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Nordamerikafahrt.

Der Auswanderer.

»Was haben Sie drüben vor?« fragte ich mein Gegenüber, einen hageren, jungen Menschen, von dem ich nur wußte, daß er sich für einen Wiener ausgab.

»Raten Sie,« sagte er lächelnd und lehnte sich in den Fauteuil des Rauchsalons, wo wir an jenem Abend die letzten Gäste waren, bequem zurück, »– vielleicht finden Sie sich in mir besser zurecht als ich selbst!«

Der Mann begann meine Phantasie lebhaft zu beschäftigen. Ich hatte geradezu Mühe, vom ersten Eindruck beginnend, alle meine bisherigen Beobachtungen in Reih' und Glied zu ordnen. Als dies endlich gelang und ich Überblick gewonnen hatte, zog ich das Ergebnis zusammen: »Sie haben einen reichen Verwandten in den Vereinigten Staaten. Er besuchte Sie vor kurzem in Wien. Auf Ihre Bitte schickte er Ihnen die Schiffskarte?!«

»Gut geraten!« rief der junge Mann – und spöttisch fügte er hinzu: »Es war allerdings nicht schwer ...«

»Nein,« gestand ich und wurde etwas verlegen.

»Mein Äußeres läßt nicht auf Vermögen schließen. Ohne einen reichen Verwandten drüben könnte ich mir die Kajütenklasse natürlich nicht leisten! Nachdem bei uns wieder geordnete Verhältnisse eingetreten sind, kam mein Onkel nach vielen Jahren zum ersten Mal nach Europa. Er besuchte uns und erzählte so viel von seiner amerikanischen Heimat, daß ich mich entschloß, ihn um die Schiffskarte zu bitten. Sie kam prompt, aber ohne jeden Begleitbrief. Dann, drei Wochen vor meiner Abreise, langte folgendes Radiogramm ein: »Mitbringe alle in Europa auftreibbaren neuen Patente.«

Ich sah mein Gegenüber erschrocken an und unbewußt entschlüpfte mir die Frage: »Und Sie haben wirklich? ...« Weiter kam ich nicht, denn der Mann unterbrach mich lachend: »Sie haben wohl keine Ahnung?!«

»O – doch,« wendete ich ein, »ich habe selbst schon einmal ein Patent angemeldet!«

»Wenn Sie eine Ahnung hätten,« schrie er, nun schon wütend, »was es bedeutet, unter den Tausenden von nichtssagenden, lächerlichen Erfindungen, die jährlich zum Patent angemeldet werden, etwas wirklich Brauchbares zu entdecken – Sie würden ...«

»Erlauben Sie« – warf ich mit verletztem Stolz ein – »es gibt keine lächerlichen Patente, sondern nur bedeutsame und weniger bedeutsame! Jede Erfindung wird vom Patentamt genau geprüft«.

»Zu wenig genau!« schrie der aufgeregte Mensch.

Ich lächelte.

Da verstummte er ganz plötzlich und blickte mißvergnügt auf das unruhige Meer. Höflich versuchte ich, die Beziehungen zu dem jungen Manne wieder anzubahnen und fragte interessiert: »Ist es Ihnen wenigstens gelungen, einige wertvolle Patente zu erwerben?«

Er fixierte mich eine Sekunde lang und überzeugte sich, daß ich vollkommen ernst zu nehmen war – aber im nächsten Augenblick schienen ihm doch wieder Bedenken aufzusteigen, denn er sagte: »Ich würde es bereuen, Ihnen etwas gewiß nicht Alltägliches erzählt zu haben, wenn Sie mich nachher auslachen.«

»Sie sind mißtrauisch geworden, aber ich kann Sie beruhigen: Ich lächelte nur über die etwas unamerikanische Aufwallung Ihres Temperamentes. Entschuldigen Sie, bitte, und erzählen Sie unbesorgt. Ich freue mich, endlich einen interessanten Fahrtgenossen gefunden zu haben – ich hatte diese heimliche Hoffnung schon fast aufgegeben. Das Spiel der Wellen wird auf die Dauer doch eintönig ... Übrigens: Glauben Sie, daß wir morgen gutes Wetter bekommen?«

»Ich habe mein Instrument befragt,« erwiderte der andere, sichtlich getröstet. »Das Neueste! Etwas wirklich Phänomenales! Ich entdeckte die Erfindung bereits vor einem halben Jahr. Nun erwarb ich sie für meinen Onkel – um einen Pappenstiel!«

Er zog eine Uhr aus der Westentasche und hielt sie mir hin. Ich sah einen einzigen Zeiger und las in der Richtung, die dieser wies: »Regen.«

»Sehr unerfreulich,« brummte ich.

