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Zehntes Kapitel.
Die Beratung in der Kapitänskajüte

Der Sturm hatte die ›Queen‹ nach Norden in die Zone der leichten Winde verschlagen und so waren die Fortschritte, die das gute Schiff machte, zum Leidwesen der Passagiere nur gering. Im Vordergrunde des allgemeinen Interesses aber stand jetzt das rätselhafte Verschwinden der Miß Mansel. Hatte sie sich selber aus der Welt geschafft? War sie gewaltsam beseitigt worden? Aber wann, wie, warum und von wem?

Die junge Dame hatte sich wegen ihres bescheidenen Wesens und auch wegen ihrer angenehmen Persönlichkeit der Zuneigung aller Mitreisenden sowohl, wie auch des Kapitäns und seiner Offiziere zu erfreuen gehabt. Jetzt versuchte man sich der letzten Unterhaltung mit ihr, ihrer letzten Aeußerungen zu erinnern, um daraus vielleicht eine Erklärung des über sie gekommenen Verhängnisses zu finden. Mr. Storr glaubte sich entsinnen zu können, daß sie am vergangenen Tage besonders niedergeschlagen ausgesehen habe, als trüge sie sich mit trüben Gedanken. Dem widersprachen jedoch die andern, die so etwas nicht wahrgenommen hatten.

Die vom Schiffer befragten Matrosen hatten weder etwas gesehen noch gehört. Noch einmal wurde das ganze Schiff auf das gründlichste durchsucht, allein ohne Erfolg. Die junge Dame war über Bord, daran konnte nicht länger gezweifelt werden.

»Was denken Sie darüber?« fragte Burn den schwarzen Caldwell, der abgesondert an der Reeling stand, in die Weite blickte und dabei mit den Fingern nervös in seinem Barte wühlte.

»Worüber?« erwiderte dieser, den Kopf langsam nach dem Frager umwendend.

»Nun, über Miß Mansels Verschwinden.«

»Ich denke, daß das ein Glück für uns ist.«

»Da haben Sie recht. Uebrigens ist Trollop ganz meiner Meinung: das arme kleine Ding ist durch das Geheimnis, das sie erlauschte, zu Tode erschreckt worden; sie wußte sich in ihrer Angst weder zu raten noch zu helfen. Verriet sie uns, so fürchtete sie, umgebracht zu werden. Schwieg sie, nun – aber zum Teufel, Mensch, wie schauen Sie drein? Ihr Gesicht wäre wahrhaftig imstande, noch ganz andere Leute, als solch ein armes, furchtsames Mädchen, über Bord zu jagen!«

Caldwell stieß ein kurzes, heiseres Lachen aus.

»Wenn sie nicht an Bord ist, dann hat sie Selbstmord begangen,« versetzte er dumpf und gedämpft, da gerade die Dents mit Mrs. Holroyd vorüber gingen. »Weshalb, das ist Sache der Engel im Himmel. Sie aber können froh sein, Burn, daß sie aus dem Wege geräumt ist, ohne daß Sie sich dabei in Unkosten zu stürzen brauchten. Hätte sie nicht diesen vernünftigen Entschluß gefaßt, dann säßen wir alle, Mann für Mann, jetzt hinter Schloß und Riegel und mit Eisen an Händen und Füßen; das Spiel wäre verloren, ebenso das ausgelegte Geld, und was stünde uns bevor?«

»Freilich, freilich,« sagte Burn, seinen breiten Rücken an die Reeling lehnend und mit gekreuzten Armen die Gruppen auf dem Achterdeck betrachtend, »wir können uns ja zu diesem unerhofften Ausweg Glück wünschen, und um so mehr, weil sie nicht einmal vorher ihr Herz einer andern Dame ausgeschüttet hat. Dann hätte man uns auch noch ihren Tod zur Last gelegt.«

»Ohne Zweifel,« brummte Caldwell.

