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Fünftes Kapitel

Während die Sonne draußen fröhlich strahlte, saßen die beiden Männer in einem der untern Zimmer schweigend da und dachten nach; das war eine ernste Sache.

Nielsen sprach zuerst. »Ich glaube, es ist am besten, ich gehe zur Polizei und zeige die ganze Geschichte an. Es ist vor kurzem ein Mord in diesem Hause begangen worden. Was den Toten anbetrifft, so glaube ich kaum, daß wir in ihm den Major zu suchen haben, denn Mr. Armstrong erzählte mir, daß dieser nur vier Tage lang das Haus bewohnt habe. Es scheint mir eher der Erbe zu sein, dessen Name Armstrong vergessen hatte. Was meinen Sie dazu, Doktor?«

Koldby sog an seiner Pfeife.

»Ich meine dazu gar nichts,« sagte er nach einer Weile. »Die Affäre ist jetzt auf jenem Punkt angelangt, wo der Arzt nichts weiter zu sagen hat. Ich habe den Tod festgestellt und meine Hypothesen über dessen Ursache abgegeben. Nun ist die Reihe an der Justiz. Der gewöhnlichste Weg, den in einem solchen Falle wohl jeder gute Staatsbürger einschlagen würde, ist freilich der zur Polizei – ist auch am bequemsten! Aber – hm, ja – ich bekenne, es überrascht mich, daß auch Sie zunächst und zuvörderst an die Polizei denken. Und ich kann nur annehmen, daß dieser Gedanke ganz instinktiv in Ihnen aufgetaucht ist.«

»Was meinen Sie?« fragte Nielsen.

»Hm,« versetzte der Doktor aus einer dichten Rauchwolke heraus. »Sie wissen, daß ich an ihren originellen Ansichten über das Rechtswesen, an Ihrer Freundschaft für das Verbrechen und an Ihrem Haß gegen alles, was Polizei heißt, durchaus Gefallen finde. Aber das scheint mir doch alles bloß graue Theorie gewesen zu sein; denn nun, da Sie zum ersten Male der Praxis gegenüberstehen, reden Sie über die Polizei wie jeder andere.«

Nielsen fuhr erregt in die Höhe. »Aber wie soll ich denn sonst reden? Ich für meine Person kann hier doch nichts tun.«

»Na eben,« sagte der Doktor lächelnd, »ich meine auch, daß Sie hier nichts tun können. Aber wie Sie wissen, liebe ich Personen, die nicht bloß Prinzipien aufstellen, sondern auch danach handeln. Und da stehen nun Sie – Kriminalist vom neuesten Typ – Verbrecherfreund bis in die Fingerspitzen, und das erste, woran Sie denken, ist – die Polizei!«

Holger Nielsen zuckte die Achseln. »Darum, daß man den gebräuchlichen Modus verurteilt und alles anders haben möchte, ist man doch nicht davon abgeschnitten, von vorhandenen Einrichtungen Gebrauch zu machen. Meine radikalen Ideen und Theorieen sind ein Ding, sie setzen mir ein zu erreichendes Ziel. Aber die vorhandenen Verhältnisse und Umstände sind auch ein Ding; sie haben die Maschine in Gang zu erhalten und müssen eben, solange die radikalen Ideen nicht zur Wirklichkeit geworden, auch dementsprechend berücksichtigt und respektiert werden. Der wahre Radikalismus besteht darin, daß man seine Ideen bis zu den letzten Konsequenzen verfolgt, sie unter das Volk verbreitet, die alten Ideen über den Haufen wirft, und dann ruhig abwartet, bis sich die neuen Gedanken ihren Sieg in der öffentlichen Meinung errungen haben. Nicht Revolution, sondern Evolution.«

Doktor Koldby nickte und meinte: »Sehr richtig. Und ich weiß das alles auch recht gut. Ich mag sogar im Unrecht sein. Aber an Ihrer Stelle würde ich es doch vorziehen, mit meinen Theorieen Hand in Hand zu gehen. Ich meine, Sie und Ihresgleichen, die das Gesetz und die Polizei verachten, haben kein Recht, ›Polizei!‹ zu rufen. Sie selbst müssen heran mit Ihren Beweistheorieen, Ihren Prinzipien der Verantwortungslosigkeit, Ihren Schlüssen und so weiter.

»Da finden Sie nun in Ihrem eigenen Keller einen toten Mann in einer Kalkkiste liegen. Sie wissen nicht, wer er ist, denn sein Gesicht ist unkenntlich und auch seine Bekleidung gibt keinen Aufschluß. Dem Anschein nach ist er ermordet worden. Was mich betrifft, so habe ich ja nicht das geringste Interesse daran, ob Sie den Burschen da der Polizei übergeben oder im Keller liegen lassen. Denn der Mann ist tot, und niemand von allen Mitbewohnern vermag mich weniger zu stören, als ein toter Mann im Keller. Und die Katze sind wir nunmehr ja auch los.

