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Der Herzog von Saint-Simon

Saint-Simons Memoiren

von Sainte-Beuve

 

Keine Literatur ist reicher an Memoiren als die französische: mit Villehardouin zu Ende des XII. Jahrhunderts beginnen die ersten Memoiren in französischer Sprache, die wir besitzen. Unsere Prosa zeigt sich dort bereits einfach, ungekünstelt und natürlich, Eigenschaften, die sie nicht wieder verlieren sollte, und schlägt Töne epischer Größe an, die sie nicht immer zu bewahren vermochte. Nach Villehardouin, der sich als das erste Denkmal am Horizonte zeigt, besitzt Frankreich, selbst in jenen fernen Jahrhunderten eine Aufeinanderfolge bewundernswerter historischer Gemälde, entworfen von Zeugen und Zeitgenossen, von Froissart, Commynes und andern nach ihnen. Man gelangt auf diese Weise durch eine ununterbrochene Reihe von denkwürdigen Erzählungen bis zu Ludwigs XIII. und Ludwigs XIV. Zeiten, die so reich sind an Schriftwerken und Zeugnissen dieser Art. Mit den Erinnerungen des Kardinals von Retz schien es, als sei in jeder Beziehung der Gipfel erreicht und keine Hoffnung mehr vorhanden, daß sie überboten würden. Da sind aber die Memoiren Saint-Simons gekommen und haben, was Reichhaltigkeit, Umfang, Zusammenhang, Eigenschaften des Ausdrucks und der Farbe angeht, Verdienste bewiesen, die aus ihnen das größte und wertvollste Memoirenkorpus gemacht haben, das bis heute existiert.

»Ich glaube behaupten zu können«, schrieb der Autor, als er sein Werk abschloß, »daß es bis jetzt keine Memoiren gegeben hat, die eine größere Mannigfaltigkeit der Gegenstände, noch eine gründlichere Ausschöpfung und eingehendere Behandlung derselben aufzuweisen hätten, noch auch eine lehrreichere und merkwürdigere Zusammenstellung böten,« und er hat damit vollkommen recht gehabt.

Diese ungeheuern Memoiren, die erst 1829-1830 vollständig erschienen sind, waren den Liebhabern und den Historikern seit langem bekannt und wurden von ihnen benutzt. Duclos und Marmontel haben sich ihrer für ihre Darstellungen der Regentschaft fortwährend bedient. Man sieht Frau von Deffand in ihren Briefen an Horace Walpole ganz voll von den Memoiren Saint-Simons, die sie sich vorlesen läßt: der Herzog von Choiseul hatte ihr – eine besondere Gunst – das auf dem auswärtigen Amte niedergelegte Manuskript geliehen. Sie spricht unaufhörlich davon, und ihre Eindrücke wechseln im Lauf der Lektüre. Sie findet sie zuerst einfach unterhaltend, »obgleich ihr Stil abscheulich und die Personen schlecht gezeichnet sind«, d. h. wie mit breitem Pinsel und in ungewöhnlichen Farben hingeworfen. Bald aber reißt sie die Empfindung der Wahrheit hin; sie ist gepackt; sie ist verzweifelt, daß Walpole nicht bei ihr ist, um diese unvergleichliche Lektüre mitzugenießen: »Sie würden aus dem Entzücken gar nicht herauskommen; Sie würden ein unsagbares Vergnügen daran haben; Sie würden außer sich darüber sein«, schreibt sie ihm dicht hintereinander. Und das ist in der Tat die Wirkung, die diese Memoiren auf alle ausüben, die sie im Zusammenhang lesen; sie bringen den Leser außer sich, versetzen ihn, ob er will oder nicht, mitten unter die lebensvollen Personen und Szenen, die sie schildern.

Die Existenz dieser Memoiren war indeß für viele Leute, die sich und die Ihrigen darin schlecht behandelt und mit Flammenschrift gezeichnet wußten, ein Schrecken. Voltaire, der das Jahrhundert Ludwigs XIV. mit soviel Talent und so reizvoll, aber licht in licht gezeichnet hatte und darauf aufmerksam gemacht wurde, daß die Autorität Saint-Simons ihm eines Tages Widerspruch zuziehen könnte, hatte die Absicht gefaßt, einige Stellen dieser Memoiren zu widerlegen. Bei seiner letzten Reise nach Paris und im Augenblick seines Todes war er mit dieser Widerlegung beschäftigt. Mir scheint aber, daß Voltaire, was das Zeitalter Ludwigs XIV. angeht, sich mehr vom Patriotismus, als von der historischen Wahrheit leiten ließ. In einem Briefe an den Marschall von Noailles (1752), wo er von gewissen Schriftstücken spricht, von Depeschen Chamillards, die er in Händen gehabt, und die imstande gewesen wären, den Minister von 1701 bis 1709 zu entehren, schreibt er: »Mehr darauf bedacht, was meiner Nation zum Ruhme gereichen und nützlich sein kann, als unangenehme Wahrheiten zu sagen, war ich so diskret, keinen Gebrauch davon zu machen.«

Von diesem Gesichtspunkt ist Saint-Simon weit entfernt, und man hat mit Recht von ihm gesagt, er sei »wißbegierig wie Froissart, eindringend wie La Bruyère und leidenschaftlich wie Alceste« gewesen.

Saint-Simon, geboren im Januar 1675 als Sohn eines bereits bejahrten Vaters, eines alten Günstlings Ludwigs XIII., der diesem Fürsten alles zu verdanken hatte, von einer tugendhaften vornehmen Mutter erzogen, zeigte schon früh eine starke Neigung für die Lektüre, besonders für die Lektüre von Geschichtswerken. Als er die historischen Memoiren, die seit den Zeiten Franz I. erschienen waren, las, faßte er, beinahe noch ein Knabe, den Gedanken, seinerseits alles niederzuschreiben und nach seinem Tode wieder aufleben zu lassen, was er sehen würde, war aber fest entschlossen, so lange er lebte, das Geheimnis für sich allein zu bewahren und sein Manuskript unter den sichersten Verschlüssen schlummern zu lassen, – eine Klugheit, wie sie bei einem jungen Manne selten zu finden und schon ein deutliches Zeichen der Berufung ist. Er begann seine Memoiren im Alter von neunzehn Jahren im Juli 1694, als er bei der Armee war. Seit dieser Zeit hörte er nicht auf zu schreiben und dazu alles, was er von den Dingen seiner Zeit irgend erfahren, wahrnehmen und erraten konnte, auszuforschen. Auch als er später, in der Zurückgezogenheit, die letzte Hand an seine Memoiren legte und ihnen die endgültige Form gab, geschah dies nach genauen Urkunden und täglichen Aufzeichnungen. Man kann also, um den Wert seines Zeugnisses zu entkräften, nicht geltend machen, daß er seine Memoiren erst spät und nach fernen und kombinierten Erinnerungen redigierte.

