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Der Herr gegenüber.

Auf der Strecke Rio de Janeiro – Sao Paulo saß ich im Speisewagen einem jungen Mann gegenüber. Er hatte nichts Außergewöhnliches an sich als eine Krawatte, die mit dem letzten Schnelldampfer aus Paris gekommen sein mußte, denn sie war allerneuester Mode. Und mitunter genügt auch eine Krawatte, um sich über einen fremden Menschen ein bestimmtes Urteil zu bilden.

In diesem wurde ich noch dadurch bestärkt, daß der Jüngling den teuersten Wein bestellte, den die Karte verzeichnete. Außerdem nahm er einen Cock-tail, zwei Liköre und ein Gläschen Kognak zu sich. Er war von bezwingender Freundlichkeit, wie man sie nur bei Südländern findet, aber ich übte eine unbezwingliche Reserve, weil mein Urteil über den jungen Herrn lautete: Kommis, in Begleitung der Geschäftskasse. Ich wäre keineswegs verwundert gewesen, wenn plötzlich ein Detektiv die Hand auf die Schulter des Burschen gelegt und gesagt hätte: »Im Namen des Gesetzes!« Ich war erst eine Woche in Brasilien und mit den Verhältnissen des Landes nicht vertraut. Deshalb wußte ich nicht, daß es hier als Beleidigung aufgefaßt wird, wenn man der Einladung mitzutrinken nicht Folge leistet. Auch war ich noch voreingenommen genug, mich dagegen aufzulehnen, mit zweifelhaften Existenzen oder doch mit solchen, deren Berechtigung ich anzweifelte – Dieben, Einbrechern, Mördern – ohne inneren Widerstand auf eine glückliche Zukunft anzustoßen. Die Zeiten, da ich mit schmutzigen Gauchos und verkommenen Weißen aus dem gleichen Blechröhrchen Mate schlürfen würde, sollten erst kommen. Vorläufig war ich noch in- und auswendig Europäer und dem stand im Augenblick nichts im Wege, das ihn an seinen Gewohnheiten hätte hindern können, denn ein südamerikanischer Speisewagen unterscheidet sich in bezug auf Komfort und Genüsse nicht unvorteilhaft von einem europäischen.

Um nicht mittrinken zu müssen, versuchte ich, dem Herrn gegenüber, der nur portugiesisch sprach, klar zu machen, daß ich Antialkoholiker sei. In seinem freundlichen Blick schimmerte auch nicht die leiseste Spur von Geringschätzung, als er mich ansah, und ich war durch seine Güte und Milde bezaubert und nahe daran, mein vorschnelles Urteil zu revidieren. Doch nein – der junge Mann bestellte, unbegreiflicherweise, einen Apfel – hier im Lande der Bananen, Zitronen und Mandarinen! – einen aus Florida importierten Apfel, zu einem Preis, um den man im Staate Pernambuco gewiß ein Dutzend ausgewachsene Orangenbäume samt Ernte kaufen konnte. Flüchtig ging mir durch den Sinn, wie einst auf der Fahrt nach Buffalo ein glücklicher Familienvater seinen vier verwöhnten Fratzen vier herrliche, rotbackige Floridaäpfel gekauft hatte – das Stück zu einem Dollar – die dann zu meinem Entsetzen dazu dienten, aus ihnen Köpfe herauszuschnitzen und sie mit Ruß zu bemalen. Aber jener Krösus trug einen schäbigen Anzug und überhaupt keine Krawatte und deshalb ging damals wohl alles mit rechten Dingen zu. Hier nun lag der Fall wesentlich anders. Der junge Gent konnte sich aus regulärem Besitz unmöglich einen Apfel aus Florida leisten, noch dazu bei dem erbärmlichen brasilianischen Wechselkurs. Während ich mir mein ursprüngliches Urteil nun endgültig bestätigte, lehnte ich mich in meinem Sessel zurück und betrachtete die Landschaft – natürlich nicht mit der verräterischen Neugier irgend eines Neulings, sondern als ob ich die Strecke bereits so genau kennen würde wie ein alter Kondukteur, der, aus dem Schlaf erwachend, ohne einen Blick nach der Uhr oder durchs Fenster zu tun, ausruft: »Noch fünf Minuten!«

Der junge Mann zog eine hochelegante Tabatiere aus der Tasche. »Aha,« dachte ich, als ich der beringten Bahiazigarren ansichtig wurde – »der Hochstapler!« Blitzschnell holte ich eine »Jockey«-Zigarette hervor, um mich nicht auch noch als Nichtraucher entschuldigen zu müssen.

Mit sichtlichem Bedauern schloß mein Gegenüber die Tabatiere wieder, der er ein Exemplar entnommen hatte, und legte sie vor sich auf den Tisch.