»Nur ein kleines Maschinchen, aber es funktioniert besser als das größte und teuerste Barometer!« rief mein Vis-à-vis, in die Betrachtung des Zifferblattes versunken. »Ich verspreche mir von dieser Sache in Amerika großen finanziellen Erfolg!«

»Warum nicht?« meinte ich zweifelnd. »Aber schade, daß das herrliche Instrument schlechtes Wetter prophezeit. Ich wünschte, es behielte Unrecht!«

»Ausgeschlossen!« rief der Besitzer der Wetteruhr und versenkte sie wieder in seine Westentasche. Dann entzündete er eilig eine neue Zigarette an dem Stummel der alten und erzählte ohne drängende Nachhilfe meinerseits: »Ich habe achtundsiebzig Nummern in meinem Amerikaprogramm. Darunter befinden sich zwanzig tote Gegenstände, sechzehn Pläne, einunddreißig Mechanismen und elf lebende Vögel. Diese Vögel – vier Papageien und sieben Kanari – kaufte ich in Wien, weil ihr Preis dort augenblicklich weit unter jenem in Neuyork notiert. Es dürfte ein gutes Geschäft werden!«

»Die Papageien?« fragte ich erstaunt. »Wo wollen Sie diese Vögel anbringen?«

»Mein Onkel ist Tierhändler. Einer der bedeutendsten von Neuyork! Ich werde in sein Geschäft eintreten und die Verwertung der europäischen Patente übernehmen!«

»Hoffentlich erleben Sie keine unangenehme Überraschung,« wendete ich ein und bedauerte im stillen, daß die Einwanderungsbehörden nicht die Impfung der Ahnungslosen mit der nötigen Dosis Skeptizismus vorschreiben – an Stelle der langwierigen, aber nutzlosen Quarantäne auf dem verrufenen Ellis Island.

Mein Gegenüber blinzelte mir zu und sagte mit deutlich merkbarem Triumph: »Ich kann keine Überraschungen erleben oder, besser gesagt: selbst die unangenehmsten werden schließlich noch zu angenehmen. Sie müssen nämlich wissen: Ich bin im Besitze eines Versicherungspatentes, das ermöglicht, jemanden um eine lächerlich niedrige Prämie gegen alle Überraschungen zu versichern!«

»Und was haben Sie noch?« fragte ich, um mich vollkommen zu vergewissern, daß der Mann mir gegenüber nicht auf rechtliche Weise in den Besitz seines für alle Auswanderer vorgeschriebenen Gesundheitszeugnisses gekommen sein konnte.

»Morgen will ich Ihnen die Listen zeigen. Der größte Schlager dürfte die Miniatur-Visitenkartendruckmaschine sein – – – nicht größer als eine Zündholzschachtel und doch imstande, hundert Karten in drei Minuten tadellos sauber herzustellen!«

»Ja – aber,« sagte ich, nur um etwas einzuwenden, »der Visitenkartenkonsum eines Normalmenschen ist doch nicht so groß, daß sich die Anschaffung einer kleinen Rotations – – –«

»Rotationspresse!« rief er, wie elektrisiert. »Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen! Ich erwarb nämlich in letzter Stunde eine Konstruktionszeichnung, die zwar noch nicht zum Patent angemeldet, aber dafür auch in Fachkreisen noch ganz unbekannt ist: Jede in Gebrauch befindliche moderne Rotationspresse kann durch eine einfache Vorrichtung auf die doppelte Produktion gebracht werden!«

Ich beschloß, der Unterredung ein Ende zu bereiten. »Haben Sie Feuer bei sich?« fragte ich, während ich mich erhob und meine Taschen vergeblich nach Zündhölzern durchsuchte.

Mein Gefährte horchte erfreut auf. »Sie müssen sich deutlicher ausdrücken,« sprach er mit großartiger Geste. »Ich trage bei mir Feuer in fester, flüssiger und zu Luft aufgelöster Form. Aber ich vermute, Sie wünschen bloß Zigarettenfeuer. Dafür genügt eines meiner Patentzündhölzchen, für die ich zehnjährige Garantie geben kann. Oder ziehen Sie ein elektrisches Feuerzeug vor?«

Um das Gespräch von den Patenten abzulenken, erkundigte ich mich bei dem Steward, der mir indessen Feuer gereicht hatte, über die Wetteraussichten. »Morgen gelangen wir in den Bereich der Golfströmung. Gewöhnlich ändert sich dann das Wetter mit einem Schlage,« sagte er.

Als ich meine Kajüte aufsuchte, war ich für eine Zeitlang von jeder Entdeckungssucht geheilt. Wohltuend empfand ich die Einsamkeit meiner netten kleinen Kammer und noch lange lauschte ich dem Plätschern und Brausen der Wellen. Ihr Spiel beruhigte meine aufgeregte Phantasie.

Ich schlief fest und traumlos.

 

Sechs Wochen später traf ich in Neuyork einen Reisegefährten. Nach flüchtiger Begrüßung war seine erste Frage: »Erinnern Sie sich noch an den Wiener mit den vielen Erfindungen?«

Wie oft hatte ich an ihn denken müssen, wenn ich hörte, welches Los alle Einwanderer, wenn sie nicht geschickte Handwerker oder mit genügend Geld versehen sind, in diesem Land erwartet! Und ich lachte, als ich an die Papageien und Kanarienvögel dachte, an die Barometeruhr, an das Versicherungspatent, die Visitenkartendruckmaschine, die Rotationspresse und an das »feste, flüssige und luftige« Feuer ...

Und nun erfuhr ich, daß der junge, hoffnungsfreudige Neffe von seinem Onkel kurzerhand auf die Straße gesetzt worden war, als er seine europäischen »Schätze« strahlenden Auges ausgepackt hatte. Das einzig Brauchbare, die kleine Barometeruhr, war – ein amerikanisches Patent.


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