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Die Bestie.

Noch niemals sah ich sie in geschlossenem Raum so undressiert wie heute; und ich bin ihr doch schon an vielen Orten und zu außergewöhnlichen Zeiten begegnet, ich habe sie oft genug in flagranti ertappt, wie sie sich schnaubend und schäumend auf ihr Opfer stürzt, wie sie es zwischen den Kiefern zerdrückt und mit sich schleppt, und ich habe auch schon zugesehen, wie sie ihren Raub schließlich irgendwo im Dunkeln zufrieden verzehrt.

Aber wenn der Haß in mir emporstieg und ich mich auf die wilde Bestie werfen wollte, um sie zu vernichten, immer dann fühlte ich, daß meine Kraft nur hinreicht, sie aufzureizen, nicht aber, sie zu besiegen. Deshalb bemühe ich mich zu tun, was mir die Vernunft sagt: die Bestie weder beim Fraß, noch in ihrer Siesta zu stören; denn sie ist unbesiegbar. Und wenn man glaubt, sie gezähmt zu haben, dann ist sie am gefährlichsten, weil man sich vor ihr nicht mehr schützt.

Heute sah ich sie, die scheinbar gezähmte, rückfällig, in herrlicher Wildheit; nur durch einen Zufall nicht in Europa, sondern in Südamerika; in Buenos Aires.

Ich wohnte hier nämlich zum erstenmal im Leben einem öffentlichen Boxkampf bei.

Vorher hatte ich nur ein einziges Mal richtig, nach allen Regeln, boxen gesehen; es war zu Montreal in Kanada. Ein Irländer, dessen Gast ich war, ließ vor dem Diner seine beiden prächtigen Jungens von zwölf und vierzehn Jahren antreten und führte mir ein sportgerechtes Match vor. Seither bin ich fest davon überzeugt, daß kaum ein anderes Training Körper und Willen derartig zu stählen imstande ist.

Aber ein Sport, berufsmäßig geübt, wird zum Handwerk; und in den Zirkus verpflanzt, erfordert es Zutaten, um Sensation zu werden. Hier: der Kampf zwischen ungleichartigen Boxern, damit einer knock-out geschlagen werden kann; und nicht weniger verlockend: die Gegenüberstellung von Angehörigen verschiedener Rassen und Völker als »Repräsentanten«. Dadurch werden der Rasseninstinkt und das nationale Empfinden des Besuchers für die Eintrittskasse nutzbar gemacht.

Ihre eigenen Heiligtümer wirft der Unternehmer der Bestie vor ...

In dem Zirkus, in den ich mich heute verirrt habe, klatscht, schreit und trampelt die begeisterte Menge eben beifällig, denn ein halbwüchsiger Junge hat ein anderes schmächtiges Kerlchen blutig geprügelt, aber allem Anschein nach völlig zunftgerecht, denn der Held wird wie ein sieghafter Cäsar gefeiert.

Nun betreten zwei andere Boxer den Ring, von abschätzender Neugier umwittert: Der eine ist ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger, hagerer, groß gewachsener Deutscher mit strohblonden Haaren und schneeweißer Haut; der andere, ein Neger, ist ungefähr um zehn Jahre älter, kleiner, aber untersetzt und muskulös.

Niemand kann auch nur eine Sekunde lang zweifeln, daß der Schwarze der Überlegenere ist. Ich bedaure den Blonden nicht. Der Mann sieht intelligent aus und er muß wissen, was ihm bevorsteht. Er überragt den Neger, der wahrscheinlich nicht lesen und schreiben kann, gewiß auf jedem anderen Gebiet, nur nicht auf dem aktuellen. Das Schauspiel, das er nun vorführt, ist scheußlich.

Der Kampf währt kaum eine Minute: Nach einigen kurzen, harten Stößen wälzt sich der Weiße auf dem Boden. Das Blut rinnt ihm aus dem Mund. Er ist außerstande, sich wieder zu erheben; wahrscheinlich hat er auch noch einen Rippenbruch erlitten.

Die Bestie ist aufgepeitscht. Man brüllt und pfeift; jubelt dem Neger zu; verlacht, verhöhnt den Deutschen.

Er wird hinaus getragen. Mitleidlos sehe ich in sein totblasses, schmerzverzerrtes Gesicht. Am liebsten möchte ich ihm zurufen: »Du dummer Junge, warum hast du nicht geistige Waffen gewählt?«

Die nächste Nummer: Zwei Jünglinge gehen auf einander los; recht ängstlich, wie es scheint. Und da empört sich die Bestie, in ihren Erwartungen enttäuscht, denn jetzt genügt ihr ein harmloses Spiel nicht mehr. Sie verlangt Blut, Blut ...

Wieder ein Deutscher; der andere ist ein brasilianischer Mulatte.

Diesmal gehört die Sympathie dem Deutschen: Er ist mittelgroß, schlank, kräftig und jung, ruhig und heiter; der Halbneger ist wieder kleiner, älter, gewiß auch stärker, aber sehr nervös.

Als der Kampf beginnt, wird es im Zirkus ganz still. Die Bestie scheint zu schlafen; aber in Wirklichkeit lauert sie nur, sprungbereit.

Der Brasilianer greift an; heftig und grausam. Der Deutsche wehrt ab. Ich glaube, er lächelt. Fast unbeweglich steht er mitten im Ring. Doch immer, wenn der Mulatte zu einem kräftigen Stoß ausholt, schlägt ihm der kühle Gegner schnell von unten aufs Kinn.

Immer wütender bestürmt der Farbige den Weißen. Dieser aber erhitzt sich nicht. Der Angreifer, rasend vor Wut, holt mächtig aus zum entscheidenden Schlag. Sein Partner kommt ihm wieder zuvor ... der Mulatte schwankt – und schon haut ihn ein letzter, harter Stoß hin, auf den Boden.

Die Bestie, die den Endkampf mit furchtbarem Gebrüll begleitete, ist in diesem dramatischen Augenblick verstummt.

Der Deutsche verbeugt sich lächelnd und ich meine, er fühlt jetzt, daß ihm das Tier, dessen Leidenschaften er bis zum Sturm entfesselt hat, gefügig ist wie ein alter Haushund.

Noch gilt ihm, dem Helden, der plötzlich einsetzende, tosende Beifall ... aber schon im nächsten Moment reißt sich die Bestie von der Leine los, an welcher der Sieger sie hält ... und wendet sich dem nächsten Kämpferpaar zu ...

So schön undressiert konnte ich sie sehen, die menschliche Bestie ... Sie hat die Zeit besser überstanden als die römischen Prunkbauten, die ihr vor zwei Jahrtausenden – »aere perennius« – errichtet worden sind.


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