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XXII

Ende der Affäre des Erzbischofs von Cambray. Einschüchterungsversuche des Kardinals von Bouillon in Rom. Der Papst verurteilt Fénelons Buch. Freude des Königs darüber. Eine Äußerung des Herzogs von Beauvillier. Fénelon unterwirft sich ohne Zögern. Das Parlament als Schützer der Freiheiten der gallikanischen Kirche. Die Versammlungen der Bischöfe. Der Erzbischof von Cambray und seine Suffraganbischöfe. Tod Racines. Wie er in Ungnade fiel. Die Pension des Bischofs von Chartres. Zwei große Diebstähle. Der König, die Gräfin von Grammont und die Jansenisten. Der Herzog von Béthune und die päpstliche Unfehlbarkeit. Geburt des zweiten Sohnes Saint-Simons.

 

Die Affäre des Erzbischofs von Cambray näherte sich ihrem Ende und wirbelte mehr Staub auf als jemals. Dieser Prälat schrieb täglich irgendein neues Werk, um seine Maximes des Saints zu erläutern und zu stützen, und wandte dabei allen nur erdenklichen Geist auf. Seine drei Gegner antworteten darauf jeder für sich. Die Bitterkeit gewann schließlich auf beiden Seiten die Oberhand. Eine Ausnahme machte nur der Erzbischof von Paris, der stets eine große Mäßigung an den Tag legte und in diesem Sinne auf sie einzuwirken suchte, während der Erzbischof von Cambray und die Bischöfe von Meaux und von Chartres einander sehr schlecht behandelten.

Der König drängte in Rom auf ein Urteil. Seine Ungeduld war infolge seiner großen Unzufriedenheit mit dem Verhalten des Kardinals von Bouillon in dieser Angelegenheit im Wachsen, und er glaubte die Erledigung Der Gesandte von Spanien: der Kardinal del Giudice, der damals spanischer Geschäftsträger war.der Affäre daselbst zu beschleunigen, indem er Frau von Levis die Wohnung des Erzbischofs von Cambray in Versailles gab und Fénelon verbot, fernerhin den Titel Präzeptor der königlichen Prinzen zu führen, dessen Bezüge er ihm bereits genommen hatte, – ein Schritt, von dem er dem Papst und der zur Entscheidung des Falles eingesetzten Kongregation Mitteilung machen ließ.

In der Tat bot der Kardinal von Bouillon, der, wie man oben gesehen hat, mit Fénelon, seinen hervorragendsten Freunden und den Jesuiten in enger Beziehung stand, seinen ganzen Einfluß auf, die Verhandlung über die Angelegenheit hinauszuschieben und die Verurteilung des Erzbischofs zu verhindern, obwohl er Geschäftsträger des Königs in Rom war und Befehle über Befehle bekam, auf Beschleunigung der Entscheidung und auf die Verurteilung hinzuarbeiten. Er mußte sich dafür vom Könige sehr harte Vorwürfe gefallen lassen, sah sich dadurch jedoch nicht bewogen, sein bisheriges Verfahren aufzugeben, suchte vielmehr nur nach Entschuldigungen und Vorwänden. Als er endlich sah, daß kein Ausweichen mehr möglich war, errötete er nicht, den Befehlen des Königs schnurstracks zuwiderzuhandeln und offiziell zu Gunsten des Erzbischofs von Cambray einzutreten, für den der Gesandte von Spanien im Namen des Königs, seines Herrn, sich ebenfalls verwandte. Aber das war noch nicht alles: am Tage der Urteilssprechung begnügte er sich nicht damit, mit allem Nachdruck für Fénelon zu stimmen, sondern versuchte sogar die Konsulenten einzuschüchtern. Er unterbrach die Kardinäle der Kongregation, geriet in Hitze, schrie und ließ sich zu Schmähungen hinreißen, so daß der Papst, den man von diesem eigenartigen Verhalten verständigt hatte, und der aufs äußerste darüber entrüstet war, sich nicht enthalten konnte, von ihm zu sagen: è un porco ferito, »er ist ein verwundetes Wildschwein.«

Er schloß sich zu Hause ein und spie Feuer und Flammen und vermochte sich nicht einmal zu beherrschen, als er genötigt wurde, wieder zu erscheinen. Der Papst sprach die Verurteilung aus, die in Form einer Bulle abgefaßt wurde, und in die der römische Hof gewisse Termini einschmuggelte, die Frankreich für unzulässig erachtete. Er tat dies, weil er wußte, wie sehr der König darauf brannte, das Urteil in Händen zu haben.