Burn, der jetzt Mr. Mark Davenire hinten am Heck gewahrte, schlenderte auf diesen zu. Auf Steuerbord stand der Kapitän mit Mr. Dent, Mr. Storr und Mrs. Peacock. Davenire saß auf der Gräting hinter dem Ruder und suchte zu erlauschen, was dort geredet wurde.

»Sind Sie wieder auf dem Damm?« fragte Burn.

»Natürlich, immer drauf gewesen,« antwortete Davenire unmutig. »Muß man denn gleich krank sein, wenn man einmal länger als sonst in der Koje bleibt?«

Masters gesellte sich zu ihnen und setzte sich neben Davenire auf die Gräting.

»Etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren,« bemerkte Burn, »als dieses Verschwinden –«

Ein Schlag gegen die Brust von Davenires schwerer Faust schnitt ihm das Wort ab.

Der Matrose am Ruder hatte sich, bei Burns Rede plötzlich aufhorchend, umgesehen; sein Blick, scharf wie das Scheidenmesser an seiner Hüfte, fiel auf Davenires Gesicht.

»Ich meine,« fuhr Burn schnell gefaßt fort, »ich meine, etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren, als das Verschwinden jeglicher Aussicht auf Wiederholung des schlechten Wetters, für die nächste Zeit wenigstens; freilich,« setzte er lachend hinzu, »mit dieser leichten Brise werden wir Kap Horn wohl erst im nächsten Jahr erreichen.«

»Ich für meinen Teil glaube auch, daß Selbstmord vorliegt,« sagte Masters leise. »Aber es ist jammerschade um das reizende Kind. Wenn's noch die alte Mutter Peacock gewesen wäre. Oder die brave Miß Holroyd. Ich gestehe, daß ich wirklich verliebt in ihre schönen Augen gewesen bin. Ich wäre ihr nicht von der Seite gewichen, wenn ihr Kerls nicht immer gefürchtet hättet, ich könnte ein Wort zuviel sagen.«

»Geschwätz!«

Mit diesem halb unterdrückten Ausruf verächtlichen Unwillens stand Davenire auf und ging schweren Schrittes zur Steuerbordtreppe und auf das Hauptdeck hinab.

Der Schiffer folgte der ungefügen Gestalt mit den Augen, dann trat er an Poole heran, der von der Leeseite des Achterdecks aus die Segel beobachtete.

»Wenn Mr. Matthews nicht schläft, möchte er sich sogleich in meiner Kajüte einfinden,« sagte er leise; »ebenso der Doktor.«

Poole eilte davon und kam gleich darauf in zwei Sätzen die Treppe wieder herauf, mit der Meldung, daß Doktor und Steuermann sich bereits in der Kapitänskajüte befänden.

Der Schiffer nickte wie abwesend. Sein Auge hing an der langen Gestalt Trollops, als fände sein Argwohn neue Nahrung beim Anblick des hochmütigen, höhnischen, trotzig herausfordernden, kalt verächtlichen Gesichtes dieses sogenannten Hauptmanns, dem die Hutkrempe fast auf der Nase saß und zwischen dessen Zähnen eine lange schwarze Zigarre schräg wie ein Bugspriet hervorstak. Nie und nirgends konnte es vorkommen, daß die Passagiere ihrem Schiffskapitän die Achtung versagten, so lange dieser Achtung beanspruchen durfte. Und verdiente er, Kapitän Benson, etwa keine Achtung? Bisher war die Beendigung jeder Reise ein Tag des Triumphes, der Ehren für ihn gewesen. Pokale und anderes Silber, Kristallgeräte, Standuhren und dergleichen Dankes- und Ehrengaben aus den Händen der Passagiere, schmückten daheim seine Junggesellenresidenz – wie kam es, daß diesmal von der gewohnten Harmonie an Bord keine Spur vorhanden war?

Aufseufzend wendete er sich ab und stieg die Kampanjetreppe hinunter.

