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Der König von Polen.

Das Hotel Popular bot keine lukullischen Genüsse. Es gab Bohnen, Reis, zähes Rindfleisch, Gelee, schwarzen Kaffee – das ländliche südbrasilianische Mittags- und Abendmenü für die sieben Tage der Woche.

Das Hotel Popular verfügte über keine kostspielige Einrichtung. Ein roh gezimmertes Büfett, vier ebensolche Tische und einige harte Sessel bildeten das ganze Mobiliar.

Aber ich könnte nicht sagen, daß mir das Essen nicht geschmeckt oder daß ich die Einrichtung ärmlich gefunden hätte. Das einzige, was ich an dem Hotel aussetzen konnte, war das Fehlen von Spucknäpfen.

Übrigens hätten die Gäste von diesen doch keinen Gebrauch gemacht; zum mindesten nicht die Gäste, in deren Gesellschaft ich zu Tische saß.

Die Leute redeten ein unverständliches Kauderwelsch; nur mein Nachbar sprach das Portugiesische vollkommen rein, sodaß ich hie und da ein Wort aus der Unterhaltung aufschnappen konnte.

Er war ein wüst aussehender Kerl, mit Hemd und Hose bekleidet, von welchen nur noch spärliche Reste zu sehen waren; die Fetzen und die schmutzstarrende Haut zeigten einen einheitlichen erdbraunen Farbton. Die Hände des etwa fünfzigjährigen Mannes entbehrten anscheinend seit Monaten des Wassers und der Seife und waren deshalb mumienhaft runzlig und vertrocknet. Er hatte das typische Säufergesicht – verquollene, blasse Äuglein unter angeschwollenen Lidern, eine dicke, rote Nase, und feuchte, eklige Lippen. Das wirre, spärliche Haar fiel über die Stirne. Der eckige, breite Schädel auf dem kurzen, gedrungenen Hals gab ihm ein stierhaftes Aussehen.

Er trank lächelnd ein Glas Schnaps nach dem anderen. Der Wirt kassierte jedes gewissenhaft ein.

Unsere Tischgenossen verabschiedeten sich von mir wie alte Bekannte und verließen das Lokal.

Ich bestellte Bier.

»Darf ich Ihnen einschenken?« fragte ich meinen Nachbar nach Landessitte.

»Sie können deutsch mit mir sprechen!« erwiderte er mit tadelloser Aussprache und fuhr, als er mein Erstaunen bemerkte, fort: »Ich habe gleich gewußt, daß Sie Deutscher sind! Ich weiß immer, wer einer ist, denn ich kenne jede Nation und verstehe jede Sprache, die man in Europa und in Amerika spricht; übrigens auch jeden deutschen Dialekt.«

»Erstaunlich!« sagte ich. »... Sind Sie vielleicht ... früher ... Philologe gewesen?«

»Bin immer das gewesen, was ich heute bin ... aber kein Professor kennt so viele Sprachen wie ich!«

»Sind Sie in Deutschland geboren?«

»I wo! Ich bin Pole, Senor! Vater und Mutter waren Polen! Es lebe das Königreich Polen!«

»Die Republik!«

»Zum Teufel! Brasilien ist Republik! Das Königreich Polen soll leben!«

»Entschuldigen Sie – Polen ist seit seiner Befreiung Republik!«

»Wie Brasilien? Nicht Königreich? ... Schade ...«

»Warum?«

»Dann hat es keinen König!«

»Natürlich nicht ...!«

»Das ist nicht so natürlich, wie Sie meinen, Senor! Das ist sogar sehr unnatürlich! Wir Polen müssen unserem Königreich wieder einen König geben!«

»Aber es ist doch ...«

»Es ist doch Königreich! Sie verstehen das nicht, Senor! Sie sind nicht Pole! Sie sind Deutscher! Die Deutschen verstehen nichts von Politik! ... Und Sie sind nicht einmal richtiger Deutscher ... Sie Sind aus Österreich ... Ich merke das an einzelnen Ausdrücken! ... O – mich täuschen Sie nicht! Ich kenne jeden, noch ehe er den Mund auftut ... aber wenn er einmal spricht, dann könnte ich ihm seine ganze Lebensgeschichte erzählen ... Polen soll leben!«

Wir stießen an.

»Sind Sie schon lange in Brasilien?« fragte ich, nachdem ich von dem Bier genippt hatte.

Der Mann stellte das leere Glas vor sich hin und sagte verblüfft: »Lange? ...« Er füllte nach. »Wie meinen Sie das ... Ob ich schon lange in Amerika bin? Seit fünfzig Jahren. – Solange ich lebe. Bin doch hier geboren!«

»Nicht möglich ... Wo lernten Sie deutsch?«

»In der deutschen Kolonie, in der ich aufwuchs. Die deutsche Schule ist gut, Senor! Aber dann kam ich viel herum, ich bin von Beruf Böttcher. Ein tüchtiger Handwerker!«

»Davon bin ich überzeugt!« beeilte ich mich zu versichern.

