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Fünftes Kapitel

Es war gegen Nachmittag des folgenden Tages, als ein starker Wind einsetzte und Regenwolken heraufzogen. Nielsen stand an der Tür des Hotels und nickte dem Doktor zu, der soeben aus seinem Zimmer kam.

»Nun haben sie auf der Seewarte bereits zwei Signalbälle gehißt,« sagte Nielsen. »Es scheint ernst zu werden. Alle sind draußen auf der See, und der Wind kommt von Nordwest. Ich denke, wir werden heute noch das Rettungsboot zu sehen bekommen.«

Der Doktor rieb sich die Hände. »Da ist es ja ein wahres Glück, daß die beiden Englishmen sich gestern so unzivilisiert benahmen. Sonst säßen Sie jetzt ebenfalls draußen auf der Bai und schaukelten sich in Bolle Jensens Boot. Und nicht wahr, feste Erde unter den Füßen ist doch immer am solidesten!«

»Ich hoffe, es wird alles gut gehen,« erwiderte Nielsen, den Kopf schüttelnd, »vierzehn Motorboote sind draußen und vier Schmacken außer der ›Betty‹ unter Segel. Und alle Männer haben Familie.«

»Ja, und unsre beiden Englishmen auch! Wenn dem Throgmorton und dem Weston etwas zustößt, dann bleiben die beiden Amys zurück und wir erreichen vielleicht niemals eine Aufklärung unsres Geheimnisses. Die ganze Geschichte schwimmt uns buchstäblich fort.«

»Doktor, denken Sie wirklich an so etwas? Kommen Sie, es fängt an zu gießen, und der Wind rast in den Bäumen, als ob er sie entwurzeln wolle. Ich denke, wir tun gut, noch schnell nach dem Aussichtsberg zu gehen.«

Sie traten auf den Marktplatz hinaus. Vor jeder Tür sahen sie die Hausbewohner stehen und hinausblicken. Die Badegäste aus dem Hotel, in wasserdichte Mäntel und Schals gehüllt, kämpften sich langsam gegen den Sturm vorwärts, und unten auf der Straße ratterte und klapperte es – alle Fuhrleute trieben ihre Pferde nach Hause, um nötigenfalls zum Hinausfahren des Rettungsbootes zur Stelle zu sein.

»Nun ziehen Sie einen dritten Ball in die Höhe,« rief der Doktor, und in der Tat sah man über den niedrigen Dächern einen dritten Ball an der Gaffel des Signalmastes hängen und im Winde hin und her schwingen.

Sie kämpften sich aufwärts durch den Sand, der ihnen schneidend ins Gesicht flog. Oben bei der Signalstation standen die Leute dicht gedrängt bei einander, Frauen und Kinder, mit vorgebeugtem Kopf nach der Bai hinüberspähend.

Alle Boote waren draußen. Die See raste und der Gischt säumte die lange Küste. Draußen bei der Sandbank, an der sich die Wellen brachen, waren einige der Boote zu erblicken – zwei – drei – vier. Es waren Motorboote, die wie Nußschalen auf der schweren See umhergeworfen wurden.

»Das Rettungsboot wird herausgefahren,« schrieen die Leute oben, aber seine Bemannung befand sich auf See, nur die Reservemannschaft, die alten Leute, waren zu Hause. Der Sturm wuchs und heulte durch die Masten und das Takelwerk der ersten Boote, die jetzt glücklich das Land erreichten.

»Wir wollen hinuntergehen,« sagte Nielsen.

Der Sand wurde ihnen wie Schnee ins Gesicht getrieben, so daß die beiden Männer, den Rücken gegen den Wind gekehrt, hinabschreiten mußten, um den Strand zu erreichen. Dort lagen jetzt vier von den Booten, während fünf andre die nächste Sandbank erreicht hatten, von wo sie leichteres Spiel hatten. Die Motore zischten und ratterten, die Boote wandten sich zur Seite und liefen die Wellentäler entlang, wandten dann scharf um und schossen über die Wellen in ruhigeres Wasser.