Das politische und öffentliche Leben Saint-Simons ist ziemlich bedeutungslos und würde kaum eine Erwähnung verdienen, wenn er nicht Beobachter und Geschichtsschreiber gewesen wäre. Er trat in den Heeresdienst und zog sich nach einigen Feldzügen aus Anlaß einer Zurücksetzung, die er erfuhr, ziemlich schnell davon zurück. Mit der Tochter des Herzogs von Lorge verheiratet, führte er ein wohlgeordnetes Leben in der allerersten Gesellschaft und zeigte sich bei jeder Gelegenheit sehr eifersüchtig auf die Wahrung der mit dem Range eines Herzogs und Pairs verknüpften Vorrechte bedacht. Er ließ sich aus dieser Veranlassung in mehrere Prozesse und Streitigkeiten ein, die er mit dem größten Eifer durchfocht, und die ihm, selbst zu seiner Zeit, den Ruf einer gewissen Manie und einen Anhauch von Lächerlichkeit eintrugen. Trotz der Reinheit seines Lebenswandels sehr mit dem Herzog von Orléans, dem künftigen Regenten, befreundet, hielt er bei den infamen Beschuldigungen, mit denen dieser verfolgt wurde, getreulich zu ihm und gewann später auf die Maßnahmen der Regentschaft einen sehr merklichen und sehr tätigen Einfluß. Dies ist auch der einzige Moment seines Lebens, in dem seine Tätigkeit eine historische Bedeutung hat. Er arbeitete damals mit aller Kraft daran, den Einfluß des Adels zu heben, den er in der Klasse und Gattung der Herzöge und Pairs verkörperte, und einerseits den Richterstand und das Parlament herabzudrücken, andrerseits die legitimierten Bastarde Ludwigs XIV., die sein schwerer Alp und ganzer Abscheu waren, von ihrem angemaßten Range herunterzustürzen. Danach fungierte er zeitweilig als Ehrengesandter in Spanien und zog sich dann in sein Refugium zurück, wo er erst 1755, achtzig Jahre alt, starb.

Anläßlich einer dieser Etikette- und Prärogative-Streitigkeiten, die Saint-Simon verursachte, konnte sich Ludwig XIV. nicht enthalten zu bemerken, es sei doch sonderbar, daß Herr von Saint-Simon, seit er den Dienst quittiert, an nichts weiter denke, als die Rangfragen zu studieren und aller Welt Prozesse anzuhängen.

Saint-Simon war ohne Zweifel von der Manie, die verschiedenen Rangordnungen und Rangstufen zu bestimmen, besessen, namentlich und vor allem andern aber von dem leidenschaftlichen Drang, zu beobachten, die Charaktere zu erforschen, auf den Gesichtern zu lesen, das Wahre und das Falsche der Intrigen und verschiedenen Ränke herauszufinden und alles das schriftlich zu fixieren, und zwar in einem lebendigen, sprühenden Stil voll neuer Wendungen, von einem unglaublichen Schmiß und einem Relief, wie es die Sprache bis dahin noch nie erreicht hatte. »Er schreibt teufelsmäßig für die Unsterblichkeit«, hat Châteaubriand von ihm gesagt. Das ist's, und noch mehr: Saint-Simon ist sozusagen der Spion seines Zeitalters; das ist sein Geschäft, und Ludwig XIV. hatte keine Ahnung davon. Aber was für ein furchtbarer Spion, ein Spion, der überall herumstreicht mit seiner heißhungrigen Wißbegier, um alles zu erhaschen! »Ich erforschte alle Persönlichkeiten mit den Augen und mit den Ohren«, gesteht er uns jeden Augenblick. Und dieses Geheimnis, das er sucht, und das er überall hervorzerrt, selbst aus den Eingeweiden, das überliefert er uns und breitet es vor uns aus, ich wiederhole es, in einer ausdrucksvollen, belebten, bis zur Wut erhitzten, von Freude oder von Zorn bebenden Sprache, die oftmals genau das ist, was man sich von einem auf dem Gebiete der Geschichte sich ergehenden Molière vorstellen würde.

Saint-Simon, so hat man gesagt, hat niemals auf ersprießliche Weise in den Gang der Geschäfte dieser Welt und in die Behandlung der Angelegenheiten seiner Zeit eingreifen können. Das glaube ich wohl: es gibt einen Grad von einschneidender Schärfe in der Beobachtung, von Empörung in dem moralischen Eindruck, von Schwung in der Begabung, der die politische Vorsicht und Geschicklichkeit ausschließt. Bei wem er sich findet, der eignet sich nur zu einem, nämlich aufzuzeichnen, zu erkennen und zu beurteilen, was die andern tun. Und Saint-Simon war es vorbehalten, es auf eine einzigartige Weise für die Nachwelt zu sagen und niederzuschreiben.

Es gibt zwei Arten, die Dinge und die Persönlichkeiten der Welt und der Geschichte zu nehmen. Hält man es mit der einen, so nimmt man sie, wie sie sich von außen geben, in ihrer scheinbaren und der Konvention entsprechenden Anordnung, in ihrer mehr oder weniger edlen und ernsten Haltung, und dieser erste Gesichtspunkt ist einfach, beinahe natürlich, wenn es sich um Epochen, wie die Ludwigs XIV. handelt, in denen das Dekorum maßgebend gewesen ist. In dem Sinne haben Voltaire selbst und de Bausset, der Historiker Bossuets und Fénelons, und andere mehr von dieser würdevollen Regierung gesprochen. Der große Moralist La Rochefoucauld hat die ernste Würde gewisser Leute als ein Geheimnis des Körpers, erfunden um die Mängel des Geistes zu verbergen, definiert. Und in der Tat, die Mehrzahl der Leute, die diese scheinbare Würde zeigen, fürchten mit gutem Grunde die Familiarität; sie haben Angst, wir möchten sie, wenn sie uns zu nahe herankommen lassen und sich damit ihres Panzers entledigen, anfassen und merken, wo sie sterblich sind. Ebenso ist es mit gewissen Zeitaltern, und gegen das Ende hatte die Regierung Ludwigs XIV. diese auf Distanz berechnete Art von Würde und Zeremoniell sehr nötig, um sich gegen die allzu scharfäugigen Geister zu schützen.

