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Reiselektüre

Ein um meine Weiterbildung chronisch besorgter Freund empfahl mir Freuds Vorträge über Psychoanalyse als passendste Reiselektüre. Ich folgte dem gutgemeinten Rat, kaufte mir die handliche Taschenausgabe und meinte nun, literarisch vorzüglich ausgerüstet und gegen Langeweile und geistige Verarmung vollkommen gewappnet zu sein.

Und als ich nach einigen Tagen Seereise diese Gefahren nun wirklich herannahen fühlte, nahm ich das Buch, begab mich auf das Promenadedeck und versuchte, mich in die Lektüre zu vertiefen.

Aber es wollte mir einfach nicht gelingen, meine Gedanken und meine Blicke auf das Buch zu konzentrieren.

Im links benachbarten Deckstuhl lag eine junge Dame, in Decken gehüllt und in Kissen gelagert und las – – und ich traute meinen Augen kaum: sie las in einem gleichen Buche wie ich. Ganz gleiche Größe, Einband und Farbe hatte es, nur noch ein Lesezeichen aus dunkelblauer Seide. Sie las mit großem Ernst. Ihre Augen starrten dann und wann ins Meer, während sie einen gelesenen Satz geistig verarbeitete. Und wenn sie mich ansah, hatte ich das unbestimmte Gefühl, daß sie an etwas ganz anderes dachte. »Vielleicht analysiert sie sich eben,« überlegte ich und wendete den Blick von ihr ab, um ihre Andacht nicht durch profane Koketterie zu stören.

Ich wunderte mich, daß die junge Frau imstande war, sich an diesem sonnigen Spätsommertag in die Freudschen Vorlesungen zu vertiefen, während meine eigenen fortgesetzten Konzentrationsversuche dauernd erfolglos blieben.

Anfänglich regte sich in mir die Scham – doch bald wirkten dieser weitaus primitivere, aber stärkere Empfindungen: Neid und Ärger, siegreich entgegen. Deshalb hielt ich mich berechtigt, die Lektüre der Dame als ungehörig zu klassifizieren.

»Wenn man eine junge, schöne Frau ist, lese man nicht Vorträge über Psychoanalyse,« sagte ich mir. »Dann lasse man sich nach dem altbewährten System Dornröschen erlösen und halte sich fern von jenem Freud – – –«

Ich resignierte vor der bezwingenden Logik meiner Erkenntnisse und legte das Buch beiseite. Aber ohne Lust und Talent für den Erlöserberuf wendete ich mich endgültig von der Unglücklichen – die immer mehr in Trance kam – ab und sah mich nach fröhlicherer, freudloser Damengesellschaft um.

Und richtig, einige Deckstühle weiter nach rechts, da lag eine putzige kleine Miß, allerliebst geschminkt und gepudert – die las gewiß Maupassant, Balzac oder gar Boccaccio – – Eine Zeitlang beobachtete ich sie: Aber auch bei ihr fand ich den gleichen gespannten Ausdruck in den allerdings ausdrucksloseren Zügen wie bei meiner Nachbarin zur Linken. Und auch die kleine Miß hielt – das ganz gleiche Buch in der Hand wie ich – – –

Nun begann es mir endlich zu dämmern ... Ich eilte in den Damensalon, wo der Bücherschrank stand, ließ ihn vom Steward öffnen – und brauchte nicht lange zu suchen. In dem obersten Regal der Schiffsbibliothek stand eine kurze Reihe Leinenbände, jeder in Einband und Format dem meinen völlig gleich.

Es war die englische Originalausgabe von Edgar Rice Burroughs Tarzan-Affengeschichten.


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