Ein Boot nach dem andern lief ein, und alle Hände griffen zu, sie auf den Strand zu ziehen. Jedermann half mit, Frauen, Kinder, selbst die Badegäste.

Schließlich waren alle Motorfahrzeuge geborgen, und die Schmacken begannen sich hinter den Sandbänken zu zeigen. Sie flogen mit ihren flatternden Segeln wie Korkstücke umher, kamen aber allmählich näher und näher, setzten schließlich auch über die letzte Bank und waren an Land.

Und nun waren sie alle da – – alle, mit Ausnahme von Bolle Jensens »Betty«. »Alle außer Bolle Jens,« erklang es von Mund zu Mund. Sein Boot war noch nicht einmal in Sicht.

»Wir wollen wieder nach oben gehen,« sagte Nielsen. »Das Boot, das da fehlt, ist gerade unser Boot. Es hat zweifellos weit hinter der großen Sandbank gelegen und konnte sie daher nicht so schnell wie die andern erreichen. Silius Petersen sagt, sein Sohn sei kurz vor Ausbruch des Sturmes noch in Sicht gewesen; man habe ihn in die offne See hinaussteuern sehen.«

»Vielleicht machen sie dieselbe Reise wie im vorigen Jahr Lars Jensens Mannschaft nach Norwegen hinüber? Was meinen Sie, Silius?« fragte der Doktor.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Bei diesem Wetter? Nein, Bolle Jens ist freilich mehr als wagehalsig, aber das wagt er doch nicht ... Kommt dort nicht ein Boot?«

Es war kein Boot. Der Regen mischte sich mit dem Schaum der Wellen und fiel klatschend auf die Wasserberge hinab.

Nielsen und der Doktor stiegen wieder zur Seewarte hinauf, während unten das Rettungsboot langsam über den Strand gezogen wurde. Oben trafen sie Mrs. Weston.

»Ist Gefahr vorhanden?« fragte sie.

Nielsen schaute sie ernst an. »Es ist immer gefährlich, bei solchem Wetter an dieser Küste zu landen. Und das Boot ist noch nicht in Sicht. Doch wir können immerhin hoffen.«

»Wird das Rettungsboot auslaufen?« Ihre Stimme klang ganz ruhig und gefaßt.

Der Doktor trat herzu. »Wie ich hörte, soll es nicht eher ausgehen, als bis es für die Rettungsmannschaft wirklich etwas zu tun gibt. Und wenn das noch lange auf sich warten läßt, dann kann das Boot überhaupt nicht mehr auslaufen.«

»Warum nicht?« fragte sie.

»Weil die See immer höher geht, so daß es schließlich dem Rettungsboot selbst schwer fallen dürfte, sich jenseits der zweiten Sandbank zu halten.«

Mrs. Weston erwiderte nichts.

»Welch ein Mißgeschick,« sagte der Doktor, »daß Mr. Weston und Mr. Throgmorton gerade den heutigen Tag wählen mußten!«

»Aber Mr. Nielsen wollte zuerst auch mit hinausfahren,« sagte Mrs. Weston, während sie ihren Lodenmantel fester zusammenraffte und ihren Schal noch einmal um den Hals legte. Nielsen betrachtete sie dabei. Der Schal kam ihm bekannt vor; er hatte dasselbe Muster, wie jener, den er im Keller gefunden.

»Haben Sie Furcht?« fragte er sie.

Sie lächelte. »Furcht? Warum? Ich bin ja auf trockenem Land.«

»Ich meine, für die beiden draußen auf See.«

Ihr Gesicht verfinsterte sich. Sie erwiderte nichts.