»Oft denke ich: Mensch, was bist du für ein Kerl ... versäufst den ganzen Lohn, statt für deine alten Tage zu sparen ... Ja, das denke ich oft ... aber mich juckt jeder Reis in der Tasche ... und wenn ich 'mal ein paar Milreis besitze ... wie heute ... dann gibt's einen Festtag, Senor! ... Wollen heute Polen feiern ... würdig feiern ... nicht mit Bier, das ist nichts für Polen ... Bringe Schnaps, heda, Senor, Schnaps!!«

Die letzten Worte hatte er portugiesisch gesprochen, denn sie galten dem Wirt.

Doch der rührte sich nicht vom Fleck.

Der Pole suchte in allen Taschen, aber es wollte sich keine Münze finden.

»Man hat mich bestohlen!« schrie er plötzlich, sich wieder der deutschen Sprache bedienend. »Ich besaß acht Milreis, als ich kam – und habe noch keine fünf vertrunken! Man hat mich bestohlen!«

»Wollen Sie die Güte haben, Senor,« wendete er sich höflich an mich, »einen Schnaps zu bestellen?«

Der Wirt lachte ...

Warum lachte der Wirt? Er verstand doch nicht deutsch?!

»Trinken Sie noch eine Flasche Bier mit mir!« schlug ich vor.

»Ich sage nicht nein ...« antwortete er traurig. »Aber es ist schade um das viele Geld, das Sie für Bier ausgeben.«

Ich bestellte doch.

»Wenn ich Bier trinke, muß ich immer an den Engländer denken ... nicht weit von hier ... der goß jeden Abend eine Flasche teuern Scotch in einen Krug Wasser und soff dieses Zeug dann, bis er Bauchweh hatte ... Es gibt sonderbare Käuze in Brasilien, Senor ...«

»Auch bei uns in Europa!« rief ich. »In München sah ich einmal einen einzigen Menschen sechzehn Maß ...«

»... Sechzehn Maß! Muß der Kerl einen Magen gehabt haben! ... Ich glaubte bisher, nur die Deutschen könnten so viel vertragen!«

»Erlauben Sie –« wendete ich ein, »die Bayern sind doch Deutsche!«

»Sie sind falsch unterrichtet, Senor! Sie sind kein Sprachenkenner wie ich! Das Spanische ist dem Portugiesischen ähnlicher als das Deutsche dem Bayrischen!«

»Was verstehen Sie eigentlich unter deutsch?«

»Das Hochdeutsch.«

»Wird in Deutschland nur an einigen Theatern gesprochen.«

»Ein komisches Land ... Hat es wenigstens einen guten König?«

»Einen Kaiser – gehabt. Augenblicklich ist er in Holland.«

»Er ist unvorsichtig – euer König. Er sollte nicht weggehen. Wie leicht könnte sich ein anderer auf den Thron setzen!«

»Das ist nicht mehr möglich: Deutschland ist jetzt Republik!«

»Re–pu–blik –?«

»Jawohl ... wie Polen ... und Österreich!«

»Ös–ter–reich –?«

»Jawohl ... auch Österreich!«

»Nein.«

»Ja.«

»Wollen Sie nicht doch einen Schnaps zahlen, Senor? Man begreift leichter ...«

»Noch eine Flasche Bier – gern!«

»Findet sich denn kein König mehr für Deutschland und Österreich?«

»Nein.«

»Wer regiert jetzt bei euch?«

»Ein Präsident!«

»Wie in Brasilien? O – entsetzlich!«

»Das Volk wählt.«

»Ihr Deutsche versteht nichts von Politik!«

»Wir haben viel gelernt.«

»Senor, Sie sollen recht haben, wenn Sie mir einen Schnaps zahlen. Ich bin ganz nüchtern geworden. Pfui Teufel, ist das Bier wässrig ... Der Engländer mit dem Krug ... Ich möchte trinken – auf Polens Wohl! Aber nicht mit diesem ...«

»Nun gut ... einen Schnaps ... aber wirklich nur einen

»Er soll leben!«

»Wer?«

Zum Teufel! – unser König! Es lebe der König – ex!«

»Ex – mit Vergnügen.«

»Aber wir wollen doch nicht bei dem einen Gläschen bleiben ... verflucht sei, der mich bestohlen hat ... noch mindestens sechs Milreis müßte ich haben ... Es ist mir sehr unangenehm, wie ein Bettler vor Ihnen zu erscheinen! Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, Senor, wenn Sie mir noch einen Schnaps zahlen ... ein wichtiges Geheimnis, das noch niemand von mir erfahren hat ... aber Ihnen darf ich die Geschichte erzählen, denn Sie reisen morgen früh ab ... und wenn Sie wieder drüben in Europa sind, können Sie ein Wörtchen für mich ... für den Betroffenen einlegen ... Halten Sie mich nicht für einen schlechten Menschen, Senor, weil ich Sie um Schnaps bitte ... Sie brauchen sich meiner Gesellschaft nicht zu schämen, Sie werden sofort erfahren ... wer – ich – bin –! – – – – –