Der Nuntius, der die Bulle durch einen Kurier erhielt, überbrachte sie alsbald dem Könige, der öffentlich seine Freude darüber kund gab. Der Nuntius sprach mit dem König zwischen dessen Lever und der Messe. Es war an einem Sonntag, dem 22. März (1699). Als der König von der Messe zurückkehrte, fand er den Herzog von Beauvillier in seinem Kabinett, der zur bevorstehenden Ratssitzung erschienen war. Sobald er ihn erblickte, ging er auf ihn zu und sagte zu ihm: »Nun Herr von Beauvillier, was sagen Sie jetzt? Der Erzbischof von Cambray ist in aller Form verurteilt!«

»Sire,« erwiderte der Herzog respektvoll, aber doch bestimmt, »ich bin ein vertrauter Freund des Erzbischofs von Cambray gewesen, und ich werde es immer sein, wenn er sich dem Papste aber nicht unterwirft, so werde ich nie wieder zu ihm in Beziehung treten.«

Der König sagte kein Wort, die Anwesenden aber waren voll Erstaunen über seine so unerschütterliche Großherzigkeit einerseits und eine so bündige Erklärung anderseits, die wohl eine Unterwerfung enthielt, sie aber auf die Kirche einschränkte. Die Registrierung der Bulle durch das Parlament war seit dem Konkordat notwendig, wenn sie in Frankreich zur Geltung gebracht werden sollte. Sie erfolgte unter voller Wahrung der gallikanischen Auffassung von der Autorität des Papstes.

Der Erzbischof von Cambray erfuhr sein Schicksal in einem Augenblick, der einen Mann, der weniger Hilfsquellen in sich selbst gehabt hätte, zu Boden gedrückt haben würde. Er war im Begriffe auf die Kanzel zu steigen, geriet jedoch nicht in Verwirrung; er ließ die Predigt, die er vorbereitet hatte, beiseite, und ohne einen Augenblick zu zögern, wählte er als Thema die der Kirche schuldige Unterwerfung. Er behandelte diese Materie auf eine feste und Rührung erweckende Art, verkündete die Verurteilung seines Buches, widerrief seine Ansicht, die er darin vertreten hatte und schloß seine Predigt mit einer vollkommenen Unterwerfung unter das Urteil, das der Papst soeben ausgesprochen hatte. Zwei Tage darauf veröffentlichte er einen ganz kurzen Hirtenbrief, in dem er alles zurücknahm, sein Buch verurteilte, dessen Lektüre verbot, sich von neuem seiner Verurteilung unterwarf und sich durch die eindeutigsten, bündigsten und entschiedensten Worte alle Möglichkeiten, wieder andern Sinnes zu werden, abschnitt.

Eine so prompte, so klare und so öffentliche Unterwerfung wurde allgemein bewundert. Der Bischof von Meaux, der am Hofe war, empfing die Glückwünsche der ganzen Gesellschaft, die in Scharen zu ihm eilte. Der Bischof von Chartres war in Chartres, wo er auch blieb, und der Erzbischof von Paris bewies eine große Mäßigung. Frau von Maintenon schien auf dem Gipfel der Freude.

Die Schwierigkeit ergab sich nachher, als es sich um die Eintragung in die Register des Parlaments handelte. Sie lag in der Form dieser Bulle und in den Ausdrücken darin, die den Freiheiten der gallikanischen Kirche zuwiderliefen, Freiheiten, die weder Neuerungen, noch Konzessionen oder Privilegien sind, sondern ein konstanter Gebrauch, in dem sich die Anhänglichkeit an die alte Disziplin der Kirche zu erkennen gibt, ein Gebrauch, der sich den Usurpationen des römischen Hofes nicht gefügt und nicht zugelassen hat, daß er sich Eingriffe erlaubte, wie er es bei den Kirchen der andern Nationen getan hat. Man griff daher, um alles unter Dach und Fach zu bringen, zu folgendem Auskunftsmittel: es erging ein Rundschreiben des Königs an alle Metropoliten seines Reiches, durch das er ihnen befahl, sie sollten jeder ihre Suffraganbischöfe versammeln und mit ihnen die soeben vom Papste ausgesprochene Verurteilung der Maximes des Saints des Erzbischofs von Cambray besprechen. Zugleich schickte er ihnen je eine Abschrift der päpstlichen Bulle.

