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Das Vorbild.

Ich bin nicht im geringsten erstaunt, als ich auf einer kleinen Bahnstation Südwestbrasiliens in meiner Muttersprache nach der Zeit gefragt werde. In den Südstaaten hört man neben der portugiesischen Landessprache sehr häufig ein recht gutes Deutsch, auch von Angehörigen fremder Nationen, ja sogar von Negern.

Aber der Fragende, ein kräftiger, breitschulteriger, blonder Mann mit derben, arbeitsgewohnten Fäusten, ist ein Deutscher. Sein kleiner Kopf paßt nicht recht zu der gewichtigen Statur. Seine Gesichtszüge sind derb, nicht unschön und ihr Ausdruck ist gutmütig und verrät doch eine gewisse Verschlagenheit: ich halte ihn also für einen Bauer.

Er trägt den landesüblichen breitkrämpigen Hut, einen braunen Leinenanzug und seine Beine stecken in hohen Reiterstiefeln. Äußerlich unterscheidet er sich von den deutschen Kolonistensöhnen, die ich auf meiner Landreise bisher angetroffen, nur durch das Fehlen einer Pistole, von der sich hierzulande sonst niemand gerne trennt.

Der Fremde freut sich, einem Landsmann zu begegnen, der von »drüben« kommt. Und er erzählt mir, er sei – Pastor einer protestantischen Sekte in einer deutschbrasilianischen Landkolonie.

»So sieht ein Wildwest-Pastor aus?« frage ich mich und mustere ihn neugierig, während wir uns nebeneinander auf einer der unsauberen Bänke unseres Zuges, der sich eben langsam in Bewegung gesetzt hat, niederlassen.

Er bemerkt mein Erstaunen und sagt lächelnd: »Sie haben mich gewiß für einen Kolonisten angesehen? Das stimmt ja auch. Jeder Deutschbrasilianer ist Kolonist – ich allerdings bin es nur nebenbei ... Ich besuchte das heimische Seminar meiner Kirche und nun bin ich seit zwei Jahren Pastor und Schullehrer in einer jungen, deutschen Gemeinde.«

»Kolonist, Pastor und Schullehrer in einer Person? Ihre Siedlung ist gewiß noch sehr klein?« fragte ich verwundert.

»Sie ist klein und verfügt noch nicht über die nötigen Mittel für eine eigene Lehrkraft. Deshalb muß der Pastor herhalten. Dieses Verfahren ist hier gang und gäbe. Die Kolonisten der ersten Generation legen selten Wert auf gründliche Schulbildung. Sie sind zufrieden, wenn die Kinder lesen und notdürftig schreiben lernen und natürlich rechnen. Mehr brauchen sie nicht.«

Der Pastor erzählt von der unendlichen Mühe, deren es bedarf, die Erwachsenen Sonntags in den Betsaal zu bringen und die Kinder werktags in die Schule; und von den Schwierigkeiten, an Geld so viel hereinzubekommen, um menschenwürdig leben zu können. Er sagt: »Es kommt vor, daß Kolonisten aus der Kirche austreten, wenn die Kinder der Schule entwachsen sind, nur um den jährlichen Beitrag, der eingemahnt werden könnte, zu ersparen. Verstünde ich mich nicht auf die Pflanzung – die Leute ließen mich verhungern!«

»Wenn ich mir nur so viel zurücklegen könnte,« fährt er traurig fort, »um mir ein Landlos kaufen und eine eigene Hütte bauen zu können! Dann fällt der Hauszins weg und ich kann überdies eine ertragreiche Pflanzung anlegen, während ich jetzt kaum so viel ernte, als ich für mich allein benötige ... und verheiratet sollte man wohl sein ...«

»Was – Sie sind noch ledig?« ruft ein Mann, der neben mir sitzt und sichtlich nur auf den geeigneten Moment gewartet hat, um sich ins Gespräch zu mischen.

