung; daß sie nicht mehr von der notwendigen Frühlingsbluse sprach und dies Jahr die ganze Schusterrechnung bezahlt hatte, nach einem Blick in des Töchterchens kleine Kasse. »Es geht in einem hin und du bist kein Krösus,« hatte sie freundlich gemeint und sogar noch ein Dreimarkstück in den netten, blauen Drahtkorb gelegt, der Marilis Schätze enthielt.

Das war im Januar gewesen, ein paar Tage nach den ersten Einkäufen bei Herrn Lange, und jetzt ging der März schon zu Ende. In drei Wochen dachte Karl seine Dissertation einzuschicken nach Göttingen an die Prüfungskommission, und die Mutter hatte gestern ihr vorletztes Kapitel in Angriff genommen. – Dann sollten allgemeine Ferien gemacht werden – vielleicht gar irgend eine Frühlingsfahrt an den Rhein oder nach Thüringen, wenn Mutters Herren Verleger es recht gut machten. O, Mutter und Tochter bauten die kühnsten Luftschlösser, und erst heute abend hatte die Mutter ihr Kind prüfend und besorgt angesehen und kopfschüttelnd gesagt: »Mein Marili, was heißt das nur, daß du mir so entsetzlich abgespannt aussiehst, als tätest du die Nachtarbeit und nicht Karl und ich? Herzensliebes Kind, wo steckt dir's? Ich mache mir Vorwürfe, und ich wollte, unser guter Doktor Willmann wäre nur erst wieder da aus Sizilien. Morgen geh' ich mit dir zu seinem Stellvertreter, ganz sicher, und jetzt sollst du ein Glas Wein trinken und gleich schlafen gehen.«

Marili hatte sich gegen den Wein gewehrt und war glücklich davon abgekommen. In ihr war's ohnedies schon wie ein Vulkan so unruhig vor Herzklopfen und verhaltenen Angst- und Fiebergefühlen. Die Mutter war dann noch mit ihr hinaufgegangen, hatte ihr ins Bett geholfen und eine lange Weile neben ihr gesessen, Hand in Hand mit ihr, um erst hinunterzugehen und weiterzuschaffen, wenn ihr Sorgenkind schlief. Punkt Eins aber fuhr das Sorgenkind wieder empor mit einer sonderbaren eisigen Empfindung im Kopfe und einem Schwanken in den Knieen, nahm ganz mechanisch die Portweinflasche und das kleine Glas aus dem Wandschranke, rechts vom Bette, schenkte ein, tat ein paar Salzcakes aus dem Glasdöschen dazu auf den bereitstehenden Teller, warf das Morgenkleid über und stahl sich, wie gewöhnlich, mit der kleinen Erquickung die Treppe hinunter in des Bruders Arbeitszimmer.

Nun saß sie wieder im Schaukelstuhl, ganz nahe am rot glimmenden Ofenfeuer, indes er über dem uralten, verschnörkelten Dokumente für den Schlußabsatz seiner Doktordissertation brütete und die krausen, lateinischen Phrasen vor sich hin murmelte.

In ihr summte und sang es auch, irgend eine unheimliche Gespensterstimme, und es war ihr dabei, als rauschten große Wellen in ihr auf, gegen ihre Brust, um ihr Herz, daß es hin und her gestoßen wurde. Bis in ihre Ohren und ihre Stirn hinauf rauschte und sauste es – sie wollte in die Höhe springen, und ihr Körper war von Blei; – sie konnte sich nicht bewegen, nicht helfen. –

»Karl! Trink doch – Karl – Karl!«

Er fuhr im Stuhle herum, bei dem lauten, sonderbar klingenden Rufe. Das war doch nicht Marilis Stimme? – Mein Gott, was geschah?

Sein Ellbogen stieß das Gläschen um; der Wein lief über seinen frischbeschriebenen Bogen hin und tropfte zur Erde; er achtete gar nicht darauf. Im Nu war er am Schaukelstuhl und riß die schmächtige, kinderhafte Figur in seine Arme.

»Marili! Ich bin bei dir, liebes – armes –!«

Er sprach seinen Satz nicht zu Ende und sie antwortete ihm nicht mehr. In seinen Armen sank sie zusammen, ihre beiden, eiskalten Hände gegen die Brust pressend.

Entsetzt ließ er sie in den Stuhl zurückgleiten, rief sie an, rieb sie, leuchtete ihr ins Gesicht. Nur einen Gedanken hatte er ganz klar in diesen Sekunden voll Schrecken: sie lebte noch – es war nur eine tiefe Ohnmacht, und er dankte dem Schöpfer, daß er kein kopfloser Junge war, sondern ein Mann, der auf Universitäten doch gar manchen Blick in die Medizin hatte werfen können.

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Als die Mutter, notdürftig angekleidet und selbst kaum bei sich vor jäher Seelenangst, herzueilte, lag Marili schon wieder bei Bewußtsein auf des Bruders bequemem Ruhebette und versuchte mit aller Kraft ihrer kindlichen Liebe der Mutter entgegenzuflüstern: »Es ist gar nichts – liebe Mutter – sei nicht böse –«

Karl war zum Arzte gegangen; das Haus wurde wach, fünf Stunden vor seiner Zeit, und als dann der schöne Frühlingsmorgen mit sonnigen Blicken in der Mutter Schlafkämmerchen schauen wollte, dessen Balkontür er sonst immer offen fand, da konnten seine strahlenden Augen für diesmal nicht durch das ganz herabgezogene Rouleau dringen.

Aus dem Schlafkämmerchen war ein sehr stilles Krankenstübchen geworden.

Die Mutter saß an Marilis Bett, ließ kaum ein Auge von dem stillen, weißen Gesichte und sagte sich zwischen all ihren schweren Gedanken zuweilen zum Troste vor: »Nur noch zwei Arbeitsnächte, anderthalb Kapitel, und das große Werk ist getan. Dann wird die Zukunft doch ein klein wenig klarer vor uns liegen, und für das liebe Kind soll alles und alles getan werden.« Mitten in die tröstlichen Gedanken hinein schnürte ihr dann wohl der Selbstvorwurf das Herz zusammen: »Ueber der Arbeit hast du die Blicke nicht aufmerksam für dein armes, rührendes Kind offen gehalten.« – Ach ja, das rührende Marili; Karl hatte ihr in fliegenden Worten von all der Guttat erzählt und hatte sich dabei auch selber angeklagt. So fühlten sich die beiden, Mutter und Sohn, als die Schuldner ihrer kleinen Kranken. Was es eigentlich mit ihr war und werden würde, darüber hatte sich Doktor Willmanns Stellvertreter noch mit keinem Worte ausgesprochen, sondern vorläufig nur eine beruhigende Medizin und größte Schonung und Stille verordnet. Sie sollte schlafen, so viel sie konnte, und gegen Abend würde er natürlich wiederkommen.

Die Mutter trug sich, ganz ohne Geräusch, das Setztischchen vor ihren Stuhl, beugte sich, des Halbdunkels wegen, tief über ihr Manuskriptblatt, und richtete ihr Denken mit allem Willen auf die Arbeit, während Minna, auf Strümpfen tappend, Karls Sachen aus seinem Schlafzimmer hinauf in Marilis Stübchen unters Dach räumte.

Hier neben ihrem Sorgenkinde wollte jetzt die Mutter wachen oder auch schlafen, wenn es Gott gefiele, daß sie ohne Zittern schlafen dürfte.


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