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Siebzehntes Kapitel.
Der Name der Insel

Ein stiller, nebelvoller Abend lag über der See. Die Brigg ›Wellesley‹ lag auf südwestlichem Kurse, oder richtiger, sie würde einen südwestlichen Kurs verfolgt haben, wenn sie nicht mit schlaffen Segeln einfach sacht nach Lee abgetrieben wäre.

Mr. Hardy hatte die Wache an Deck. Kommandant Boldock, Mr. Matthews und Miß Mansel saßen in der Kajüte unter der kleinen Hängelampe.

Die junge Dame war noch immer sehr blaß, und wenn sie gedankenvoll vor sich hinblickte, dann lag es noch wie ein leiser, zögernder Schatten von Furcht auf ihren feinen Zügen und in den dunklen Augen. Im allgemeinen aber sah sie für jemand, der erst kürzlich einer so grausigen Gefahr entrissen wurde, und der so schlimme Erinnerungen im Herzen trägt, recht wohl und munter aus. Der Schlafrock verlieh ihrem Aeußern eine gewisse, bequeme Behaglichkeit, und ihr reiches, schwarzes Haar schimmerte in tadelloser Frisur im Scheine der Lampe. Die Augen des Kommandanten ruhten oft mit Wohlgefallen auf ihr, und Mr. Matthews, der ihr gegenüber saß, betrachtete sie mit den Blicken eines alten, guten Freundes.

Auf dem Tische, der mit einem groben Leinwandtuche bedeckt war, dessen Gewebe von Salzkrystallen glitzerte, die von der letzten Wäsche im Seewasser daran hafteten, stand ein frugales Abendbrot: Hartbrot, Schinken, ein Stück kaltes Salzfleisch, dazu Wein und Rum. Der Schiffer und Mr. Matthews tranken Rum und Wasser, vor Miß Mansel aber stand ein Glas Madeira.

»Glauben Sie, Kapitän Boldock,« sagte die junge Dame, »daß die armen Passagiere in ihren Booten Aussicht auf Rettung haben?«

»Das glaube ich wohl, um so mehr, als man die Matrosen unter sie verteilt hat,« antwortete der Kommandant. »Eins oder das andere der Auswandererschiffe, die des Weges kommen, wird sie sicher aufsammeln.«

»Es muß aber doch schrecklich sein, die ganze lange Nacht im offenen Boot auf dem weiten, finsteren Meere zuzubringen,« meinte Miß Mansel, sich ein wenig schüttelnd. »Und wenn es dann windig wird und die See hohl geht, oder wenn der dichte Nebel kommt – hu!«

»Junge Männer, die nach wochenlangem Umhertreiben in Booten gerettet wurden, sind von ihren eigenen Müttern nicht mehr erkannt worden, so greisenhaft alt sahen sie aus,« bemerkte Mr. Matthews, düster in sein Glas schauend.

»Das kann ich sehr wohl verstehen,« nickte das Mädchen gedankenvoll. »In solcher langen Todesnot altert man schnell.«

»So ist es,« bestätigte der Steuermann. »Jede Stunde gräbt eine tiefe Linie in das Gesicht solch eines Schiffbrüchigen.«

»Und Gespenster ziehen in dem heulenden Nachtwind über das Boot und färben dem Aermsten das Haar grau,« lachte der Kommandant. »Machen Sie unsere Miß doch nicht graulich, Mr. Matthews!«

»Wie wird Mrs. Peacock jammern und klagen,« seufzte das junge Mädchen mitleidig, »die doch die Reise nur zur Kräftigung ihrer Gesundheit unternommen hatte!«

»Ohne den Willen dessen, der die See in seiner hohlen Hand hält, wird keinem von ihnen ein Haar gekrümmt werden,« sagte der Kommandant. »Das mag Sie beruhigen, Miß Mansel. Was mir aber Kopfzerbrechen macht, ist die Frage, wie die Piraten all das Gold, die Nuggets und den Staub, schließlich wegschaffen wollen. Ein Goldklumpen im Werte von hundert Pfund Sterling hat schon ein tüchtiges Gewicht. Nun sind da aber zehn Kerle, von denen jeder mit einem Beuteanteil von achtundzwanzigtausend Pfund Sterling in rohem Golde an Land gehen will. Wie werden sie das nur fertig bringen?«

Matthews schüttelte ernst den Kopf.