In seiner Kajüte wurde er vom Doktor und vom Steuermann erwartet. Er nahm den Hut ab und sank in einen Sessel. Dem geübten Auge des Arztes entging es nicht, daß die Nerven des alten Herrn gründlich erschüttert waren, und er sagte sich im stillen, daß er denselben bald werde in Behandlung nehmen müssen.

»Ich wollte mich mit Ihnen beraten,« nahm der Schiffer das Wort. »Ich weiß nicht, was mit mir vorgegangen ist, ich verstehe mich selber nicht mehr; so lange ich zur See fahre, hat es mir niemals zur rechten Zeit am rechten Entschluß gefehlt – jetzt aber – ist's auf einmal anders, wie's scheint. Der unerklärliche Verlust der jungen Dame hat mich außer Fassung gebracht. Ich zerbreche mir den Kopf über ihr Geschick. Wenn wir annehmen müßten, daß sie ermordet worden ist –«

»Das halte ich für ausgeschlossen,« versetzte der Doktor. »Wer in diesem Schiffe könnte zu solch einer That nur einen Schatten von Veranlassung haben?«

»Hierin stimme ich dem Doktor bei,« sagte Mr. Matthews, auf dessen ehrlichem Gesicht die innere Sorge und Unruhe deutlich zu lesen war. »Ein Mord geht ganz ohne Geräusch nicht ab. Und wie sollte er ausgeführt worden sein? Mit einem Messer? Wir haben keine Blutspuren gefunden. Durch Strangulation? Auch davon findet sich keinerlei Spur in der Kammer. Aus dem Zustand des Bettes ist ersichtlich, daß sie dasselbe freiwillig verlassen hat.«

»Sollte nicht zwischen dem Verschwinden des Mädchens und der Plünderung der Waffenkiste ein Zusammenhang bestehen?« deutete der Kapitän an.

»In welcher Weise?« fragte der Doktor.

»Ist sie vielleicht im Bunde mit den Spitzbuben?« rief der Schiffer, wie von einem neuen Gedanken erfaßt.

»Unmöglich!« widersprach der Steuermann lebhaft. »Sie ist ja nicht mehr an Bord.«

Ganz ratlos schaute der Schiffer zum Fenster hinaus. Lange redete keiner der Anwesenden ein Wort. Endlich richtete der alte Seemann das Auge auf seinen ersten Offizier.

»Es ist ein Unheil an Bord dieses Schiffes im Anzuge,« sagte er langsam.

»Dann müssen wir ihm vorbeugen, und je eher Sie mir Ihre Instruktionen geben, je besser,« antwortete Matthews.

»Ich mißtraue diesen zehn Herren,« fuhr Benson fort, »ich mißtraue ihnen nach jeder Richtung, aber ich weiß nicht, wie ich ihnen beikommen soll. Ich kann ihnen nichts beweisen. Ich darf keine Maßregeln ergreifen, die ich später vielleicht nicht zu rechtfertigen vermag. Es sind ihrer zehn – denken Sie doch, wenn zehn Prozesse bei Gericht gegen mich anhängig gemacht würden, gegen mich, der ich einen Abscheu vor allen Gerichten habe, der ich noch niemals mit den Gerichten zu thun gehabt. Ich habe ein hartes, mühseliges Leben hinter mir und bin heute ein alter Mann; sollte ich mich in die Gefahr begeben, zu Grunde gerichtet zu werden von – von – von –«

Dunkelrot im Gesicht hielt er inne. Die Erregung drohte ihn zu ersticken.

»Sie verfügen über elf Matrosen vor dem Mast, Kapitän,« entgegnete der Doktor. »Hier hinten sind wir sechs Mann, Mr. Dent und Mr. Storr mitgezählt, sogar acht. Neunzehn gegen zehn« – er zuckte leicht die Achseln.