Für diese letzteren gibt es aber eine ganz anders zuverlässige Art, die Leute und die handelnden Persönlichkeiten zu packen, zu erforschen und zu sondieren, wenn sie sich auch dagegen sträuben, und sie ans Licht zu ziehen und erbarmungslos zu demaskieren. Man erfrage dieses Geheimnis und diese Kunst, die Leute zu entkleiden und ihr Innerstes nach außen zu kehren, nicht so sehr bei den eigentlichen Geschichtsforschern, als bei den Moralisten und bei den Schilderern der menschlichen Natur, unter welcher Form sie auch ihr Bild gegeben haben mögen, und ob sie sich nun Molière, Cervantes oder Shakespeare, oder auch Tacitus nennen. Diese innige Mischung des Moralisten und des Malers mit dem Historiker macht die Eigenart Saint-Simons aus und drängt sich ganz von selbst in dem ungeheueren historischen Fresko auf, das er uns hinterlassen hat.

Beobachten wir ihn beim Beginn seiner Memoiren. Er fängt in der Einleitung damit an, sich ernsthaft, aufrichtig und mit einer beinahe naiven Unruhe zu fragen, ob es erlaubt sei, die Geschichte, besonders die seiner Zeit, zu schreiben und zu lesen. Um sich in seiner Person über diese ziemlich sonderbare Frage und diesen Skrupel Rechenschaft zu geben, muß man sich vergegenwärtigen, daß Saint-Simon religiös, ein gläubiger, eifriger Christ, ein Christ der Tat war; daß er sich zwischen seinen Adelsstreitigkeiten und den Aufzeichnungen seiner unbarmherzigen Feder, oft zu Andachtsübungen nach la Trappe zurückzog. Er mag noch so eingenommen für etwas oder für jemand sein, er fühlt wohl, in welchem Augenblick die Barmherzigkeit unvereinbar scheinen kann mit dem tatsächlichen Aussehen und den unerbittlichen Dokumentierungen der menschlichen Natur sowohl, wie auch der Tatsachen der Geschichte, wenn man, wie er es tut, die Kehrseite des Gewebes betrachtet. »Ist«, so fragt er sich, »ein unschuldiges Nichtwissen einem so weit von der Barmherzigkeit entfernten Wissen nicht vorzuziehen?« Aber er antwortet beherzt und wie es einer hochsinnigen Natur ansteht. Nachdem er recht geschickt den heiligen Geist auf seine Seite gebracht hat, indem er sagt, daß der heilige Geist es ja nicht unter seiner Würde gefunden habe, in eigener Person die ersten Geschichtsbücher zu diktieren, zieht er daraus den Schluß, daß es erlaubt sei, Umschau zu halten und gegen sich selbst diese wohlerwogene Barmherzigkeit zu üben, die darin besteht, den Intriganten gegenüber nicht im Zustande eines blinden, stumpfsinnigen und beständig angeführten Menschen zu verharren: »Die Bösen, die auf dieser Welt schon so viele Vorteile über die Guten haben, würden über sie noch einen weiteren sehr auffallenden haben, wenn es diesen nicht erlaubt wäre, sie zu unterscheiden, zu erkennen, kurz, vor ihnen auf der Hut zu sein …« Endlich könnte die Barmherzigkeit, die so viele Verpflichtungen auferlegt, nicht auch noch die auferlegen, »die Dinge und die Menschen nicht so zu sehen, wie sie sind«. Nachdem er dies gesagt und sich imstande glaubt, ohne allzuviel Sünde sein ganzes Vergnügen dabei zu finden, eilt er ans Werk und definiert auf bewunderungswürdige Weise die Geschichte, wie er sie versteht, in ihrer ganzen Ausdehnung, ihren Verzweigungen, ihrem Zubehör und mit der Schlußmoral, die man daraus ziehen kann, wenn zuletzt ein wirklich religiöser Geist sich damit beschäftigt; denn von dieser Fülle von Menschen, die sie darstellen, würden, so bemerkt er, »alle, mit Ausnahme höchstens von einem Dutzend, wenn sie in der Zukunft den Erfolg ihrer Mühen, ihres Schweißes, ihrer Sorgen und ihrer Intrigen hätten lesen können, schon am Anfange ihres Lebens Halt gemacht und ihre Absichten und teuersten Ansprüche aufgegeben haben, in der Erkenntnis, daß hienieden alles eitel und nichtig ist.«

Hat Saint-Simon mit seinen Anwandlungen von Haß und mit seiner Erbitterung gegen die, welche er verfolgt, alles erreicht, was er sich versprach? Hat er sich gegen die Leidenschaften verteidigen können, welche die ernste Barmherzigkeit, wie er sie definiert, von vornherein beeinträchtigen? Sicherlich nicht. Man lese aber gleich nach der Einleitung die vier oder fünf Seiten, die unter dem Titel »Beschluß« seinen letzten Band abschließen: er läßt sich darin ohne falsche Scham Gerechtigkeit widerfahren, gleichzeitig aber schiebt er ein aufrichtiges mea culpa ein. Die Wahrheit, ruft er, hat er gehabt und gesehen, so sehr, daß er ihr alles andere geopfert, daß alles andere davor zurücktreten mußte. »Eben diese Liebe zur Wahrheit ist es, die meiner Laufbahn am meisten geschadet hat; ich habe es oft gefühlt, aber ich habe die Wahrheit allem vorgezogen und war nicht imstande, mich in irgendeine Verkleidung zu fügen; ich kann sogar sagen, daß ich sie bis zur Schädigung meiner selbst geliebt habe.«

Indes, wenn er sich auch auf diese Wahrheit soviel zugute tut, gibt er doch zu, daß die Unparteilichkeit nicht seine Sache ist; dafür empfindet er zu lebhaft: »Man ist entzückt – sagt er – von den offenen und wahrhaftigen Menschen; man ist gereizt gegen die Schelme, von denen die Höfe wimmeln, noch mehr aber gegen diejenigen, von denen man Unrecht erfahren hat. Der Stoiker ist eine schöne und edle Schimäre. Ich tue mir also nichts auf meine Unparteilichkeit zugute, es wäre ja doch vergebens.«

So muß man denn bei ihm darauf gefaßt sein, daß Lob und Tadel von Herzen kommen, und je nachdem wie er gepackt ist. Sein einziger Anspruch bei dem, was er schreibt, ist, daß alles in allem, die Wahrheit selbst über die Leidenschaft die Oberhand behält und daß, ausgenommen die eine oder andere Stelle, wo die Natur in ihm versagt, das »Gewebe« seiner Memoiren in seiner Gesamtheit von Aufrichtigkeit und Freimut zeugt.