Die Bischöfe leisteten diesem Befehl umso schneller Folge, als diese Art von Versammlung nach Kirchenprovinzen, wenn sie auch auf eine Materie beschränkt war, stark an die Provinzialkonzilien erinnerte, und die Unterbrechung dieser Art Konzilien, mit denen die Bischöfe Mißbrauch getrieben hatten, indem sie im Interesse ihrer Autorität eine Menge weltlicher Angelegenheiten hineinzogen, einer ihrer Hauptschmerzen war. Infolge dieses Ausweges sah es so aus, als ob unsere Bischöfe das Buch und die Verurteilung desselben einer Prüfung zu unterziehen hätten und dem Urteil des Papstes nur als mit ihm gemeinsam urteilende berufene Richter in Sachen der Lehre beiträten. Sie nahmen darüber Protokolle auf, die sie an den Hof sandten, und auf diese Weise waren die Schwierigkeiten behoben, und das Parlament trug die Verurteilung des Erzbischofs von Cambray gemäß der Beistimmung der Bischöfe Frankreichs in Form eines Urteils in die Register ein.

Der Erzbischof von Cambray ertrug diesen letzten Verdruß mit derselben Seelengröße, mit der er seine Verurteilung aufgenommen und sich ihr unterworfen hatte. Er versammelte seine Suffraganbischöfe wie die andern Metropoliten und fand dabei Gelegenheit, seine Geduld in ein ebenso helles Licht zu stellen, wie seine Unterwerfung. Valbelle, Bischof von Saint-Omer, ein karrieresüchtiger Provenzale, schämte sich nicht, Schmerz auf Schmerz zu häufen, weil er sich dadurch angenehm zu machen dachte. Er erklärte in der Versammlung, es genüge nicht, das Buch »Die Maximen der Heiligen« zu verurteilen, man müsse gleichzeitig alle Werke verurteilen, die der Erzbischof von Cambray geschrieben habe, um es zu stützen.

Fénelon antwortete bescheiden, er stimme von ganzem Herzen der Verurteilung seines Buches »Die Maximen der Heiligen« bei und habe, wie man wisse, diese Versammlung nicht erst abgewartet, um öffentlich seine vollkommene Unterwerfung unter das gegen ihn ergangene Urteil zu erkennen zu geben; er glaube aber auch, er dürfe sie nicht auf Dinge ausdehnen, von denen in dem Urteil nichts enthalten sei; der Papst habe sich über alle zur Stützung des verurteilten Buches abgefaßten Schriften in Schweigen gehüllt; er glaube daher, sich ganz nach dem Urteil des Papstes richten und wie er das in Frage stehende Buch verurteilen, bezüglich aller anderen Schriften aber nach seinem Vorbilde in Schweigen verharren zu müssen.

Es ließ sich nichts Weiseres, nichts Maßvolleres, nichts der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Wahrheit Entsprechenderes denken, als diese Antwort. Sie befriedigte den Bischof von Saint-Omer, der sich auszeichnen und von sich reden machen wollte, jedoch nicht. Er geriet in Hitze und bestand unter langen und heftigen Auslassungen, die der Erzbischof von Cambray seelenruhig und ohne ein Wort der Erwiderung anhörte, auf seiner Forderung.

Als der Provenzale endlich fertig war, erklärte der Erzbischof von Cambray, er habe seiner ersten Antwort auf den Antrag des Bischofs von Saint-Omer nichts hinzuzufügen, und es sei nunmehr Sache der beiden andern Prälaten zu entscheiden; ihrer Meinung werde er sich, das erkläre er im voraus, ohne Widerrede fügen.