»In einem Hafen, wo Zollbehörden jede Landung überwachen, ist daran nicht zu denken,« sagte er. »Schade, daß Miß Mansel von diesem Teil des Planes nichts hören konnte.«

»Wenn ich mich nur des Namens der Insel erinnern könnte,« versetzte das Mädchen sinnend. »Zuweilen schwebt er mir auf der Spitze der Zunge.«

Man plauderte noch eine kleine Weile, dann erhob sich der Kommandant, machte der jungen Dame eine Verbeugung und begab sich an Deck.

Die beiden Wachabteilungen an Bord des ›Wellesley‹ unterstanden dem Steuermann Hardy und dem Bootsmann Stubbins. Mr. Matthews hatte den Schiffer um die Erlaubnis gebeten, mit Stubbins die Wache teilen zu dürfen, ein Ansuchen, dem Boldock sehr gern entsprach, da ihm die Dienste eines so bewährten Offiziers hoch willkommen waren. Jedoch hatte er darauf gedrungen, daß Matthews wenigstens die erste Nacht unter Deck bleiben und sich erholen und ausruhen solle; dieser empfahl sich daher sehr bald und zog sich in die ihm angewiesene Kammer zurück. Ein gleiches that Miß Mansel.

Draußen brütete eine pechschwarze Nacht über der See. Um so heller leuchtete das Wasser rings um das Schiff. Die in streifigen Gebilden die Tiefe durchziehenden Feuernebel strahlten ein solches Licht empor, daß nicht nur die über Bord schauenden Gesichter der Seeleute, sondern auch die Takelung und die Segel gespenstisch erschimmerten.

Boldock stand, seine große Meerschaumpfeife rauchend, neben Hardy an der Reeling.

»Ich habe nicht oft eine so finstere Nacht erlebt, wie die heutige,« sagte der Kommandant.

»Auch ich nicht,« sagte der Steuermann.

»Ich denke, das wird nichts weiter bedeuten, als Nebel,« setzte Boldock hinzu.

»Ganz richtig,« pflichtete Hardy bei. »Wenn wir etwas Wind hätten, würden wir den Nebel bald riechen.«

Der Kommandant saugte einige Minuten mit hörbarem Geräusch an seiner lange nicht gereinigten Pfeife.

»Hardy,« begann er dann ganz unvermittelt, »haben Sie jemals ans Heiraten gedacht?«

Des Steuermanns Antwort war ein lautes Auflachen.

»Merkwürdig,« sagte Boldock in seinen tiefsten Baßtönen, »daß diese Frage stets eine gewisse Heiterkeit hervorruft, namentlich, wenn sie an alternde Junggesellen gerichtet wird. Ich verstehe aber durchaus nicht, was dabei so lächerlich sein sollte. Eine Heirat ist doch die ernsteste Sache, die es geben kann.«

»Man lacht zuweilen zur Unzeit,« versetzte Hardy entschuldigend. »Ich habe sogar in der Kirche gelacht; freilich war ich damals noch ein gedankenloser junger Mensch.«

»Ich denke mir, es muß sehr angenehm sein, eine nette Frau zu haben,« fuhr Boldock fort.

»Eine nette Frau – ei ja!« sagte Hardy.