So also spricht der ehrliche Mann in Saint-Simon; und abgerechnet die Einschränkungen, die man eben gehört hat: seine unüberwindlichen Vorurteile und Antipathien, straft nichts von dem, was er geschrieben, ihn Lügen. Und ganz zu Anfang, wo er von seinem eigenen Vater spricht, den er eben verloren, und den er in einem kindlichen Gefühl voll edler Begeisterung schildert, was sagt er da? Er scheut sich nicht, ihn uns in einem Augenblick zu zeigen, da er sich Ludwig XIII. als Träger einer recht wenig ehrbaren Botschaft an Fräulein von Hautefort anbietet, und vom Könige selbst zur Ordnung gerufen wird. Im übrigen ist diese ganze Schilderung seines Vaters von großer Erhabenheit. Wenn er sich auch täuscht, indem er aus ihm eine Art von letztem großen Feudalherren macht und ihn als Sproß aus dem edelsten Blute, der wenigstens durch eine Frau von Karl dem Großen abstammt, darstellt, so wird diese Illusion ein Prinzip des Hochsinns und der Tugend. Die Seiten, auf denen er uns diesen Greis zeigt, der dem Andenken Ludwigs XIII. bis zum Ende treu ist, der es nie versäumt, jährlich am 14. Mai zum Totenamt für den verstorbenen König nach Saint-Denis zu gehen, und gegen das Ende empört darüber ist, sich dort ganz allein zu sehen, – diese Seiten atmen eine echte Beredsamkeit des Herzens und lassen die angeborene Hochherzigkeit erkennen. Saint-Simon, dieser Sohn eines Günstlings Ludwigs XIII., hatte vom Adel eine großartige altertümliche, der ursprünglichen Unabhängigkeit entsprechende Idee, und er träumte – wunderlich genug nach Richelieu und unter Ludwig XIV. – für ihn eine Gesetzgeberrolle im Staate, wie er sie zu Zeiten Chlodwigs und Pipins hätte haben können.

Die ersten Erzählungen Saint-Simons handeln von seinen Feldzügen: er fängt an mit der Belagerung von Namur (1692). Seine ersten Schilderungen zeigen Frische und Leben: das Kloster von Marlagne bei Namur steht alsbald vor uns mit seinen Einsiedeleien und seiner Landschaft, und in einer Deutlichkeit, wie die Dinge in der Natur unter Ludwig XIV. sich uns sonst nicht zu zeigen pflegen. Saint-Simon kann nicht anders, er muß alles, was sich ihm darstellt, ansehen und alles, was er sieht, schildern. Sein Kapitän Maupertuis, sein Freund Coëtquen, sind mit wenigen treffenden Zügen gezeichnet, und in der Person von Maupertuis beginnt er bereits den Adel derjenigen, von denen er spricht, zu kritisieren und zu zerstören, was er später beständig tut. Und in der Tat ist fast all dieser so gerühmte Adel (selbst im Sinne der Adelsmatrikel) Erdichtung und Schimäre.

Aber erst anläßlich der Heirat seines Freundes, des Herzogs von Chartres, des künftigen Regenten, mit einer illegitimen Tochter Ludwigs XIV., offenbart und bekennt Saint-Simon seine ganze Wißbegierde: »Seit einigen Tagen war etwas davon (von dieser Heirat) zu mir durchgesickert, und da ich mir denken konnte, daß es heftige Auftritte geben würde, schärfte die Neugier meine Aufmerksamkeit in hohem Maße.« Ludwig XIV. und seine furchteinflößende Majestät, die seine ganze Familie im Banne hält, die Schwäche des jungen Prinzen, der trotz seines ersten Entschlusses zu allem ja sagt, der Zorn seiner Mutter, der stolzen Deutschen, die sich genötigt sieht, selbst ihre Einwilligung zu geben, und die uns gezeigt wird, wie sie das Taschentuch in der Hand, mit großen Schritten die Galerie von Versailles durchmißt, »heftig gestikuliert und aussieht wie Ceres, die nach der Entführung der Proserpina voll Verzweiflung ihre Tochter sucht;« die kräftige und schallende Ohrfeige, die sie vor dem ganzen Hofe ihrem Sohne versetzt, in dem Augenblick, da er ihr die Hand küssen will, all das ist mit meisterhafter Plastik wiedergegeben. Der Maler ist bereits auf seiner vollen Höhe und zeigt die ganze Breite seiner Pinselführung. Die Prinzen aus dem Hause Lothringen, diese infamen Instrumente, deren man sich beim Herzog von Orléans bedient, um ihn dieser entehrenden Heirat geneigt zu machen, sind dort charakterisiert, wie sie es verdienen. Saint-Simon gehört nicht zu jener diskreten, nachahmerischen, der Stadt oder dem Hofe sklavisch untergebenen französischen Schule, die, bevor sie einen Ausdruck aus der Feder läßt, sich vergewissert, ob er ziemlich und gebräuchlich ist. Er besitzt den Freimut der Gallier, oder, wenn man will, der alten Franken. Ich weiß nicht, wer von Saint-Simon gesagt hat, wenn er schlecht schreibe und den Ausdrücken Gewalt antue, sei er in der Sprache bereits der erste der Barbaren. Nein, Saint-Simon ist selbst dann in Wirklichkeit nur der letzte der Eroberer.