Auch aus einer Tabatiere kann der geschickte und erfahrene Beobachter auf den Besitzer schließen. Nun also, ich gestehe offen ein, daß ich Reue empfand, denn ich hatte mich, wenn es nach der Tabatiere ging – und warum sollte es nicht? – in dem jungen Mann gründlichst geirrt. Die Tasche war von erlesenstem Geschmack und vor allem recht abgegriffen, was auf jahrelangen Gebrauch hindeutete. Und dann befand sich auf der mit Silber verbrämten Ecke ein eingraviertes Wappen mit einer ganz respektablen Anzahl Zacken ... »Also doch!« dachte ich, obzwar ich vordem gewiß mit keinem Gedanken eine solche Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, »– also doch! Ein Sprößling aus altem Geschlecht, durch den Umgang mit Handlungsgehilfen, deren Abgott er ist, in seinen Allüren nicht unbeeinflußt, durch Wohlleben geistig zurückgeblieben, interesselos an Dingen, die nicht ganz von dieser schönsten, aber nichtigsten aller Welten sind ... Also doch!« Aber es war auch gar nicht möglich, daß ein junger Mensch ohne wirklich gute Kinderstube einem andern, der ihn dem Anschein nach ignoriert, in Wirklichkeit aber analysiert, mit unveränderter Liebenswürdigkeit gegenübersitzen und ihn immer von neuem einladen konnte. Er hatte natürlich erkannt, daß der Fremdling der Landessitten gänzlich unkundig sei und hielt sich für verpflichtet, an seiner Erziehung zum Brasilianer mitzuwirken.

Leider wurde unsere Unterhaltung eine recht mangelhafte. Der Jüngling drückte sich langsam und deutlich aus, sodaß ich ihn einigermaßen verstehen konnte. Aber mein Originalgemisch aus allen romanischen Sprachen bedurfte immer erst der Unterstützung durch Mimik und Wörterbuch. Ich bekam heraus, daß er nach längerem Aufenthalt in Rio de Janeiro dort so vielseitige gesellschaftliche Pflichten auf sich geladen hatte, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen, daß er es nun vorzog, für einige Zeit zu verreisen, und zwar nach einem ziemlich entlegenen, fast unbekannten, stillen Ort, natürlich ganz inkognito. Er betrachtete seine Tabatiere liebevoll und steckte sie in die Tasche.

»Aber warum fahren Sie so ganz allein?« fragte ich ihn.

Er erwiderte lächelnd: »Ach, in meinem Alter bleibt man ohnedies nirgends lange einsam!«

Wir hatten schon vor einer längeren Weile schwarzen Kaffee bestellt, aber noch nicht erhalten. Nun sah der junge Herr nach der Uhr und rief den Kellner.

Der »Café negro« wurde erst serviert, als der Zug an einer kleinen Station hielt. Wir schlürften das wunderbar aromatische Getränk mit Wohlbehagen. Ich dachte an die braune Suppe, die in Europa unter dem Pseudonym »Kaffee« verabreicht zu werden pflegt. Und ich empfand mit froher Ungeduld die Nähe Sao Paulos und Santos', der Cafézentren der Welt und der vielen Überraschungen des tropischen Neulandes.

Welches merkwürdige Rassengemisch gab es durch das Fenster zu schauen! Weiße, bräunliche, braune, schwärzliche und ganz schwarze Brasilianer tummelten sich auf dem Perron. Und es herrschte eine vergnügliche Feststimmung, vielleicht weil unser Zug eingetroffen war oder weil er wieder abfuhr oder aus irgend einem anderen unbegreiflichen Grund.

Leider war, als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte und ich den gewiß landeskundigen Herrn gegenüber befragen wollte, dieser spurlos verschwunden. Ich dachte, er würde wiederkehren – aber da standen auch schon alle Kellner aufgeregt um mich herum und ihr Häuptling fragte:

»Kennen Sie den Mann?«

»Nein,« antwortete ich, obgleich ich ihn wohl erkannt zu haben meinte.

»Der Schurke ist abgesprungen, als der Zug aus der Station fuhr!« rief der Oberkellner wütend und schrieb die Rechnung zusammen.

»Hm –« machte ich gefaßt, »er hat wie ein Hochstapler ausgesehen und sich auch ganz danach benommen!«

Ich zeigte auf die teuere, nur halb geleerte Weinflasche.

»Aber der Herr haben doch mitgetrunken?« fragte der Ober lauernd.

»Leider bin ich Antialkoholiker, sonst hätte ich, natürlich,« sagte ich im Tonfall des Bedauerns.

Die Kellnerschar zog unverrichteter Dinge ab. Der Platz gegenüber blieb leer.


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