»Aber wissen Sie denn nicht,« rief der Schiffer heftig, »daß an Bord eine Ueberzahl nicht ins Gewicht fällt, wenn die Verschwörung gehörig angelegt ist und die Schurken ihre Sache richtig anzufassen verstehen?«

»Welcher Art sind Ihre Befürchtungen, Kapitän?« fragte der Steuermann.

»Wir sind ein reiches Schiff, und ich fürchte die Absichten dieser Männer,« antwortete der alte Herr, aus dem Sessel springend und hastig auf- und ablaufend.

Matthews schraubte die Augenbrauen in die Höhe; er war augenscheinlich etwas schwer von Begriffen.

»Was?« rief der Doktor halb flüsternd. »Sie glauben, daß die Zehn mit dem Plan umgehen könnten, sich des Schiffes und seiner Ladung zu bemächtigen?«

»Still! Um Gottes willen!« zischte Benson ihn an. »Jawohl, das fürchte ich! Der Waffendiebstahl ist der Anfang gewesen – aber ich weiß nicht, wie ich Miß Mansel damit in Verbindung bringen soll –«

Er blieb stehen und preßte die Hand gegen die Stirn.

»Aber keine Silbe hiervon zu einem andern!« gebot er nach einer Pause, während welcher der Doktor und der Steuermann ihn mit stockendem Atem angestarrt hatten. »Es könnte ja noch immer möglich sein, daß ich mich irrte.«

»Um Verzeihung, Kapitän,« sagte Matthews. »Darf ich meine Ansicht offen aussprechen?«

»Dazu sind Sie hier.«

»Wenn Sie Furcht hegen –«

»Was?« fuhr der alte Herr auf. »Ich Furcht hegen?«

Die kleinen Augen blitzten, und das weiße Haar begann sich zu sträuben.

»Ich wollte sagen, wenn Sie Grund zu der Befürchtung haben, daß jene Herren mit räuberischer Absicht an Bord gekommen sind, so muß man sie unschädlich machen, ehe sie Unglück anrichten können.«

»Vollständig meine Meinung!« nickte der Doktor.

»Sie stimmen also mit Mr. Matthews überein?« forschte der Kapitän.

»Gewiß; seine Folgerung ist durchaus logisch.«

»Sie raten mir also, auf bloßen Verdacht hin diese zehn Passagiere in Eisen zu werfen, sie drei oder vier Monate lang in Gefangenschaft zu halten, nur weil ich Grund zu Argwohn gegen sie zu haben glaube – und auf die Gefahr hin, von ihnen hernach gerichtlich belangt zu werden?«

Der Steuermann dachte einige Augenblicke nach.

»Sie haben mich rufen lassen und mir befohlen, Ihnen meine Ansicht zu sagen,« erwiderte er dann. »Gut. Meine Ansicht ist, daß Sie die Pflicht haben, das Schiff und seine Ladung, vor allem aber das Leben der Passagiere und der Mannschaft nach besten Kräften zu bewahren und zu schützen.«

»Auch dadurch, daß ich diese Männer bis zur Ankunft in England gefangen setze?«

»Jawohl.«

»Auf bloßen Verdacht hin?«

Der alte Herr stellte sich ganz dicht vor den Steuermann hin.

»Jawohl,« wiederholte dieser fest.

Benson schwieg und trat auf die Seite.

»Ich will mir die Sache überlegen,« sagte er nach langem Grübeln. »Auch Sie beide werden mir den Gefallen thun, alles noch einmal reiflich in Erwägung zu ziehen. Vielleicht können wir List mit List bekämpfen. – Mein Gott, ist jemals ein Schiffer in solcher Lage gewesen, wie ich!?«

Er sah auf seine Uhr.

»Ich wäre Ihnen dankbar für jeden Rat, für jeden Wink.«

Mit diesen Worten nahm er seinen Sextanten aus dem Kasten und ging, gefolgt von den andern, an Deck.


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