Auf jeder Seite folgen sich bei ihm die Szenen, heben sich die Gruppen vom Hintergrunde ab, stehen die Personen auf und schreiten vor unsern Augen dahin. Man verheiratet den Herzog von Maine; Herr von Montchevreuil, der sein Gouverneur gewesen war, bleibt seiner Person als Kammerherr attachiert: »Montchevreuil«, sagt er, »war ein sehr ehrenwerter Mann, bescheiden, tapfer, aber schwerfällig wie nur einer. Seine Frau, eine geborene Boucher-d'Orsay, war eine lange, magere, gelbe Stange, die ein blödes Lachen am Leibe hatte und lange häßliche Zähne zeigte, fromm bis dorthinaus und einstudiert in ihrer Haltung. Es fehlte ihr nur die Zauberrute, um eine richtige Fee zu sein. Ohne einen Funken von Geist, hatte sie Frau von Maintenon dermaßen gefangen genommen, etc.« So ist alles, alles spricht und steht sichtbar da, und jeder findet sich in seiner wahren Natur lebendig dargestellt. Eine Person bringt, wie im Leben, eine andere mit; man spricht jemand an, man wird angesprochen; man bahnt sich einen Weg durchs Gedränge, so gut man kann. Man wohnt, zeitweilig nach Luft ringend, dieser fortwährenden, nicht endenden Komödie bei. Als großer Historienmaler hat Saint-Simon seine besondere Stärke darin, die Individuen in ganzer Figur, die Gruppen, die Massen, die allgemeine Bewegung gleichzeitig mit den Einzelheiten und Besonderheiten ad infinitum wiederzugeben: er verfügt über diese doppelte Wirkung der Details und des jeweiligen Ganzen. Seine Geschichte ist ein Fresko à la Rubens, hingeworfen mit einem Schwung des Pinsels, der ihm nicht gestattet, Sorgfalt auf die Zeichnung zu verwenden und seine Linie zu bestimmen, bevor er malt: aber die Physiognomien, so voll davon er auch ist, fließen nur um so lebendiger daraus hervor. Sein Werk gleicht einer ungeheuern historischen Kirmeß, deren Szene die Galerie von Versailles ist. Der Maler strömt über von Reichtum; er schwimmt, man merkt's, er schreibt mit wahrem Genuß. Er besitzt nicht die Zurückhaltung der Linie, und in dieser Beziehung versagt der Künstler in ihm. Er fühlt es und bittet deswegen ganz am Schlusse um Entschuldigung: »Das Akademische war nie meine Sache,« sagt er, »ich habe nie davon loskommen können, hastig zu schreiben.« Hätte er retuschieren und korrigieren wollen, so hätte er sein Werk verdorben und verstümmelt; er hat wohl daran getan, es so zu lassen: weit, locker und in vielen Punkten über das Maß hinausgehend.

Vor einer Malerei von solchen Dimensionen heißt es wählen; ich will besonders zwei große Szenen herausheben, um daran einige der hohen Eigenschaften Saint-Simons zu zeigen. Die eine dieser Szenen soll das Gemälde sein, das er vom Hofe im Augenblicke des Todes des Dauphins, des Sohnes Ludwigs XIV., entwirft. Die zweite, die in gewisser Beziehung den schönsten Tag von Saint-Simons Leben bezeichnet, soll die des Großen Gerichtstages sein, an dem unter der Regentschaft die Degradation des Herzogs von Maine und der gesetzmäßige Ruin der legitimierten Bastarde vollzogen wurde.

In diesen beiden Szenen ist Saint-Simon kein bloßer Neugieriger, er hat an der einen wie an der andern Anteil. In der ersten aber überschreitet die Leidenschaft, mit der er sich darin beteiligt, nicht gewisse Grenzen; er bleibt dort vor allem andern noch Moralist und Maler und zeigt sich dabei nicht, wie in der zweiten, mit der Maßlosigkeit, den Fehlern und, wenn ich so sagen darf, mit der Wildheit seiner rachsüchtigen Natur.

Man ist im April 1711, und die königliche Familie ist noch vollzählig, als man plötzlich erfährt, daß der Sohn Ludwigs XIV., Monseigneur, ein schwerer Mann von fünfzig Jahren, dem nach der Ordnung der Natur der Thron demnächst bestimmt schien, soeben in Meudon gefährlich erkrankt ist. Alsbald erwachen all die Ambitionen, Befürchtungen, Hoffnungen der Höflinge und äußern sich. Saint-Simon ist aufrichtig und wahrheitsliebend, und hier beweist er uns durch seine Geständnisse, daß er die Wahrheit, wenn es nottut, selbst gegen sein eigenes Interesse liebt. Er stand schlecht mit Monseigneur und seiner Umgebung; folglich war ihm diese plötzliche Nachricht von der Gefahr, in der der Kranke schwebte, sogleich höchst angenehm; er gesteht es ohne Heuchelei: »Ich verbrachte,« sagt er, »den Tag in einer unbestimmten Bewegung von Ebbe und Flut, indem ich den Mann von Gemüt und den Christen vor dem Menschen und dem Höfling zu schützen suchte.« Aber er mag sich so tapfer halten, wie er will, der natürliche Mensch gewinnt die Oberhand, und er überläßt sich lachenden Zukunftshoffnungen; denn er stand auf sehr gutem Fuße mit dem kleinen Hofe des Herzogs von Burgund, der sich infolge des Todes seines Vaters dicht vor der Regierung sah. Während Monseigneur zu Meudon im Sterben liegt, »bot Versailles«, so sagt Saint-Simon, »ein anderes Bild. Der Herzog und die Herzogin von Burgund hielten dort öffentlich Hof, und dieser Hof ähnelte dem ersten Aufleuchten der Morgenröte.« Fünf Tage lang bleibt man in diesem Schwanken und dieser Ungewißheit, und er läßt uns nichts davon verlieren. Endlich hat der Kranke, mit dem es besser zu gehen schien, einen Rückfall und stirbt. Man erfährt in Versailles, daß es sich nur noch um Augenblicke handelt, und sofort flutet der ganze Hof wie eine große Woge zur Herzogin von Burgund, um dort die aufgehende Sonne anzubeten. Hier beginnt bei Saint-Simon ein Gemälde, das alles übertrifft, was man sich von scharfsinniger Beobachtung und genialer Ausdrucksfähigkeit in menschlichen Dingen vorstellen kann. Beim ersten Gerücht von dem Rückfall und dem Todeskampf eilt Saint-Simon also zur Herzogin von Burgund und findet dort ganz Versailles versammelt, die Damen halb angekleidet, die Türen geöffnet, ein wirres Durcheinander, und eine der schönsten Gelegenheiten, die er je gefunden hat, vom Blatte weg in den Gesichtern der Beteiligten zu lesen. »Dieses Schauspiel«, sagt er, »zog die ganze Aufmerksamkeit an sich, die ich bei all dem, was meine Seele bewegte, darauf verwenden konnte.« Und er geht daran, seine Sezier- und Analysierfähigkeit auf jedes Gesicht besonders anzuwenden, indem er bei den beiden Söhnen des Sterbenden beginnt, zu ihren Gemahlinnen übergeht, um so gradweise zu allen Interessierten fortzuschreiten:

»Alle Anwesenden«, sagt er mit dem unbezähmbaren Jubel eines Menschen, der ganz Auge ist, »waren so ausdrucksvoll, wie nur möglich; man brauchte nur Augen zu haben, ohne irgendwelche Kenntnis des Hofes, um die sich auf den Gesichtern malenden Interessen zu unterscheiden, oder die Leere bei denen, die das Ganze nicht kümmerte; diese ruhig in sich, die andern voll tiefsten Schmerzes oder voller Ernst und Aufmerksamkeit auf sich selbst, um ihre Erleichterung und ihre Freude zu verbergen.«

Der Anblick dieser ganzen Menge im Nachtgewand, unter der Saint-Simon erscheint, ist für ihn das angenehmste aller Feste. Er bekennt noch einmal seine eigenen geheimen Gefühle über diesen Tod Monseigneurs. Da man vorläufig erst wußte, daß er im Sterben lag, ist er noch nicht vollkommen beruhigt: »Ich empfand, ohne daß ich mich dessen erwehren konnte, einen Rest von Furcht, daß der Kranke davonkommen möchte, und das erfüllte mich mit äußerster Scham.« Nachdem er sein eigenes Geständnis abgelegt, geht Saint-Simon entschlossen zu dem der andern über und nimmt mit aller Gewissenhaftigkeit diese Art von allgemeiner Zergliederung, diese unbarmherzige Öffnung der Seelen in Angriff, die ihn inmitten dieser zerstreuten Menge einem Wolfe gleichen läßt, der in eine Schafhürde eingebrochen ist, oder einem Jagdhunde im Augenblick der Verteilung des Jägerrechts.

Zu einer gewissen Nachtstunde, als sich die bestimmte Nachricht von dem eingetretenen Tode verbreitet hat, wohnen wir durch ihn in dieser großen Galerie von Versailles einem gewaltigen lebenden Bilde bei, dessen anscheinendes Durcheinander gleichwohl eine Art von Komposition erkennen läßt, die ich nur andeuten will.

Am Ende der Galerie, in einem offenen Salon, sitzen die beiden Prinzen, die Söhne des Verstorbenen, der Herzog von Burgund und der Herzog von Berry, jeder mit seiner Prinzessin neben sich, auf einem Kanapee, bei einem offenen Fenster, mit dem Rücken zur Galerie, »alles rings zerstreut und durcheinander, sitzend oder stehend, und die vertrautesten Damen auf dem Boden zu ihren Füßen.« Die Gruppe ist hingeworfen: wir sehen das Bild.

Dann kommen die an die Galerie stoßenden Gemächer und das Schauspiel, das sie bieten. Am andern Ende, in den ersten Zimmern, d. h. in den vom Salon der Prinzen entferntesten, stehen die Bedienten, die nur mühsam ihr Schluchzen unterdrücken und verzweifelt sind über den Verlust eines so volkstümlichen, »so eigens für sie geschaffenen« Herren. Unter diese untröstlichen Bedienten mischen sich andere, schlauere, die von ihren Herren dorthin geschickt worden sind, um zu sehen und zu beobachten; die Figaros der Zeit, »deren Mienen man es wohl ansah, welchen Laden sie kehrten«.

Weiterhin, nach den Bedienten, kamen die Höflinge jeder Gattung: »Die Mehrzahl, das heißt, die Dummen, seufzten so tief sie konnten, und lobten mit weitgeöffneten, tränenlosen Augen den Verstorbenen, aber immer war es dasselbe, was sie rühmten, nämlich seine Güte …« Dann, nach den Dummen, waren da die Klügeren; es gab sogar einige, die aufrichtig betrübt oder vor den Kopf geschlagen waren; ferner waren da die politischen Köpfe und die Nachdenklichen, die in den Ecken über die Folgen eines solchen Ereignisses nachdachten. Andere trugen tiefen Ernst und Unbeweglichkeit zur Schau, um zu verbergen, wie wenig Schmerz sie empfanden; sie hatten Furcht, sich durch ihre zu lebhaften und zu ungezwungenen Bewegungen zu verraten:

»Aber ihre Augen ersetzten, was ihrem Körper an Bewegung fehlte. Änderungen in der Lage, wie bei Leuten, die schlecht sitzen, oder denen das Stehen lästig fällt; ein gewisses Bemühen, sich gegenseitig zu meiden, ja selbst sich nicht mit den Augen zu begegnen; die Art des momentanen Reagierens, wenn zufällig eine solche Begegnung eintrat; eine gewisse größere Ungezwungenheit des ganzen Menschen bei aller Bemühung, sich in der Gewalt zu behalten und seine Miene zu beherrschen; ein gewisses Leben, eine Art Funkeln an ihnen machten sie kenntlich, sie mochten tun, was sie wollten.«

Nachdem er auf diese Weise mit einer gierigen und subtilen Neugier und einem unglaublichen Reichtum der Sprache alle Formen, alle Stellungen und mehr oder weniger natürlichen oder gezwungenen Posituren erschöpft hat, kehrt er zu seinen beiden Prinzen und Prinzessinnen im ersten Salon und zu den Physiognomien erster Ordnung zurück, um sie uns gleichfalls in allen Nuancen vorzuführen. Wenn man ihn sie mit so besonderen und treffenden Ausdrücken beschreiben sieht, möchte man ihn mit einem Hippokrates am Lager eines Sterbenden vergleichen, mit einem Hippokrates, der jedes Symptom, jede krampfhafte Zusammenziehung des Gesichtes studiert und deren Charakter mit der Autorität eines Meisters bestimmt. Hier jedoch weiß der Hippokrates sein kaltes Blut nicht zu bewahren, er verrät die Freude, die er daran findet, und läßt erkennen, bis zu welchem Grade seine Neugier sich ergötzt; er ruft gegenüber dieser Fülle von Gegenständen seiner Beobachtung aus:

»Die Geschwindigkeit, mit der die Augen dank der Gunst dieser ersten durch die plötzliche Überraschung und Ratlosigkeit hervorgerufenen Verwirrung hin- und herschießen und im Fluge die Seele prüfen, die Kombination alles dessen, was man dabei beobachtet, das Erstaunen, bei einigen nicht zu finden, was man erwartet, weil es ihnen an der nötigen Stärke oder dem nötigen Geiste fehlte, bei andern dagegen mehr, als man vermutet hatte, diese ganze Masse von lebendigen Objekten und bedeutungsvollen Dingen, bildet für den, der es zu empfinden versteht, ein Vergnügen, das, so wenig bleibend es auch ist, zu den größten gehört, die man an einem Hofe genießen kann.«

Zwei oder drei lächerliche Zwischenfälle, wie der Arm des eingeschlafenen dicken Schweizers, den man plötzlich neben dem Kanapee sich ausstrecken sieht, oder das unerwartete Erscheinen Madames in großer Hoftoilette, die herzbrechend heult und schluchzt, ohne zu wissen, warum, vereinigen sich mit diesen verschiedenen Formen von Trauer, um Abwechslung und eine heitere Note hineinzubringen; denn Saint-Simon vergißt nichts von all dem, was in der menschlichen Natur liegt. Nachdem diese lange Nacht auf diese Weise mehr als zur Hälfte vorüber und jeder mit seiner Gemütsbewegung und Schauspielerkraft am Ende ist, geht alles schlafen, und die Betrübtesten schlafen am besten. Saint-Simon hingegen, noch ganz berauscht von einer solchen Beobachtungsorgie, schläft wenig. Schon um sieben Uhr morgens ist er auf: »Aber«, bemerkt er, »man muß es gestehen, eine Schlaflosigkeit dieser Art ist süß und ein solches Erwachen köstlich.«

Die zweite Szene, die ich denen empfehle, die das malerische Genie und die unauslöschliche Leidenschaft Saint-Simons am Werke sehen wollen, ist die des Regentschaftsrates und des Großen Gerichtstages, an dem der Herzog von Maine degradiert wurde (26. August 1718). Auch hier schläft er in den vorangehenden Nächten vor Freude nicht, in der Erwartung dieses großen Tages, der ihn endlich rächen soll für soviel Kränkungen und soviel unterdrückten Grimm. In dieser zweiten, ganz dramatischen Szene ist er, man beachte das wohl, der Ratgeber, der Aufstachler; er hat die Maschine zusammengesetzt und hat seine Freude daran, sie spielen, sich gradweise entwickeln und ihre Schläge auf alle die niederfahren lassen zu sehen, die nicht recht von dem, was bevorstand, unterrichtet waren und darüber verblüfft sind oder darunter stöhnen. Wenn er auch fortfährt, sich als großer Maler und unversöhnlicher Beobachter zu zeigen, so ist er es doch weniger unschuldig und auf eine weniger selbstlose Weise wie in der Szene nach dem Tode des Dauphins. Seine rachsüchtige Grausamkeit läßt sich zu offensichtlich gehen, gelangt zu erbittert zum Ausbruch. Der arme Herzog von Maine und alle seine Anhänger müssen daran glauben. Wenn Saint-Simon einmal jemand mit seiner Feindschaft verfolgt, so läßt er nicht mehr locker, wirft er ihn ganz über den Haufen. Es ist der Augenblick, da der Herzog von Orléans, von Saint-Simon angestachelt, im Regentschaftsrate erschienen ist, um seinen Entschluß zu verkünden, die Bastarde Ludwigs XIV. wieder auf ihren Rang als einfache Pairs zurückzuschrauben, der Augenblick, in dem sich die Batterie gegen die gestürzten Günstlinge demaskiert. Man muß diese packende Seite lesen und alle diese tiefdunkeln Wolken sehen, die sich augenblicklich auf die Gesichter der Anwesenden, der Villars, der Tallard, der d'Estrées und anderer Mitglieder des Rates niedersenken: all die verschiedenen Schattierungen dieser Verschleierung und dieser Verdunkelung sind dort kenntlich gemacht. Und was Saint-Simon selbst betrifft, der sich den Anschein zu geben versucht, als sei er nicht eingeweiht gewesen, und sich bemüht, den im Triumphe Maßvollen und Bescheidenen zu spielen, so muß man hören, wie er sich selbst schildert und uns den beinahe körperlichen Rausch seiner Freude bekennt:

»Auf diese Weise in meiner Gewalt, ganz Auge, den Ausdruck auf den Gesichtern aller zu verschlingen, bei allem und bei mir selbst gegenwärtig, unbeweglich, mit meinem Sitze verwachsen, abgemessen in jeder Linie meines Körpers, von allem, was der Jubel an Fühlbarstem und Lebhaftestem der Seele einprägen kann: von der wonnigsten Unruhe, von einem aufs übermäßigste und beharrlichste ersehnten Genusse durchschauert, schwitzte ich vor Angst unter der übermenschlichen Anstrengung, mein Entzücken zu bändigen, und selbst diese Angst gewährte eine Wollust, wie ich sie niemals, weder vor noch nach diesen schönen Tagen empfunden. Wie sehr stehen doch die Entzückungen der Sinne hinter denen des Geistes zurück, und wie wahr ist es doch, daß das Maß der Übel mit dem Maß des Guten übereinstimmt, das ihnen ein Ende macht!«

Man merkt bereits nur zu deutlich und würde es immer mehr merken, wenn ich fortführe zu zitieren und die Szenen zu entwickeln, daß der Verfasser nicht an sich hält; er strömt über: das ist sein Fehler. In seinem unstillbaren Hunger nach Aufregungen und in seiner Unermüdlichkeit, ihnen Worte zu leihen, zögert er nicht, die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache bis aufs Letzte auszuschöpfen. Sie ist unter seinen Händen wie ein Pferd nach dem Rennen: sie ist schachmatt, er hingegen, er ist es nicht, er verlangt von ihr noch, was sie ihm nicht geben kann. Sie ist nicht imstande, seine ganze Freude und seine ganze Begeisterung zu tragen.