»Natürlich, nur eine nette Frau. Eine Frau, die dem Manne eine schöne, behagliche Häuslichkeit schafft. Solch eine Häuslichkeit, wie ich sie mir stets wünsche, wenn ich auf See bin, die ich aber am Lande niemals finde. Das Einwohnen bei fremden Leuten ist mir längst gründlich zuwider, ebenso das Logieren in Gasthäusern. Man hat doch auch seine Neigungen, seine Liebhabereien, seine Empfindungen und Gefühle, möchte ich sagen – darauf aber nehmen fremde Leute nicht die geringste Rücksicht.«

»Ich halte nicht viel vom Heiraten,« entgegnete der Steuermann tiefsinnig. »Das beste dabei, das Küssen und Schönthun, das dauert nicht lange. Hernach kommen die Kinder, und dann ist's mit der Ruhe und Behaglichkeit auch vorbei.«

»Jeder Mann braucht notwendig ein Heim,« erklärte der Kommandant mit großer Bestimmtheit.

»Was das anbelangt, so braucht man manches sehr notwendig und kriegt's doch nicht,« versetzte Hardy. »Ei ja, ein Heim, eine hübsche Häuslichkeit möchte ich auch wohl haben; das Ding aber würde zu kostspielig werden, darum muß ich darauf verzichten.«

Boldock stieß einen tiefen Seufzer aus; oben schlug ein Segel gegen den Mast, und irgendwo quietschte eine rostige Blockscheibe wie eine Ratte.

»Jedenfalls habe ich das Seefahren satt, Hardy,« sagte er, »und bei der ersten passenden Gelegenheit geb' ich's auf.«

»Ich wollte, ich könnte auch so reden,« nickte der Steuermann, in das funkelnde, brennende Wasser hinabsehend.

»Von jeher kannte ich auf See keinen angenehmeren Zeitvertreib, als mir eine hübsche Heimstätte am Lande auszumalen,« fuhr der Kommandant fort. »Ein weißes, freundliches Häuschen mit rotem Dach. Rings herum grüne Bäume. Schon ganz von weitem kann man das Häuschen sehen. Dahinter ein Garten. Im Geiste stehe ich in dem Garten und rieche den Duft der Blumen und höre das Geplätscher der kleinen Wasserkunst. Jetzt gehe ich ins Haus. An den Wänden hängen Schildereien von Schiffen und Seegefechten, Waffen und Kuriositäten aus allen Weltgegenden, und ein großer lederbezogener Lehnstuhl steht da, in dem sitze ich in Hemdärmeln und Pantoffeln, die Pfeife im Munde, ein Buch auf dem Schoß, und lausche dem Gesumme der Bienen und Hummeln draußen im Sonnenschein.«

»Hört sich gut an,« brummte Hardy, »kostet aber einen Haufen Geld.«

Dem Kommandant war die Pfeife ausgegangen; nach einigen vergeblichen Zügen ging er unter Deck. Die Kajüte war leer. Er setzte sich an den Tisch, und gleich darauf erschien ein Matrose mit einem Theekessel voll heißen Wassers, den er vor den Schiffer auf eine Art Dreifuß stellte. Darauf brachte der Matrose aus einem Wandschrank eine Flasche Rum, eine Zitrone und eine Schale voll Zuckerstückchen herbei, griff salutierend an seine Stirnlocke und stieg, nach einem sehnsüchtig zögernden Blick auf die Rumflasche, wieder an Deck hinauf.

Der Kommandant griff nach den Ingredienzien und mischte sich seinen Nachtpunsch, dessen würziger Duft bald die kleine Kajüte füllte. Er lächelte und trank, und lächelte wieder. So saß er lange. Dreimal füllte er das Glas. Der Mann am Ruder schlug acht Glasen. Es war Mitternacht. Eben wollte er sich die Pfeife füllen und noch einmal an Deck gehen, um mit seinem Steuermann zu plaudern, als die Thür der Nebenkajüte sich aufthat und Miß Mansel hereintrat.