Die Bischöfe von Arras und von Tournay beeilten sich, für die Ansicht des Erzbischofs von Cambray zu stimmen und gaben dem Bischof von Saint-Omer ihren Unwillen zu erkennen, der nicht aufhörte, zwischen seinen Zähnen erregte Worte zu murmeln und zu drohen. Er mußte aber die Erfahrung machen, daß er sich in seiner Rechnung stark getäuscht hatte. Der überwiegende Teil der öffentlichen Meinung erhob sich gegen ihn, der Hof selbst tadelte ihn, und als er das nächstemal dort erschien, begegneten ihm sogar diejenigen, die er als seine Freunde betrachtete, und die weder dem Erzbischof von Cambray noch dessen Freunden gewogen waren, mit Kälte.

 

Fast um dieselbe Zeit verlor Frankreich den berühmten Racine, der so bekannt ist durch seine schönen Theaterstücke. Niemand hatte einen reicheren und anziehenderen Geist. In seinem Umgange zeigte er nichts vom Dichter, umsomehr vom Manne von Erziehung. Er war bescheiden in seinem Auftreten und ein trefflicher Charakter. Er hatte die hervorragendsten Freunde am Hofe sowohl wie unter den Gelehrten, und letzteren muß ich es überlassen, ihm gerecht zu werden. Sie können es besser, als ich es vermöchte. Als der König an seinem Karbunkel litt, ließ er Racine in seinem eigenen Zimmer übernachten, damit er ihm Plutarchs Lebensbeschreibungen vorlese, obgleich er nicht das Amt eines Lektors hatte. – Die » Oper« und die » Komödie«; gemeint ist die Opéra oder Académie royale und die Comédie-Française.

Er schrieb zur Unterhaltung für den König und Frau von Maintenon und zur Übung für die Fräulein von Saint-Cyr zwei meisterhafte Theaterstücke: »Esther« und »Athalie«, Werke, die umso größere Schwierigkeiten für den Dichter boten, als nichts von Liebe darin vorkommt und es heilige Tragödien sind, in denen die geschichtliche Wahrheit um so strenger gewahrt ist, als der der heiligen Schrift schuldige Respekt keine Verfälschung derselben zulassen durfte. Bei der Aufführung vor dem Könige und einem ganz kleinen Kreise Bevorzugter bei Frau von Maintenon zeichneten sich die Gräfin von Ayen und Frau von Quailus vor allen anderen durch ihr Spiel aus. In Saint-Cyr wurde mehrmal der ganze Hof zugelassen, aber mit Auswahl.

Racine wurde gemeinsam mit seinem Freunde Despréaux mit der Abfassung der Geschichte des Königs betraut. Dieser Auftrag, die Stücke, von denen ich sprach, und seine Freunde verschafften ihm die Auszeichnung des privaten Verkehrs mit dem Könige. Es geschah sogar manchmal, daß der König, wenn er bei Frau von Maintenon keine Minister empfing, wie an den Freitagen, namentlich wenn das schlechte Winterwetter die Sitzungen daselbst sehr lang machte, Racine holen ließ, damit er ihnen die Zeit vertreibe. Zu seinem Unglück litt er aber manchmal an starker Zerstreutheit.

Eines Abends, als er bei Frau von Maintenon zwischen dem König und ihr saß, kam das Gespräch auf die Theater von Paris. Nachdem man die Oper durchgesprochen hatte, kam die Komödie an die Reihe. Der König informierte sich über die Stücke und die Schauspieler und fragte Racine, woher es komme, daß die Komödie – so habe er wenigstens sagen hören, – von der Höhe, auf der er sie ehemals gesehen, so tief herabgesunken Cul-de-jatte (deutsch: ein Krüppel ohne Beine, der auf dem Hintern fortrutscht), eine der Anzüglichkeiten, die Saint-Simon mit großer Vorliebe gegen Scarron richtet. – Port-Royal-des-Champs; der Sitz des Klosters der Nonnen von Port-Royal-des-Champs war 1626 nach Paris verlegt worden. Im Anschluß an den großen Klosterbau in der Rue de la Bourbe wurden noch eine Anzahl von Einsiedeleien errichtet, die zur Aufnahme hervorragender Laien dienten, die dort ein asketisches Leben führten. Port-Royal war der Hauptsitz des Jansenismus und der Jesuitenpartei ein Dorn im Auge. Racine selbst hat einen Abrégé de l'histoire de Port-Royal geschrieben. Nachdem bereits 1660-69 Versuche gemacht worden waren, die jansenistischen Tendenzen der Nonnen zu ersticken und eine Anzahl der letzteren in andere Klöster verpflanzt worden, auch die Aufnahme von Novizen verboten worden war, löste Ludwig XIV. 1710 das Kloster auf. Bei dieser Gelegenheit wurde der Sarg Racines mit denen anderer berühmter Einsiedler nach Saint-Etienne-du-Mont überführt.sei. Racine gab ihm mehrere Gründe dafür an und schloß mit demjenigen, der seiner Meinung nach am meisten in's Gewicht fiel, nämlich, daß die Schauspieler in Ermangelung neuer Autoren und guter neuer Stücke, alte aufführten und unter andern jene Stücke von Scarron, die nichts taugten und alle Welt zurückstießen.