»Bisher verdiente ich nicht genug, um ernstlich ans Heiraten denken zu dürfen.«

Mein Nachbar meint leichthin: »Es gibt allerdings schon reichlich viele Sekten im Land. Ist es richtig, daß in Deutschland das Sektenwesen verboten ist?«

Ehe ich antworten kann, sagt der Pastor schnell: »Meine Kirche kam aus Nordamerika. Sie hat in Brasilien schon zahlreiche Gemeinden gegründet und unterhält sogar ein eigenes Seminar!«

»Das ist wie mit den Vereinen,« meint mein hartnäckiger Nachbar. »Immer entstehen neue, obgleich es ihrer schon zu viele gibt!«

Der Pastor schweigt.

»Ich finde die Sektenbildung sehr verständlich,« wende ich ein, in der Absicht, den Angriff des dritten auf unseren gemeinsamen Reisegefährten zu mildern. »Um jedem einzelnen gerecht werden zu wollen, müßte es ebenso viele verschiedene Kirchen oder doch Sekten geben – wie Menschen. Aber in einer Zeit, da nur die wenigsten ein eigenes Heim besitzen, kann an so zahlreiche Kirchenbauten wohl nicht gedacht werden ...«

Nun nickt mir der Pastor lächelnd zu, doch er fühlt sich noch immer nicht bemüßigt, zu unserem Thema Stellung zu nehmen.

»Es kann nicht daran gedacht werden! ...« wiederholt der Nörgler überlaut. »Man kann nicht immer neue Kirchen bauen!«

Der Pastor ist keineswegs gekränkt. Er scheint abgehärtet zu sein ...

»Weil es praktisch unmöglich ist, für jeden einzelnen eine eigene Kirche zu bauen ...« erkläre ich, an meine vorhergehende Bemerkung anknüpfend, mit großem Ernst, »deshalb muß der Mensch sehen, wie er mit den vorhandenen auskommt; er muß seinen Glauben so lange und gründlich disziplinieren, bis dieser sich den Dogmen einer bestehenden Kirche widerspruchslos einfügt. – Am besten wäre es, den alten heidnischen Sonnengott wieder in seine Rechte einzusetzen und alle Kirchenlieder auf ihn umzudichten!«

Nun lachten beide; der Nörgler und der Pastor.

»Lachen Sie nicht, meine Herren,« rufe ich und lege mein Gesicht in noch ernsthaftere Falten, »es ist viel Wahres in meinen Worten. Nachdem es nicht tausend Millionen Kirchen geben kann, sollte es nur eine einzige geben: und was in dieser einen gepredigt würde, das wäre jener einzig richtige Glaube, von dem jeder Mensch etwas in sich hat – und jede der bestehenden Kirchen etwas. Die Gottheit ist schließlich doch von jeher in allen Religionen ganz genau dieselbe ...«

Nun ist der Pastor endlich zur Stellungnahme bereit.

»In den alten Religionen – vielleicht. Aber es ist ein starkes Bedürfnis nach neuer Auslegung der Bibel vorhanden gewesen – und diesem Bedürfnis verdankt unsere Kirche ihre Entstehung.«

»Amen,« denke ich und setze dann, auf seine zusammenhangschwache Bemerkung einschnappend, laut fort: »Die Auslegung ist Nebensache.«

Der Pastor beteuert, ein wenig erregt: »Ich habe die Überzeugung, daß alles nur auf die Auslegung ankommt.«

»Es darf bei einem Gesetzbuch für Glaube, Hoffnung und Liebe kein Spielraum für Auslegungen gelassen werden. Es muß alles für alle einfach, klar und verständlich abgefaßt sein.«

Der Nörgler brummt: »Das ist die Bibel.«

»Gewiß ist sie das!« rufe ich, hoch erfreut, daß wenigstens einer mich verstanden hat. »Wozu aber muß sie dann noch ausgelegt werden? Das ist doch gar nicht nötig!«

Der Pastor schüttelt den Blondkopf.