»Wir wollen hinabgehen,« sagte der Doktor. »Ich sehe, dort zeigen sie alle nach der Sandbank. Ich vermag freilich draußen nichts wahrzunehmen, aber die Fischer haben bessere Augen als wir.«

Eine Menschenmenge hatte sich um das Rettungsboot versammelt. Die Badegäste suchten hinter dem großen rotgestrichenen Fahrzeug Schutz gegen Wind und Regen und sprachen mit gedämpften, ernsten Stimmen zu den Fischern hinauf, die, in ihr steifes Ölzeug gehüllt, bereits ihre Plätze im Fahrzeug eingenommen hatten, während der alte Larsen, der Kapitän, mit einem langen Teleskop auf die See hinausschaute.

»Die beiden Engländer sind auch draußen,« wurde unter der Menge geflüstert, und aller Augen waren auf Mrs. Weston gerichtet, als diese in Begleitung von Nielsen und Koldby sich näherte.

Der Ortsarzt, Doktor Madsen, der ihre Verstauchung behandelt hatte, trat mit einer Verbeugung auf seine Patientin zu. Er war ein angenehmer Mann und sprach recht gut Englisch.

»Bolle Jens ist einer der erfahrensten Fischer des Ortes,« sagte er. »Er hat schon Schlimmeres erlebt als dies. Zu Beunruhigung ist durchaus kein Grund vorhanden.«

»Ich bin auch gar nicht beunruhigt,« erwiderte Mrs. Weston.

Nielsen blickte sie prüfend an. Nein, sie war nicht beunruhigt – nicht mehr, als wenn die beiden Männer ihr gänzlich fern gestanden hätten.

»Doktor,« sagte Madsen flüsternd zu Koldby, »diese Engländerinnen sind wirklich seltsame Geschöpfe. Da steht sie nun, ohne eine Miene zu verziehen, kühl bis ans Herz – nun lächelt sie Ihren Freund gar an; sie haben Nerven wie von Stahl, diese Ladies aus dem verräucherten Inselland.«

Koldby zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es ihr auch gleich, was da passiert.«

»Was? Ihrem Gatten und ihrem Bruder?«

»Freilich. Warum nicht?« – –

»Hegen Sie wirklich keinerlei Befürchtungen?« fragte Nielsen, der die letzten Worte des Doktors aufgefangen hatte, Mrs. Weston.

Sie blickte ihn scharf an. »Was sollte das nützen?« erwiderte sie, und Nielsen bemerkte, daß sie bei den Worten fast lächelte.

»Sehen Sie die beiden Frauen dort,« sagte er ernst. »Es sind die Frauen von Niels Hansen und Jens Petersen. Alle ihre Hoffnung liegt draußen auf dem Wasser, und ununterbrochen starren sie nach der See.«

»Das tue ich ja auch,« unterbrach ihn Mrs. Weston. »Aber was nützt das in aller Welt? Ich wünschte, man ließe das Rettungsboot in See gehen, hier ist es zu nichts nütze.«

In diesem Augenblick entstand ein Gemurmel unter der Menge, und alles zeigte aufgeregt nach See.

»Das Boot ist in Sicht,« sagte Nielsen kurz.

Es war wirklich in Sicht. Die Menge teilte sich, und das Rettungsboot wurde ins Wasser geschoben. Es schwamm, und die Männer in ihren schweren Ölmänteln schwangen sich über die Bordwand auf ihre Plätze, während der alte Larsen das Steuerruder ergriff. Das Boot flog, von den Wellen gehoben, einmal empor, dann hatten die Männer die Ruder ausgelegt – es ging ein Knirschen durch das Holz und ein Klingen durch die metallenen Dollen – dann schoß das Boot vorwärts in die Wellen hinein.

Die am Ufer Stehenden verfolgten mit gespannten Blicken, wie sich das lange rote Fahrzeug jetzt mit der Breitseite halb den Wellen zuwandte, als ob es einen diagonalen Weg durch die Wogen finden wolle.