Bei dieser Äußerung errötete die arme Witwe, nicht etwa wegen des angegriffenen Rufes des Cul-de-jatte, sondern weil sie ihren Namen und noch dazu vor dem Nachfolger aussprechen hörte. Der König geriet in Verlegenheit, das plötzlich eingetretene Schweigen weckte den unglücklichen Racine aus seiner Zerstreutheit, und er fühlte den Abgrund, in den sie ihn soeben gestürzt hatte. Er war nun der verwirrteste von allen Dreien und wagte weder mehr die Augen zu erheben, noch den Mund zu öffnen.

Dieses Schweigen dauerte eine ganze Weile, so empfindlich und tief war die Überraschung. Der Schluß war, daß der König Racine fortschickte, indem er erklärte, er gehe an die Arbeit. Der Dichter verließ bestürzt die Gemächer der Frau von Maintenon und suchte mehr tot als lebendig das Zimmer Cavoyes auf. Dieser war sein Freund, und ihm erzählte er seine Dummheit.

Sie war in der Tat derart, daß sie sich nicht wieder gut machen ließ. Weder der König, noch Frau von Maintenon richteten seitdem je wieder ein Wort an Racine, ja sahen ihn nicht einmal mehr an. Er empfand darüber solchen Kummer, daß er in Trübsinn verfiel und keine zwei Jahre mehr lebte. Er benutzte diese eifrig für sein Seelenheil. Er ließ sich in Port-Royal-des-Champs begraben, mit dessen berühmten Bewohnern er seit seiner Jugend in enger Verbindung gestanden hatte, in einer Verbindung, die seine poetische Entwicklung sogar wenig unterbrochen hatte, obwohl sie weit davon entfernt war, von ihnen gebilligt zu werden.

Der Ritter von Coislin hatte sich dort ebenfalls bestatten lassen, neben seinem berühmten Oheim, Herrn von Pontchâteau. Man sollte gar nicht glauben, wie sehr sich der König durch diese beiden Beerdigungen verletzt fühlte.

 

Der König gab dem Bischof von Chartres 20 000 Livres Pension, aber ganz im geheimen. Seine Reisen und seine Werke kosteten ihn viel; er fürchtete, seinen Verbindlichkeiten nicht nachkommen zu können und Schulden zu hinterlassen, die nicht zu decken wären, daher bat er um eine Abtei. Er genoß das Vertrauen, um die Heirat des Königs zu wissen; denn der König hatte es für gut befunden, daß Frau von Maintenon ihm das Geheimnis der Eheschließung anvertraute. Er hatte die Freiheit, mit ihnen darüber zu sprechen und ihnen gesondert darüber zu schreiben. Der König wollte ihm keine Abtei geben; er hatte bereits eine, und da fand der König, daß das einen unangenehmen Gegensatz zu dem Erzbischof von Cambray bilden würde, der die seinige zurückgegeben hatte, als er Erzbischof wurde. Um nun eine öffentliche Diskussion zu vermeiden, gab er ihm an Stelle einer Abtei diese Pension, die ihm in Monatsraten ausbezahlt wurde.