Darf ich bestellen?«

»Meinetwegen.«

»Zwei Schnäpse, Wirt!« – –

»Auf alle Könige! ... Es ist schade, daß Brasilien keinen hat ... ich würde zu hohen Ehren gelangen können als ... nun was glauben Sie, als was?«

»Haushofmeister.«

»Nix, Haushofmeister!«

»Kanzleichef.«

»... Als Hofböttcher natürlich! Sagte ich Ihnen nicht, daß ich ein hervorragender Handwerker bin? Ein ganz außergewöhnlicher ... aber natürlich nicht jeden Tag!«

»Ist das Ihr Geheimnis?«

»Nein, Senor, mein Geheimnis kennt kein Mensch unter der Sonne ... Bitte, noch ein Schnäpschen! ... Sie wollen nicht? ... Sie sind unbarmherzig, Senor ... Ich bin ein armer Teufel ... ausgeraubt ... hätte sonst noch meine acht Milreis ... aber es ist keine Schande, sich einen Schnaps zahlen lassen ... wenn man bestohlen ist ...«

»Den letzten!«

»Sie sind ein guter Mensch ... wie alle Deutschen ... aber von Politik versteht ihr nichts ... die muß einem eingeimpft sein ... wie mir! Mein Vater war ein edler Pole, Senor ... und meine Mutter eine edle Polin ... sie kamen in ihrer Jugend nach Brasilien und es ging ihnen schlecht ... denn sie hatten kein Geld ... wie die meisten Polen.«

»Was war Ihr Vater?«

»Was er war? Schuster. Was sollte er sonst gewesen sein? Alle Polen sind hier Schuster. Nur ich bin Böttcher.«

»Das – Geheimnis?«

»... hat mein Vater einmal im Rausch verraten! Er war ein solider Mann ... nur am Samstag betrunken ... Ja, es war an einem Samstag ... ich noch ein Kind ... die Mutter schickte mich in der Nacht, den Vater aus der Kneipe holen ... aber er gab mir Schnaps, damit ich bleiben sollte ... Er wurde gesprächig ... und sagte: »Mein lieber Sohn ... sieh' mich an ... ich bin nicht nur der Schuster, für den du mich hältst! Ich bin mehr!« – Und er erhob sich und stand vor mir wie Napoleon ... so ... wie ich jetzt vor Ihnen stehe, Senor ... und sprach: »Wisse denn, Knabe, ich bin ein König!« – »Wo hast du deine Krone, Vater König?« fragte ich ehrfürchtig. – »Hier!« erwiderte er, zog aus der Tasche eine lederne Krone, die er selbst gefertigt hatte – und setzte sie sich aufs Haupt. – »Glaubst du nun, Knabe, daß ich ein König bin?« – »Gewiß, Vater!« sagte ich. – »Ich bin der König – und du bist der Kronprinz!« – Da rief ich: »Aber ich möchte doch Böttcher werden!« – – Mein Vater wurde rot vor Wut, warf seine Krone auf den Boden und zerstampfte sie mit den Füßen. Dann gab er mir eine Ohrfeige. »Ein Königssohn willst du sein – du Lausbub? Du bist deiner Ahnen nicht würdig! In meinen Adern rollt fürstliches Blut ...

»Er brach in Tränen aus, weinte lange und trank, bis er unter den Tisch fiel. Meiner Mutter erzählte ich nichts von dem, was ich erfahren hatte ... Keinem Menschen sagte ich ein Wort davon ... Nur Sie kennen jetzt mein Geheimnis und wissen, warum ich's mit den Königen halte – und wenn ich auch bloß ein Vagabund bin und in Lumpen herumlaufe, ist doch –«

»– jeder Zoll ein König!«

»Jawohl – jeder Zoll! Es freut mich, Senor, daß Sie sich meiner Gesellschaft nicht geschämt haben, obgleich Sie meine hohe Abkunft nicht kannten. – Wollen wir nicht noch ein Gläschen trinken?«

»Nein.«

»Noch ein Gläselchen!«

»Nichts mehr!«

»– – So lohnen Sie mir meine teuersten Geheimnisse? Sie sind undankbar, Senor! Sie sind ein Deutscher! Ihr habt euern König vertrieben! Ihr versteht nichts von Politik! Ihr sauft Bier! Der Engländer mit dem Skotchwasser war ein Gentleman gegen Sie! Man sollte euch aus dem Lande jagen! Ihr könnt nicht mit Königen umgehen! Ihr Volk!«

Breit stand der Wirt vor dem Polen.

»Hier wird nicht geschrieen!«

Da blinkte ein Messer ... aber im nächsten Augenblick beförderte ein Fußtritt den Betrunkenen ins Freie.

»Ein armer Teufel ...« meinte ich bedauernd,

»Seit ich hier bin ... das sind ungefähr zwanzig Jahre ... führt der Kerl die Fremden mit seiner dummen Geschichte an,« sagte der Wirt und lächelte treuherzig, während er eine gepfefferte Rechnung auf die Tischplatte schrieb.


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