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Zehntes Kapitel

Madame Sivertsen stand starr, als sie die Tür öffnete und draußen Doktor Koldby erblickte.

»Himmel! Sie hier, Herr Doktor? Und Mr. Nielsen ist heute gerade nach Southampton gefahren, um Sie dort zu treffen. Die Dame ist auch mitgefahren. Sie kennen doch wohl die Dame?«

»Jawohl, ich kenne die Dame,« sagte der Doktor, der recht hastig sprach und höchst aufgeregt zu sein schien. »Ich hatte meine Gründe, Nielsen und die Dame nach Southampton kommen zu lassen. Und nun möchte ich Sie, Madame Sivertsen, ebenfalls bitten, sogleich dorthin zu reisen, noch an diesem Abend, und Herrn Nielsen diesen Brief hier abzugeben. Um sechs Uhr geht ein Zug, von Waterloo Station kommend, ab; wenn Sie sich sofort fertig machen, können Sie den noch erreichen. Sie erweisen mir einen großen Dienst, wenn Sie sofort reisen – einen sehr großen Dienst.«

Madame Sivertsen trat erstaunt zurück, aber, wie bereits erwähnt, war sie gewohnt, Aufträgen Folge zu leisten, und um sechs Uhr dampfte sie mit dem Expreßzug nach Southampton ab.

Der Doktor blieb allein im Hause zurück. Er setzte sich in das Speisezimmer – nahm die Katze auf den Schoß und hielt eine kleine Ansprache an sie.

»Amys Puß,« sagte er, »du bist eine armselige Katze, um die sich niemand kümmert. Und dennoch bist du Mitwisserin vieler Dinge, die – wenn sie ans Tageslicht kämen – die ganze Welt veranlassen würden, in ihrer Einfalt auszurufen, daß du mit deinem silbernen Halsband direkt vom Himmel gesandt worden seist, damit, was im geheimen ersonnen war, offen an den Tag gebracht werde. Ich will diesen Ruhm nicht von dir nehmen, Puß. Ich bin ein armer Mann, der sein Bestes tut, um menschlich zu handeln: ich lasse Allgemeinheiten unbeachtet und halte mich nur an die Einzelheit. Und die Verantwortung, kleine Puß, nehme ich auch auf mich. Das habe ich immer getan und werde es auch fernerhin tun. Aber du und ich, wir müssen zusammenhalten. Sonst geht es nicht.«

Puß machte einen Buckel und schnurrte dazu. Doktor Koldby aber saß noch lange in tiefe Gedanken versunken da. Dann raffte er sich zusammen, sprang auf und ging an ein seltsames Werk. – –

* * *

Madame Sivertsen traf Nielsen und Mrs. Weston im Hotel zu Southampton an. Sie erwarteten den Doktor und waren höchst überrascht, statt seiner Madame Sivertsen zu sehen.

Nielsen öffnete den Brief und stutzte. Das Schreiben lautete:

»Lieber Nielsen!

Kehren Sie morgen früh nach London zurück, denn früher können Sie nicht kommen. Bringen Sie Madame Sivertsen wieder mit und die Auserwählte Ihres Herzens dazu. Nehmen Sie meine besten Wünsche mit auf Ihren Weg dem Sonnenschein entgegen. Ich liebte Sie – sehr sogar; nun sind Sie aus meinem Leben geschieden. Nur einen Rat nehmen Sie noch von mir an. Stehen Sie ab von der verwünschten Justiz mit ihren Gesetzen; geben Sie sie auf. Nur Narren können denken, daß man die Justiz auf ein System zurückleiten kann; nur Narren können an eine rationelle Justiz glauben, die in Wahrheit nichts ist als ein erbärmliches Abfertigungsverfahren. Suchen Sie im Leben Wahrheit und Glück. Suchen Sie es zusammen mit ihr.

Seien Sie glücklich, Nielsen. Schlagen Sie in Cranbourne Grove Ihren Wohnsitz auf, denn es ist ein hübsches, behagliches Haus und enthält so manche Erinnerung. Und was die Räume betrifft, die unter dem Hause liegen, so können Sie Ihre Braut ruhig hinabführen und ihr alle Räume zeigen, denn nichts ist mehr da, was sie erschrecken könnte; was einstmals war, ist nicht mehr – und das ist mein Werk! – Miß Derry gab mir den Gedanken dazu. Nun ist es getan, und kein Mensch auf der Welt kann es ungeschehen machen.

Der Major und Miß Derry sind davongezogen, um ihr Glück zu suchen. Helfen Sie ihnen darin. Das ist ein Beginnen, dessen wir Menschen uns nicht zu schämen brauchen. Ich selbst ziehe auch davon. Ich will Sie vorläufig nicht wiedersehen – vielleicht eine gute Weile später. Nur will ich Ihnen noch sagen, daß ich nicht allein in die Welt hinausziehe; ich nehme den einzigen mit, der mich verraten könnte: Amys Katze. Leben Sie wohl!

Ihr Freund Jens Koldby.«

* * *

Im westlichen Teile von Cornwall, zwischen Granitfelsen und Moorland, liegt Sennen Cove – ein kleines Fischerdorf. Westlich davon haben sich die Klippen von Pedn-men-du aufgetürmt – den Wogen des Atlantischen Ozeans entgegen, die schäumend an ihnen zerschellen.

In diesem Ort traf eines Nachmittags im Juli ein fremder Maler ein; er war ein Däne, und nahm in einer kleinen Hütte nahe den Klippen Wohnung.

Sein Gepäck kam in einem Karren von Penzance an; es bestand außer einem Reiseplaid, einer Staffelei und den Farbtuben aus einer ungeheuer großen Kiste, die – wie er sagte – eine Skulptur von seiner Hand enthielt, denn auch in der Bildhauerkunst betätigte er sich. Es war die Statue eines jungen Weibes, sein Lieblingswerk, das Meisterwerk seines Lebens.

Begleitet war der Maler von einer wohlgenährten grauen Katze, die unter dem Namen »Amys Puß« ihr Wesen trieb. Die Einwohner des Ortes waren an die Besuche solcher »Malergesellen« schon gewohnt und nahmen von ihnen keine Notiz mehr; sie hielten sie allesamt für Heiden und ausnahmslos verrückt, und fanden keinen Grund, den Neuangekommenen vor den übrigen auszuzeichnen.

Die große Kiste in der Hütte hatte einen Raum für sich und wurde niemals ausgepackt.

Eines Tages aber, als ein heftiger Nordweststurm gegen die Klippen tobte, mietete der Maler einen Fischer sowie einen zweirädrigen Karren, schaffte mit Hilfe beider die Kiste bis auf das äußerste Ende einer Klippe und stürzte sie von dort aus eigenhändig in die brausende Tiefe. Hochauf spritzte die Flut, als die Kiste auf das Wasser schlug und dann in die Tiefe bis auf den Felsenboden versank.

Dieses Abenteuer bestärkte die Fischer nur in ihrer Ansicht, daß der Malergeselle verrückt sei – vielleicht noch ein wenig mehr als die andern seiner Sorte – doch das Ereignis war bald in Vergessenheit geraten, und die versunkene Statue blieb unter den Wracks und andern Überresten aus der Zeit des Schmuggels auf dem Meeresgrunde liegen.

Doktor Koldby verließ bald darauf das Dorf und wanderte weiter nach fernen Gestaden – – und Amys Katze zog mit ihm.


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