 

Im großen Marstall zu Versailles wurde in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni ein sehr verwegener Diebstahl ausgeführt. Während der König in Versailles war, wurden alle Schabracken und Pferdedecken mitgenommen. Es waren deren für mehr als 50 000 Taler dagewesen. Die Maßnahmen wurden so gut getroffen, daß keine Seele in einem so stark bewohnten Hause etwas davon merkte und in einer so kurzen Nacht alles fortgeschleppt wurde, ohne daß man je eine Spur davon entdeckt hat. Monsieur le Grand tobte und alle seine Untergebenen ebenfalls. Man sandte überall hin Boten aus, durchsuchte Paris und Versailles, aber alles umsonst.

Dies erinnert mich an einen andern Diebstahl, der etwas noch viel Rätselhafteres an sich hatte und ganz kurz vor dem Datum des Beginnes dieser Memoiren erfolgte. Das große Appartement, das von der Galerie bis zur Tribüne reichte, war mit karmesinfarbenem Sammet mit Krepinen und Fransen von Gold ausgeschlagen. Eines schönen Morgens fanden sich diese alle abgeschnitten. Das war wie ein Wunder an einem den ganzen Tag so begangenen, während der Nacht so sicher verschlossenen und zu allen Stunden so wohlbewachten Orte. Bontemps, der in Verzweiflung war, stellte alle erdenklichen Nachforschungen an und ließ sie anstellen, aber ohne jeden Erfolg.

Fünf oder sechs Tage darauf war ich bei der Abendtafel des Königs; zwischen ihm und mir war nur d'Aquin, der erste Arzt des Königs. Kurz bevor das Zwischengericht aufgetragen wurde, bemerkte ich über dem Tische in der Luft eine sehr umfängliche, anscheinend schwarze Masse, die zu unterscheiden oder auf die hinzudeuten ich keine Zeit hatte, so rapid fiel dieses große Etwas auf das Ende des Tisches vor die Stelle, wo die Gedecke des Herzogs und der Herzogin von Orléans zu liegen pflegten, die gerade in Paris waren und stets am Ende der Tafel zur Linken des Königs, mit dem Rücken zu den Fenstern, die auf den großen Hof hinausgehen, saßen. Bei dem Lärm, den der Gegenstand beim Fallen machte, und bei seiner Schwere meinte man, die Tafel bräche zusammen. Die Teller sprangen in die Höhe, ohne daß jedoch einer auf den Boden fiel, und zufälligerweise fiel der Klumpen auf das Tafeltuch und nicht auf die Teller.

Bei dem Schlag, der durch den Fall entstand, wandte der König den Kopf ein wenig und sagte ohne das geringste Zeichen der Erregung: »Ich denke, das sind meine Fransen.«

Es war in der Tat ein Paket Fransen, breiter als ein Priesterhut mit flachgedrückten Rändern und ungefähr zwei Fuß hoch, geformt wie eine schlecht gebaute Pyramide. Dieses Paket war weit hinter mir aus der Gegend der Mitteltür zu den beiden Vorzimmern hergekommen, und eine große Franse, die sich in der Luft losgelöst hatte, war oben auf die Perrücke des Königs gefallen, wo sie von Livry bemerkt und fortgenommen wurde. Er näherte sich dem Ende der Tafel und sah, daß es wirklich die zu einem Paket zusammengeschnürten Fransen waren, und alle Anwesenden sahen es gleichfalls. Das verursachte ein momentanes Gemurmel.

Livry wollte das Paket beseitigen und fand dabei ein Billett, das daran befestigt war. Er ergriff es und ließ das Paket liegen. Der König streckte die Hand aus und sagte: »Sehen wir einmal.« Livry wollte das nicht, und mit Recht; er trat ein wenig zurück, las das Billett leise und reichte es hinter dem König herum dem ersten Arzte, in dessen Hand ich es zugleich mit ihm las. In verstellter langgezogener Schrift, die aussah, wie die einer Frau, stand darauf wörtlich zu lesen: »Nimm Deine Fransen wieder, Bontemps, die Mühe übersteigt die Freude daran, meine Handküsse dem Könige.« Nach den Memoiren des Marquis de Sourches ließ der König gleich nach dem Wurf des Pakets alle Türen schließen, freilich ohne Ergebnis. – Ähnliche Diebstähle kamen in Versailles häufiger vor, und die Schuldigen waren oft nicht Diebe von Profession. Einmal wurde ein Edelmann in flagranti ertappt.