»Die Auffassung meiner Kirche weicht in manchem von jener der lutheranischen ab. Und daß wir immer neue Anhänger finden, beweist am deutlichsten, wie sehr es eben doch auf die Auslegung ankommt!«

Nun bereue ich aufrichtig, dem einfachen, bescheidenen Menschen so arg zugesetzt zu haben. Er ist ein treuer Diener seiner Kirche. Und schnell lenke ich das Gespräch auf ein neues Thema über: »Es muß ein schwerer Beruf sein ...«

»Wir leisten wahre Pionierarbeit. Und noch dazu in einem Land, wo Idealismus nur belächelt wird, weil jeder mehr als anderswo dem Geld nachläuft und nur schnell reich werden will. Die Pastoren in Deutschland haben es leichter. Sie sitzen wohlbestallt in ihrer Pfarre und erfreuen sich der Liebe und Treue der Gemeinde, wir aber müssen mit hartgesottenen Bauern, die uns oft nicht einmal Achtung entgegenbringen, zusammenleben. Unser Beruf führt uns häufig in unwegsame Gegenden, wir sind von wilden Tieren und Schlangen bedroht – und noch viel mehr von dem räuberischen Gesindel, das sich überall herumtreibt. Und nicht das geringste darf man sich vergeben. Da heißt es gleich: Was haben wir für einen Pfarrer! Einmal statt eines – zwei Schoppen ... und die ganze Kolonie weiß es. Aber die anderen dürfen sich betrinken ...«

Ein langer, hagerer Mensch mit einem kleinen rundlichen Gesicht, aus dem die dunklen Äuglein listig hervorlugen, stand schon eine Zeitlang an die Bank gelehnt und setzt sich nun neben den Blonden: »Ja, das ist richtig, Herr Pastor. Die Leute wollen ein Vorbild haben; und sie ärgern sich, wenn es ihnen zerstört wird.«

»Es gehört zum Beruf ...« knurrt mein Nachbar, der lange genug geschwiegen hat.

Der Neuhinzugekommene sagt: »Ich kenne die Verhältnisse hier wie kaum ein zweiter, denn als Direktor einer Landgesellschaft komme ich überall herum. Kein Beruf erfordert mehr Aufopferung als der eines Pastors und Schullehrers in einer neuen Urwaldkolonie. Die Leute haben kein Verständnis für geistige Arbeit! Es ist eben schon das kleinste Kerlchen im Hause nötig.«

Ich bin beschämt; die Lösung schwieriger Religionsprobleme kann natürlich niemals Sache von jungen Urwaldgeistlichen sein. Und dieser ist gewiß ein wahrhaft gutes Vorbild für seine Gemeinde. – –

Der Zug verlangsamt sein Tempo, denn wir nähern uns einer Station. Zu meinem Bedauern verabschieden sich der Pastor und der Landagent, die aussteigen und ihre Reise ins Innere zu Pferd fortsetzen müssen.

»Es war mir eine Wohltat, nach langer Zeit endlich wieder etwas von Deutschland gehört zu haben,« sagt der junge Geistliche und drückt meine Hand so kräftig, daß ich von seiner Tüchtigkeit für die nächsten zwei Stunden völlig überzeugt bin. Und während ich noch darüber nachgrüble, wann ich wohl im Verlaufe der Unterhaltung von Deutschland gesprochen hätte, reicht mir der Pastor einen Lutheranerkalender, den er einer der beiden Satteltaschen, die unter der Bank lagen, entnahm. Nur die eine der Taschen ist mit Büchern, die andere hingegen mit nützlichen Gebrauchsgegenständen – Pfeife, Tabak und Feldflasche – angefüllt.

»Lesen Sie den Kalender, es ist unser erster Jahrgang!« ruft der Pastor freudig und stolz.

Ich nehme und danke. »Zur Erinnerung und Erbauung,« sage ich.

Der Pastor ist gerührt und drückt mir nochmals die Hand – die ich ihm nicht entziehen mag, weil ich den Braven um alles in der Welt nicht beleidigen möchte: Von seiner Tüchtigkeit bin ich nun aber mein Leben lang überzeugt.

