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Um Mitternacht.

Durch die Avenida de Mayo zieht noch der Strom nächtlicher Pilger. Grellfarbiges Licht blitzt auf: an Firmenschildern und hoch oben über den flachen Dächern der zehnstöckigen Bauwerke. Autos gleiten fast lautlos vorüber, wie Glieder einer endlosen Kette. Dann und wann reißt sie, weil eine andere sie durchkreuzt – aber schon im nächsten Augenblick schließt sie sich wieder.

Noch um Mitternacht entfaltet die argentinische Riesenstadt ihren Reichtum und Luxus.

An den zahlreichen Kabaretts, Kasinos und Spielklubs gehe ich vorbei, dem Strande zu. Dort glänzen tausend Lichter und schimmern weit übers Meer.

Erst in der gestrigen Nacht bin ich angekommen; mit dem Flußdampfer durch das gewaltige Stromgebiet des La Plata.

Ich kam vom oberen Paraguay, wo er eben Brasilien erreicht, flußabwärts, durch endlosen, aber niemals eintönigen Urwald und an tausend Sandbänken vorbei, auf denen sich zahllose Alligatoren sonnen. Selten eine Stadt, hie und da eine junge Kolonie von strebsamen, zukunftsfreudigen Menschen, häufiger ein einsamer Rancho ... und dann – über dem nächtlichen Strom, der sich allmählich zur Bucht weitet, ein Meer von Licht: Buenos Aires.

Und nun stehe ich auf dem Kai, an dem die Wellen weiß aufschäumen und plätschernd hinaufspringen, als wollten sie das Licht auslöschen in den Laternen, die in kilometerlanger Reihe das Ufer umsäumen. Zu meiner Linken, matt beleuchtet, liegen die Hafenanlagen. Sie bergen hunderte Schiffe aus aller Welt. Rückwärts, in einiger Entfernung, hinter gepflegten Gärten, klettern, nordamerikanisch, Bauten turmhoch in das Dunkel der Nacht.

Mich lockt eine enge Straße, aus der noch fröhlicher Lärm später Zecher dringt, wo in den Kneipen noch lustig musiziert wird und Matrosen aller Farben und Nationen den Sold der letzten Wochen in wenigen Stunden verjuxen. Ich betrete solch' ein Lokal und lasse mich in einer halbdunklen Nische nieder.

Nur Männer sind Gäste. Aber die große Musikkapelle auf der Galerie besteht aus zwanzig jungen, grell geschminkten Mädchen. Zehn von ihnen haben Instrumente.

Die Matrosen schicken den verheißungsvoll lächelnden Schönen Glas um Glas des irrsinnig teueren Sekts. Einer hat sich die schlanke Französin ausgesucht, ein anderer die kleine, rundliche Mulattin. Und alle sind lustig und zufrieden und niemand kommt zu kurz, weil niemand seine Auserkorene dem anderen mißgönnt.

In meiner Nähe sitzen vier Japaner; ihre Augen glänzen. Keiner spricht ein Wort. Vielleicht sind sie traurig, weil ihre Chancen bei den Mädchen nur gering sind; denn die vier Japs trinken schwarzen Kaffee.

An meinem Nebentisch macht sich ein mächtiger Kerl breit, der keine Uniform trägt. Aber man merkt ihm den Stand unschwer an: Er ist Heizer. Heizer auf einem jener großen Ozeandampfer, die sechzehn Knoten laufen.

Der Riese bestellt eine Flasche Champagner. Er füllt für die kleine Mulattin den Kelch und schickt den Kellner auf die Galerie. Für sich schenkt er das Wasserglas voll bis an den Rand.

Ein heißer Blick von oben – und in einem Zug leeren der Mann und das Mädchen die Gläser.

Jetzt hat die Mulattin schon zwei Bewerber. Man begreift ihren Stolz.

Der erste, ein schwächlicher, etwas angetrunkener Matrose, tritt an den Tisch des Riesen. Dieser umarmt ihn; und füllt das eigene Glas für den anderen mit dem moussierenden Sekt.

Und wie sie ihre beiden braven und vernünftigen Kavaliere so friedlich beisammen sieht, da jauchzt sie vor Freude, die kleine, rundliche Mulattin ...

Ich zahle und gehe. – Es wird einsam um mich. Die Straßen haben sich fast geleert, aber aus den Kneipen dringt noch Jazzmusik. An den Straßenkreuzungen und auch vor den vielen Häusern, aus deren Glastüren und Fenstern rotes Licht quillt, stehen Schutzleute, mit Gummiknütteln bewaffnet.

Wohl eine halbe Stunde lang wandere ich durch die schmalen, halbdunklen Straßen. Da stockt mein Schritt.

Ich höre liebe, vertraute Musik: Guitarre und Gesang. Nach einem Vierteljahr zum erstenmal wieder ein Wiener Lied, ganz nach Heurigenart gespielt und gesungen; langgezogen, sentimental, schwül: »Wien ... Wien ... nur du allein ...«

Und andere Stimmen mischen sich in die des Sängers; echte Wiener Laute.

Ich trete ein.

Überhöht eine Art Loge, darin eine lustige Gesellschaft von jungen Leuten: Männer und Frauen. Unten sitzen nur der Guitarrespieler und ein kleiner, buckliger Mensch.

Ich bestelle Bier, das übliche Getränk.

Die Stammgäste in der Loge unterhalten sich lärmend in unverfälschtem Vorstadtdialekt: Ottakring oder Hernals. Burschen und Mädels necken einander, lachen und trinken.

»Wien ... Wien ...«

Nur der Wein fehlt.

Und deshalb wirkt das Lied, das der Mann mit der Guitarre auf meine Bitte noch einmal zu singen und spielen beginnt und in das alle, Wirt und Gäste, von neuem einstimmen, noch wehmütiger als sonst.


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