Es war zusammengerollt und nicht verschlossen. Der König wollte es d'Aquin aus der Hand nehmen, dieser aber wich aus, roch daran, rieb es zwischen den Fingern, drehte und wendete es, und zeigte es dann dem Könige, ohne es von ihm berühren zu lassen. Der König sagte ihm, er solle es laut vorlesen, obwohl er selbst es gleichzeitig las. »Das nenne ich unverschämt«, sagte er, als er es gelesen hatte, aber ohne jede Veränderung im Ton. Darauf befahl er, das Paket zu entfernen. Livry fand es so schwer, daß er es kaum vom Tische heben konnte, und übergab es einem blauen Diener, der herbeikam.

Der König kam auf diesen Vorfall mit keinem Worte zurück, und niemand wagte ihn ferner zu erwähnen, wenigstens nicht laut. Der Rest des Abendessens ging vorüber, als ob nichts geschehen sei.

Abgesehen von der maßlosen Schamlosigkeit und Unverschämtheit, ist es die außerordentliche Gefahr für den Täter, die zu denken gibt. Wie war es möglich, aus einer derartigen Entfernung ein Paket von diesem Gewicht und diesem Umfange zu schleudern, ohne von Helfershelfern umgeben zu sein, zumal inmitten einer so großen Menge, wie sie stets bei der Abendtafel des Königs anwesend zu sein pflegte? Und wie konnte trotz eines Ringes von Helfershelfern das weite Ausholen der Arme zu einem so starken Schwunge so vielen Augen entgehen?

Der Herzog von Gesvres hatte dieses Jahr Dienst. Weder er noch sonst jemand kam eher auf den Gedanken, die Türen schließen zu lassen, als bis der König von Tische aufgestanden war. Man kann sich denken, daß die Schuldigen nicht im Schlosse geblieben waren, da sie mehr als drei Viertelstunden alle Ausgänge frei gehabt hatten. Als man endlich die Türen geschlossen hatte, fand man nur einen einzigen Mann, den niemand kannte, und den man festnahm. Er sagte, er sei ein Edelmann aus der Saintonge und ein Bekannter des Herzogs von Uzès, des Gouverneurs dieser Provinz. Der Herzog war in Versailles; man ließ ihn bitten ins Schloß zu kommen. Er war gerade im Begriffe, zu Bett zu gehen. Er war alsbald zur Stelle, erkannte jenen Edelmann, verbürgte sich für ihn, und auf dieses Zeugnis hin entließ man den Verhafteten, indem man sich entschuldigte. Niemals ist es gelungen, etwas über diesen Diebstahl oder die seltsame Art der Zurückerstattung ans Licht zu bringen.

 

Der König, der die Oktave des heiligen Altar-Sakraments wegen der beiden Prozessionen und der Schlußgebete stets in Versailles verbrachte, ging auch stets nach dem Schlußgebet der Oktave nach Marly. Er entdeckte dieses Jahr, daß die Gräfin von Grammont einige Tage dieser Oktave in der Abtei Port-Royal-des-Champs zugebracht hatte, wo sie erzogen worden war, und für die sie große Zuneigung bewahrt hatte.

Dies war ein Verbrechen, das für jede andere unverzeihlich gewesen wäre, aber der König hatte persönlich für sie eine wirkliche Hochachtung und eine Freundschaft, die Frau von Maintenon höchlich mißfiel, die sie jedoch nie zu zerstören vermochte, und in die sie sich allmählich ergeben hatte, weil ihr nichts anders übrig blieb. Sie gab ihr häufig ihre Eifersucht durch kleine Ausfälle zu erkennen, aber die Gräfin, die sehr stolz war und auch sehr vornehm aussah und einen hoheitsvollen Ausdruck im Gesichte hatte, dabei Spuren früherer Schönheit zeigte und mehr Geist und Anmut besaß, als irgendeine Dame am Hofe, gab sich nicht die Mühe, darauf einzugehen und zeigte ihrerseits Frau von Maintenon durch die geringe Aufmerksamkeit, die sie ihr bewies, daß sie sich zu diesem Minimum nur aus Respekt vor der Neigung des Königs herbeiließ.

