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Rio de Janeiro.

Das kritiklose Bewundern- und Genießenkönnen ist immer ein Zeichen von Verliebtheit. Und je stärker die angeborene oder angewöhnte Neigung zur Kritik entwickelt war, umso hingebungsvoller, andauernder und – kritikloser wird die Liebe sein können.

Aber die Menschen wandeln sich und nicht selten schwinden Gefühle ebenso rasch, wie sie gekommen. Dann stehen zwei einander gelangweilt und fremd gegenüber.

So ergeht es uns auch mit Dingen, in die wir einmal verliebt waren, mit Bildern und Büchern, Städten und Ländern: Auf einmal ist alles aus. Wir begreifen nicht, wie der Gegenstand einst Liebe wecken konnte; er hat sich vielleicht nicht im geringsten verändert – und ist doch für uns tot.

Aber es kommt vor, daß einer instinktiv weiß: Die! Keine andere sonst! Und wenn er das ganz bestimmt zu empfinden meint, dann wird sie die richtige wohl sein.

Mit solcher Gewißheit fühlt jeder, der zum erstenmal nach Rio de Janeiro kommt, daß er diese Stadt für alle Ewigkeit lieben muß. Auch die traumhafteste Vorstellung, die er von ihr hatte, ist ärmlich gegen die Wirklichkeit.

Wie mag dem Portugiesen André Gonzalves zumute gewesen sein, als er, vor etwa vierhundert Jahren, als erster Europäer die riesige Bai sah, mit ihren siebzig Inseln, den grotesken Formationen im Hintergrunde und der prachtvollen tropischen Vegetation? Er hat gewiß anfänglich seinen Augen mißtraut und geglaubt, das gelbe Fieber treibe ein seltsames Spiel mit seiner Phantasie.

Für den europäischen Seefahrer von heute, der ohne Gefahren und mit allem Komfort nach zwei- bis dreiwöchiger Fahrt in die Bucht von Rio de Janeiro gelangt, ist der Anblick, der sich ihm bei gutem Wetter darbietet, zwar weniger verwirrend, aber gewiß ebenso fesselnd wie einst für den ruhmreichen Portugiesen. Noch immer gibt es, unweit der Küste, unberührtes Land. Viele der nadelartigen Felsen und Spitzen wurden noch niemals erklommen. Und in den Urwald kämpft sich der Mensch nur schrittweise und nicht weiter als er gezwungen ist, vor. Dennoch: was die Zivilisation hier in den vier Jahrhunderten und hauptsächlich in den letzten Jahrzehnten geschaffen hat, das ist so gewaltig und wunderbar wie die Landschaft, der es eingefügt ist, als wäre alles immer dagewesen, als sei es ihr abgeschaut und abgelauscht.

Nirgends findet die Natur so vollkommene Ergänzung: zu ihrer märchenhaften Pracht den reichsten Luxus, zu den kulissenhaften Gebilden ein Durcheinander an Rassen und Stilarten, zu ihrer imposanten Größe die monumentalen Bauwerke und Riesenschiffe, zu ihrer Anmut den Wohlklang der portugiesischen Sprache!

Und gekrönt ist diese Hauptstadt der Tropen in ihrer chaotischen Vielheit mit den wunderbar symmetrischen Kronen der Königspalme, die alles, was die Natur sonst noch und was der Mensch geschaffen, wahrhaft majestätisch überragt. –

Wer bisher sich selbst genügte, wird auf dem Gipfel des »Zuckerhutes«, dem Wahrzeichen Rios, erkennen, daß eine Menschenseele zu eng und arm ist, um solche Weite und ihre Wunder zu fassen; wer mit einem zweiten kommt, dessen Seele mit seiner eigenen nicht verschmolzen ist, wird nicht froh und frei werden können, sondern noch verlassener und einsamer sein, als käme er ganz allein; aber wer sehnsüchtig und verliebt ist – und geliebt wird, kann nirgends grenzenloser genießen und glücklicher sein.

Was einer empfindet, wenn er von dort oben herabsieht, soll er sich bewahren – auch wenn er Bücher schreibt.

Denn wer alles preisgibt, wird zum Bettler.


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