»Aber Sie, mein Freund, Sie müssen doch ein rein wissenschaftliches Interesse an dem Fall nehmen. Würde es nicht recht interessant für Sie sein, zu sehen, was Sie dabei herauszufinden vermögen. Behandeln Sie doch die Sache als eine Art Haussport. Soviel ich weiß, liegt keine Verpflichtung für uns vor, Bericht zu erstatten. Der Mann ist bereits tot.«

»Ich weiß nicht, ob man in England verpflichtet ist, einen Leichenfund zu melden,« unterbrach ihn Nielsen.

Der Doktor lachte trocken. »Da haben wir wieder den Gesetzesverächter! – – Mann, tun Sie meinetwegen, was Sie wollen. Aber lassen Sie sich wenigstens warnen, denn wir werden verteufelte Scherereien kriegen, wenn Sie Meldung machen; wir riskieren sogar Haft, Verhör und den übrigen Kram. Der Bursche ist ja noch ganz frisch!«

»Würde das ein Grund für Sie sein, eine solche Meldung zu unterlassen?« fragte ihn Nielsen.

»Offen gesagt, ja! Ich habe mich niemals als Reformator der Gesellschaft ausgegeben. Ich mag für sie auch nicht den kleinen Finger regen. Ich fühle mich ganz gemütlich so, wie ich bin, und wenn Sie mich fragen würden, was ich hier am liebsten täte, so antwortete ich Ihnen: Packen wir diese Person wieder in die Kiste, schieben sie in die Ecke, in der wir sie fanden, und nageln das Linoleum darüber, um ruhig an unser Tagewerk zu gehen. Es ist sicher, daß irgend jemand nach uns die Kiste wieder auffindet, ohne daß es uns dann noch etwas angeht, denn mit dem ersten August sind wir bereits über alle Berge.«

Der Doktor lehnte sich in seinen Stuhl zurück und qualmte weiter; er fühlte sich von seiner Rede befriedigt, das konnte Nielsen ihm ansehen.

»Wir riskieren, in den Verdacht der Täterschaft zu geraten, wenn die Leiche später gefunden würde,« sagte Nielsen. »Wir haben hier gewohnt, haben die Leiche gefunden und haben nichts gesagt! Da ist es wohl besser, wir nehmen die Unbequemlichkeit gleich auf uns – jetzt, da wir ein reines Gewissen haben. Es wäre lächerlich, wenn wir auch nur die leiseste Spur von Mitschuld auf uns nähmen.«

Der Doktor blickte ihn von der Seite an. »Ihre Gedanken werden wahrhaftig immer moderner,« sagte er ironisch. »Ich erinnere mich noch der letzten Vorlesung, die Sie im Kopenhagener Arbeiterklub über Schuld und Mitschuld hielten. Ja, das waren Ideen! Sie führten aus, daß jede menschliche Handlung – auch das Verbrechen – ganz individuell behandelt werden müßte. Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Die beiden kleinen radikalen Fräulein Smith weinten noch vor Bewegung! – Und nun – bedenken Sie doch, wenn diese Leiche etwa die eines Schurken ist, der vielleicht sein Weib geschunden oder den Ruin einiger Dutzend Mitmenschen auf dem Gewissen hat? Was dann? – Haben Sie schon ganz und gar vergessen, was Sie damals so geschmackvoll über die Gerichtshunde auf der Spur des Täters sagten?«

Nielsen lief ungeduldig auf und ab. »Sie haben leicht reden!« stieß er gallig hervor.

»Und Sie haben leicht tun!« gab jener trocken zurück. »Ihre Theorieen habe ich stets einfach hervorragend gefunden, aber Ihre Praxis, mein Lieber, weicht von der eines – Justizministers nicht im geringsten ab. Und daher hinkt die ganze Geschichte, die Sie sich ersonnen, sie ist lahm! Jawohl!«

»Wir könnten einen Mittelweg wählen,« meinte Nielsen.

»Einen Mittel ... Ha, ha!« rief der Doktor lachend. »Na, dann wählen Sie nur Ihren Mittelweg! Das ist bekanntlich der, auf dem alle trotteln, wenn sie zu nichts anderm angepeitscht werden.«

Nielsen wurde ärgerlich.

»Manchmal sind Sie wirklich dumm, Doktor.«

»O, sehr oft sogar – meistenteils! Immer! Ich bekenne es offen. Aber die Reihe zu reden ist jetzt an Ihnen. Legen Sie los mit Ihrer Erklärung. Wenn's nicht gar zu verzwickt wird, hoffe ich, Ihnen trotz meiner angeborenen Dummheit folgen zu können. Also ich bin ganz Ohr.«

Nielsen sann, gegen den Tisch gelehnt, eine Weile nach.