Diese Reise also, die Frau von Maintenon sich zu nutze zu machen trachtete, brachte der Gräfin nur eine Buße, nicht aber die Ungnade des Königs. Sie, die stets alle Reisen nach Marly mitmachte und überall dabei war, wohin der König ging, beteiligte sich an dieser nicht. Das war etwas ganz Neues. Sie machte sich ganz im geheimen mit ihren Freunden darüber lustig, schwieg aber im übrigen und begab sich nach Paris. Zwei Tage darauf schrieb sie durch ihren Gatten, dem es unbenommen war, nach Marly zu gehen, an den König, an Frau von Maintenon jedoch schrieb sie nicht, ließ ihr auch nichts sagen. Der König sagte zu dem Grafen von Grammont, der seine Frau zu rechtfertigen suchte, sie habe wissen müssen, wie er über ein so vollkommen jansenistisches Haus denke. Er verabscheute nämlich diese Sekte.

Kurz nachdem der Hof nach Versailles zurückgekehrt war, erschien die Gräfin von Grammont daselbst und sah den König privatim bei Frau von Maintenon. Er schalt sie aus, und sie versprach, nicht mehr nach Port-Royal zu gehen, ohne sich jedoch im allergeringsten davon loszusagen. Sie schlossen wieder Frieden miteinander, und zum großen Mißvergnügen Frau von Maintenons hatte die Sache keine weiteren Folgen.

 

Die Freunde des Erzbischofs von Cambray hatten sich mit der Hoffnung geschmeichelt, der Papst würde, von einer so umgehenden und vollkommenen Unterwerfung entzückt, Fénelon durch den Purpur entschädigen, zumal er in dem Urteil, das er erlassen, mehr Nachgiebigkeit gegen den König als irgend welche andere Gesinnung zu erkennen gegeben hatte; und es machten sich in der Tat Bemühungen geltend, die darauf abzielten. Man behauptet sogar, der Papst habe große Neigung dazu gehabt, es aber nicht gewagt, da er sah, daß die Unterwerfung die Ungnade des Königs in keiner Beziehung zu mildern vermocht hatte.

Der Herzog von Béthune, der jede Woche nach Versailles kam, speiste dort sehr oft bei mir zu Mittag und konnte sich nicht enthalten, mit uns über den Erzbischof von Cambray zu sprechen. Er wußte, daß er hier sicher war und kannte mein vertrautes Verhältnis zu dem Herzog von Beauvillier. Als man die Hoffnung auf den Kardinalshut aufgeben mußte, ging er eines Tages, als er bei mir war, so weit, daß er sagte, er habe stets geglaubt, der Papst sei unfehlbar; er habe oft mit der Gräfin von Grammont darüber disputiert, er gestehe aber, daß er seit der Verurteilung des Erzbischofs von Cambray nicht mehr daran glaube. Er fügte hinzu, man wisse wohl, daß es sich bei der ganzen Sache hier um eine Kabale, in Rom aber um eine Frage der Politik gehandelt habe; aber die Zeiten änderten sich, und er hege die bestimmte Hoffnung, daß auch dieses Urteil sich ändern und zurückgezogen werden würde, es gebe dafür gute Mittel.

Wir fingen an zu lachen und sagten zu ihm, es sei schon viel, daß dieses Urteil ihn von dem Irrtum der Unfehlbarkeit des Papstes habe zurückkommen lassen, und daß der Anteil, den er an der Affäre des Erzbischofs von Cambray nehme, ihm die Augen mehr zu öffnen vermochte, als der Glaube aller Jahrhunderte und so viele schwerwiegende Gründe, die diese neue und gefährliche Wirkung des römischen Hochmutes und Ehrgeizes und des Eigennutzes derjenigen zerstörten, die in ihrem Eintreten dafür soweit gingen, daß sie ein verderbliches Dogma daraus machen wollten.

 

Am 12. August (1699) wurde Frau von Saint-Simon sehr glücklich entbunden, und Gott erwies uns die Gnade, uns einen zweiten Sohn zu schenken. Er bekam den Namen Marquis von Ruffec, nach einer schönen Besitzung in der Provinz Angoumois, die meine Mutter von der ihrigen gekauft hatte. Der Hufschmied von Salon, François Michel Placide, geb. 1661, gest. 1726. Es existieren mehrere gestochene Porträts von ihm.


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