Im ersten Augenblick erschrak der Schiffer, wie vor einer Erscheinung. Die junge Dame befand sich erst so kurze Zeit an Bord, daß ihr Anblick ihm noch nicht zur Gewohnheit geworden war, obgleich seine Gedanken sich viel mit ihr beschäftigten.

»Habe ich Sie durch ein Geräusch erweckt?« fragte er. »Das sollte mir aufrichtig leid thun.«

»Nein, Kapitän Boldock,« versetzte das Mädchen in großer Aufregung, »nein, mich hat ein Traum aus dem Schlafe gestört, ein Traum, der mir den Namen der Insel ins Gedächtnis zurückrief. Ich erwachte, indem ich ihn laut ausrief!«

»So sagen Sie ihn doch, schnell! Sonst könnten Sie ihn wieder vergessen!«

»Die Insel heißt Halloran – Halloran – jetzt weiß ich's ganz genau. Halloran heißt sie. Sie kennen sie, nicht wahr? Sagen Sie nicht nein, denn dort finden Sie das Schiff und alles, was man mir genommen hat.«

»Halloran!« rief der Schiffer. »Daß ich darauf nicht gekommen bin! Gewiß kenne ich das Eiland, liegt es doch kaum eine Tagesfahrt von den Riffen entfernt, die ich zu vermessen habe!«

»Welch eine Fügung! Und wie weit ist es noch bis dorthin?«

»Ungefähr siebenhundert Seemeilen. Ich will Ihnen das Eiland auf der Karte zeigen.«

Er räumte hastig das Punschgeschirr vom Tisch und breitete eine Seekarte darauf aus.

»Sehen Sie – hier befinden wir uns gegenwärtig, und da liegt Halloran. Die Piraten konnten sich gar keinen passenderen Ort auswählen. Die Insel ist unbewohnt, sie liegt abseits von der Fahrstraße der Schiffe und wird überdies durch jene Riffe gedeckt, deren Lage noch so wenig bestimmt ist, daß die Fahrzeuge ihnen gern weit aus dem Wege gehen. Hardy!« rief er durch das Oberlichtfenster hinauf.

Der Steuermann kam eilfertig die enge Treppe herab.

»Hier ist die Insel, zu der die Piraten die Bark zu bringen gedenken,« sagte der Kommandant, seinen dicken Zeigefinger auf die Karte pflanzend.

»Halloran!« rief Hardy. »Beinahe auf unserm Wege! Das nenne ich einen Zufall!«

»Wahrscheinlich wollen die Schurken das Schiff auf eins der Riffe setzen, nachdem sie das Gold in die Brigantine verladen haben, – ›Rival‹ war ja wohl der Name derselben.« Boldock verschränkte die Arme über der Brust, lehnte sich an den Tisch und sah mit großem Ernste den Steuermann an. »Ich werde den Kurs der Brigg unverzüglich auf Halloran richten,« fuhr er fort. »Hoffentlich haben wir Glück und treffen die ›Queen‹ daselbst.«

»Der ›Wellesley‹ ist ein langsames Fahrzeug,« versetzte Hardy. »Wenn die Banditen uns kommen sehen, dann gehen sie mit dem Golde auf und davon und wir können ihnen nachflöten. Denn die ›Queen‹ holen wir nicht ein und wenn wir auch hundert Jahre hinter ihr drein schlichen.«

»Der Fall erfordert Ueberlegung und strategische Kunst,« sagte Boldock, den großen Kopf würdevoll und selbstbewußt zwischen seinen beiden Zuhörern hin und her drehend. »Zunächst steht fest, daß wir diese zehn Banditen fassen und ihnen den Raub abnehmen müssen. Das bringt uns Ehre und Prisengelder. Wie das Ding auszuführen ist, muß ich noch überdenken. Mr. Hardy, ich gehe mit Ihnen an Deck.«

Die junge Dame zog sich zurück; der Schiffer lud seine Pfeife voll, und beide Männer verließen die Kajüte.


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