Knapp vor der Einfahrt in die Station tritt der Schaffner in unseren Wagen und auf uns zu: »Die Fahrkarten!«

Ich weiß nicht, in welche Tasche ich meinen Fahrschein steckte. Hastig suche ich ihn, während mich der Nörgler lächelnd betrachtet. Endlich habe ich die Karte gefunden. »Bitte ...« sage ich, obzwar das hier nicht üblich ist – aber ich bin im Ausland immer bestrebt, möglichst höflich zu sein, um nicht für einen Engländer gehalten zu werden, was seltsamerweise trotzdem häufig der Fall ist.

Auch mein Nachbar weist seinen ordnungsgemäß gelösten Fahrschein vor. Der Landagent dagegen und – der Pastor besitzen keine Fahrkarten.

In den Zügen des Pastors steht die Enttäuschung über die unverhoffte Kontrolle deutlich geschrieben; und seine Augen sehen recht düster drein. Der Agent hingegen lächelt und trägt nicht die geringste Verlegenheit zur Schau.

Auf seinen Wink verschwindet der Schaffner.

»Ich werde die Sache in Ordnung bringen, Herr Pastor,« sagt der weltliche Schwarzfahrer. »Nun benütze ich diese Bahn schon seit fünfzehn Jahren, ohne jemals eine Karte gelöst zu haben. Ich kenne jeden Beamten und jeder kennt mich. Deshalb zahle ich auch bloß die Hälfte – aber natürlich immer sehr diskret. Auf diese Weise erspare ich Geld – und der Schaffner macht dabei sein Geschäft. – Die Karte kostet zwölf Milreis, vierhundert Reis. Geben Sie dem Mann sechs Milreis und das Geschäft ist gemacht ... Es ist wohl am besten, Sie lassen mich die Sache regeln!«

Der Pastor greift in die Tasche ...

»Kürzlich erschien ein neuer Schaffner – der unverschämte Mensch scheute sich nicht, auch noch die vierhundert Reis zu halbieren. Da wurde ich aber kotzengrob und sagte dem Kerl gründlichst meine Meinung ...«

Das erzählt der Landagent.

Der Pastor gibt ihm die verlangten sechs Milreis ...

»Meine Herren, lassen Sie sich nicht übers Ohr hauen!« ruft der Agent, und während er die Silbermünzen in seiner Hosentasche verschwinden läßt, blinzelt er mir wohlmeinend zu. »In diesem Lande heißt es auf der Hut sein – es wimmelt von Betrügern!«

Der Geistliche ist froh, so billig davongekommen zu sein. Er hat den halben Fahrpreis erspart. Seine Miene hellt auf.

Nun bremst der Zug. Die beiden steigen aus.

Nachdenklich blättere ich in dem Lutheranerkalender. Er enthält erbauliche Geschichten und religiöse Lieder.

»So ein Dummkopf ...« höre ich meinen Nachbar ärgerlich brummen.

Obgleich ich die Worte keineswegs auf mich beziehe, wende ich mich ihm gedankenvoll zu; vielleicht nur deshalb, weil mir die nötige Sammlung fehlt, den begonnenen Psalm zu Ende zu lesen.

Noch einmal, fast unhörbar, murmelt er: »Ein Dummkopf ...«

»Der Betrogene ist doch in diesem Falle die Bahn?« frage ich halblaut.

»Der Staat und der Pastor ...« knurrt der Mann. Und dann legt er wütend los: »Der Staat garantierte den Aktionären der Bahn die Zinsen des Kapitals: Natürlich hat die Gesellschaft nun nicht das mindeste Interesse an der Rentabilität! Das Personal ist elend bezahlt und auf Schmiergelder geradezu angewiesen. Ist eine solche korrupte Wirtschaft nicht entsetzlich?«

»Gewiß, gewiß,« antworte ich – teilnahmslos, weil mich augenblicklich noch der vorbildliche Seelenhirt beschäftigt. »Aber sagten Sie nicht, auch der Pastor gehöre zu den Betrogenen?«

Mein Nachbar sieht mich merkwürdig an; aus seinem Blick spricht unendliches Mitleid, aber auch Spott. »Glauben Sie vielleicht,« sagt er, »glauben Sie ernstlich, daß der geriebene Agent dem Schaffner mehr geben wird als die übliche Ablöse von ein bis zwei Milreis?«


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