»Lassen Sie uns annehmen,« sagte er dann langsam, »wir täten nichts. Daß wir aus gesetzlichen Gründen dazu berechtigt sind, glaube ich annehmen zu dürfen. Und moralische Bedenken liegen ebenfalls nicht vor. Die Sache geht uns ja absolut nichts an. Wir kennen den Ermordeten nicht, noch wissen wir, ob er, von wem er und wie er ermordet worden ist.«

»Pardon,« sagte der Doktor, »er ist durch einen Stich in die Brust erdolcht worden.«

»Schön, aber dann wissen wir eben nicht, warum! Wir gehören auch nicht zu dieser Nation – zu dieser Gesellschaft, wir sind gewissermaßen frei – kurz, wir haben nicht die geringste Verpflichtung, uns mit der Sache zu befassen, wenn nicht ...«

»Wenn nicht das Gesetz dieses Landes uns dazu zwingt,« unterbrach ihn der Doktor kichernd.

Nielsen ließ sich auf einen Stuhl fallen und rief: »Sie sind heute unmöglich, Doktor. Also nun seien Sie zufrieden, wenn ich Ihnen sage, daß wir nach meiner Überzeugung zu keinem Bericht gezwungen sind; ich werde mir auch nicht die Mühe machen, darüber Erhebungen anzustellen, was das englische Gesetz für einen solchen Fall vorschreibt. Aber – und nun spitzen Sie Ihr Ohr – Sie haben eine Saite in mir berührt, die in Schwingung gerät, wenn sie angeschlagen wird; ich will mich nun doch an die Aufklärung dieser Sache machen. Sie sprachen vorhin von dem Urheber der Tat. Gut, so wie die Dinge liegen, halte ich sein Schicksal in den Händen.«

»Oder ihr Schicksal,« sagte der Doktor. »Die Sache sieht nach Frauenarbeit aus.«

»Schön, also ihr Schicksal. Wenn die Täterin ein Recht zu der Tat besessen hat, so soll sie's auch behalten, und damit ihr dieses Recht bewahrt bleibe, müssen wir die Angelegenheit in unsere Hände nehmen.«

Der Doktor unterbrach ihn wieder. »In unsre? Sie meinen, in Ihre. Ich riskiere, gehängt zu werden, wenn ich mich hineinmische. Und Sie, lieber Freund, lassen Sie sich sagen: Sie geraten eventuell in Teufels Küche! Aber vielleicht werden Sie sich dann als Märtyrer der Wissenschaft betrachten.«

Nielsen schwieg einen Augenblick lang, dann rief er: »Doktor, mag dem sein, wie ihm will. Dies ist eine Gelegenheit, meine Theorieen zu erproben: ich setze mich an die Stelle der rächenden Justiz, ich ziehe selbst den Urheber der Tat hervor, ich urteile selbst über seine Sache, und ich handle dann so gegen ihn, wie ich wollte, daß die Gesellschaft handle.«

Der Doktor nickte. »Sie sind ein guter Junge, Nielsen. Sie sehen sehr schön aus, wenn Sie so reden, und vielleicht haben Sie sogar recht. Aber eins haben Sie noch vergessen. Ihnen steht nicht derselbe große Apparat zur Verfügung, den die Gesellschaftsjustiz benutzen kann.«

»Ich habe nichts vergessen,« sagte Nielsen, der jetzt die Oberhand zu gewinnen begann. »Mein Hauptkampf gegen die Gesellschaft bezieht sich ja gerade auf den Mißbrauch der Gewalt im Justizdienst. Habe ich nun keine solche Gewalt in den Händen – gut, so kann ich auch keinen Mißbrauch mit ihr treiben. Doktor, ich sag' Ihnen, es geht. Ich setze mich an die Stelle der rächenden Gesellschaft, trete von Angesicht zu Angesicht dem Täter gegenüber, decke die Motive seiner Tat auf und fälle dann das Urteil. Das ist alles!«

»Ich hoffe, es wird Ihnen Vergnügen machen,« schloß der Doktor ironisch – aber es lag doch ein Leuchten in seinen kleinen grauen Augen.

»Machen Sie mit?« fragte Nielsen.

»Meinetwegen! – Mitkomplice bin ich ja schon ohnehin. So will ich's denn auch weiter bleiben. Ich werde noch eine Extrauntersuchung des Toten für Sie vornehmen, soweit es ohne Messer geht. Lassen Sie uns, solange Frau Sivertsen fort ist, die Gelegenheit benutzen, denn diese darf auf keinen Fall etwas zu erfahren bekommen.«

Und sie schritten zur Untersuchung des Toten hinab.


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