Lassen wir es bei dem unglaublichen Bekenntnis des Jubels bewenden, das wir eben gelesen haben, und sagen wir gerade heraus: So war dieser Mann beschaffen, der nicht lügt, der nichts verbirgt, der sich nicht besser macht, als er ist, und der sich durch seinen Pinsel ebenso selbst verrät, wie er die andern wiedergibt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß er bei so heftigen und so hartnäckigen Leidenschaften wie die, die er selbst zu erkennen gibt, sich mehr als einmal täuschen, das Maß überschreiten, den andern von seiner eigenen Stimmung leihen, die so seltene Gabe scharfsinniger Kombination, die er besaß, mißbrauchen mußte. Und doch, wenn er auch in mehr als einer Anwendung von Einzelheiten notgedrungen ungerecht, übertrieben oder verwegen war, glaube ich nicht, daß von dem Ganzen viel abzuziehen sei. Was er vor allem verabscheute, und wogegen er sich am meisten wandte, das war die Plattheit, die Knechtseligkeit, die Niederträchtigkeit, die sklavische Hingabe eines jeden an seine engsten Interessen, die persönliche Kabale ohne höheres Ziel, die Außerachtlassung und den Ruin aller und des Staates aus Egoismus, – mit einem Worte, das, was den großen Korruptionsfonds der Höfe ausmachte.

Hätte man Zeit und Raum, sich zu erheitern, so ließen sich über ihn tausend merkwürdige und pikante Dinge sagen; man würde über seine Meinung von Voltaire, von allem, was mit der Jurisprudenz und der Feder zusammenhängt, lächeln, lächeln auch über seine Adels- und Rangschrullen. Mir sind sehr lustige Couplets auf ihn bekannt, in denen er »Registrator der Pairs«, »kleiner Husar des Regenten von Frankreich« genannt wird, und andere mehr oder weniger geistreiche Bosheiten. Aber man muß bei jedem Gegenstande, wenn man genötigt ist, sich Beschränkungen aufzuerlegen, auf das Wesentliche und Ernsthafte losgehen. Saint-Simon mochte für den Adel seiner Zeit, der bereits so servil und so seiner Spitze beraubt war, das Unmögliche gewollt haben; er mochte ihm wie Boulainvilliers Einfluß, Glanz, Unabhängigkeit, einen gerechten Anteil an der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt und der Souveränität haben verschaffen und wiedergeben wollen. Er vergaß, daß dieser Adel, der in Frankreich von jeher ziemlich leichter Natur und demzufolge ohne Grundlage war, nur mehr einen Hofadel darstellte, und er ahnte nicht, daß weniger als 25 Jahre nach seinem Tode die ritterlichsten Vertreter desselben als die Ersten das Idol wechseln und den Revolutionen den Hof machen würden. Es erfüllte ihn mit Unwillen, sich von jenen Typen seichten und unterwürfigen Hofschranzentums umgeben zu sehen, von dem Geschlechte der Villeroy, der Dangeau, der d'Antin, und er sah noch nicht voraus, was eine nahe Zukunft bringen würde: jene andern Extreme, die ihn mit nicht geringerer Betrübnis erfüllt hätten, jene zur Demokratie übergegangenen und sie zum Sturm anführenden Edelleute, die Mirabeau, die La Fayette, die Lameth und den exzentrischsten Demokraten von allen, seinen eigenen Nachkommen. Was verschlägt's? Wenn es Saint-Simon nicht gelungen ist, dem französischen Adel so spät noch einen politischen und aristokratischen Einfluß zurückzugeben, der ohne Zweifel nicht in der Beschaffenheit unseres Nationalgeistes und in unseren Geschicken lag, so hat er für ihn doch das Allerbeste getan, was es nach der schöpferischen Tat geben kann: er hat ihm in seiner eigenen Person den größten Schriftsteller gegeben, den er je hervorgebracht, die kühnste, freieste, ehrenhafteste, kraftvollste und blendendste Feder, und dieser Herzog und Pair, über den man damals lächelte, erweist sich heute zwischen Molière und Bossuet (ein wenig unter ihnen, ich weiß es, aber zwischen ihnen sicherlich) als einer der ersten Ruhmestitel Frankreichs.

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Der vorliegenden Übersetzung liegen die Originalausgaben von 1829/30 (Paris, A. Sautelet et Cie., 21 Bde.) und 1879ff. (Paris, Hachette) zugrunde. Die Kommentare der letztgenannten, von A. de Boislisle herausgegebenen Ausgabe, die in ihrer Gründlichkeit und Sorgfalt ihresgleichen sucht, wurden in weitem Maße für die Anmerkungen und das biographische Register herangezogen. Die bis 1912 erschienenen 24 Bände dieser außerordentlich breit angelegten Arbeit stellen ungefähr die Hälfte des Ganzen dar.

Aus der kaum übersehbaren Fülle des in Saint-Simons Memoiren niedergelegten Materials hebt die vorliegende Übersetzung nach Möglichkeit alles das heraus, was uns heute noch zu fesseln vermag und die Eigenart Saint-Simons wie den Charakter seiner Zeit erkennbar macht.

d. H.

 

Louis de Saint-Simon wurde zu Paris im Hause seines Vaters in der Rue des Saints-Pères geboren. Am gleichen Tage wurde die Nottaufe an ihm vollzogen. Die eigentliche Taufe fand erst am 29. Juni 1677 in der Schloßkapelle von Versailles statt. Paten waren Ludwig XIV. und Marie-Thérèse, während der Großalmosenier von Frankreich, der Kardinal von Bouillon, die Taufhandlung vollzog. – Vidame de Chartres. Die vidames ( vice-domini) waren im Mittelalter Herren gewesen, welche mit Ländereien eines Bistums belehnt waren und dafür die weltliche Macht des Bischofs zu verteidigen und seine Truppen anzuführen hatten. Die hauptsächlichsten Vitztume waren die von Laon, Amiens, le Mans und Chartres. Das Vitztum von Chartres hing seit Ende des XIV. Jahrhunderts mit dem Besitz von la Ferté-Arnaud oder la Ferté-Vidame zusammen, das Claude von St.-Simon am 1. August 1635 erworben hatte.


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