Und nun war auch die »Betty« ganz in Sicht – draußen hinter der letzten Bank. Doch der herabprasselnde Regen wurde stärker und verschleierte alles mit seinem streifigen Grau, aus dem nur wie zwei schwankende Schatten die vor dem Wind herjagende »Betty« und das Rettungsboot, das jetzt seinen Kurs geändert hatte und auf das Boot zusteuerte, erschienen.

Da sah man, daß die »Betty« ihr Hauptsegel beisetzte, und der alte Silius schüttelte den Kopf.

»Was ist los?« fragte Koldby, und Silius erwiderte: »Sie sollen sehen, Bolle Jens nimmt das Rettungsboot nicht an; er will versuchen, ohne Hilfe das Land zu erreichen. Das wäre ganz die Art der jungen Wagehälse, und die beiden Engländer, meine ich, werden ihn kaum zurückhalten. Diese Engländer sind zähe Kunden.«

Das Rettungsboot hatte sich inzwischen der dritten Sandbank genähert, doch die »Betty« beachtete es nicht, sie hob ihren weißen Rumpf aus den Wellen, und war dann in etwas stilleres Wasser geglitten.

»Das ist ihm geglückt,« sagte Silius, »aber das Schwerste steht noch bevor.«

»Er ist verrückt, bei solchem Wetter eine Landung zu versuchen,« schalt der Doktor, »warum zum Teufel nimmt er das Rettungsboot nicht an.«

»Er hat einen guten Fang an Bord,« sagte Silius, »und der ist verloren, wenn er das Boot verläßt. Sein Fahrzeug ist freilich versichert, der Fang aber nicht, und überläßt er das Boot jetzt dem Schicksal, dann wird es irgendwo nördlich von hier an Land getrieben und der Fang alsdann über Bord gewaschen. Nach dem zu urteilen, was die andern gefangen haben, ist seine Hummerladung etwa hundert Kronen wert, und das will Jens sicher nicht verlieren.«

Die Frau des Fischers kam zu Silius herauf.

»Glaubt Ihr, daß Jens auf das Rettungsboot übergehen wird?« fragte sie.

»Das sähe ihm nicht ähnlich,« erwiderte der Alte.

»Dann sei ihm Gott gnädig,« flüsterte sie.

»Bis jetzt hat sich Jens ja gut gehalten. Aber man soll doch nicht so die Vorsehung herausfordern.«

Die Frau trocknete sich mit der Hand die Augen. »Gerade solch ein Sturm war es damals, als Jens Molle verloren ging,« sagte sie mit leiser Stimme.

»Das ist richtig,« erwiderte er ruhig.

»Nun scheinen sie aber doch einigen Verstand anzunehmen«, sagte der Doktor. »Sie haben vom Rettungsboot ein Tau überholt.«

Die beiden Boote schaukelten sich in den Wellen, die hier zwischen den Bänken nicht so hoch gingen. Auf der »Betty« wurden die Segel herabgeholt, so daß jetzt der kahle Mast in weitem Bogen von einer Seite nach der andern schlug. Dann wurde das Fischerboot an die Längsseite des Rettungsbootes gezogen. In diesem Augenblick schlugen die Wellen so hoch, daß sie den am Lande Stehenden die beiden Boote verdeckten, doch als die Wogen wieder gesunken waren, sah man, daß die beiden Fahrzeuge sich wieder getrennt hatten. Das Rettungsboot wandte sich in weitem Bogen dem Lande zu, während die »Betty« zurückblieb.

»Allmächtiger!« rief da die Frau des Fischers, »nun setzt Jens wieder Segel bei!«

In der Tat gingen die Segel der »Betty« wieder hoch – Jens forderte die Vorsehung heraus.

»Ihre Freunde befinden sich wohl im Rettungsboot,« sagte Nielsen zu Mrs. Weston gewandt.

»Zweifellos,« versetzte sie, und ihr Gesicht zeigte keinerlei Bewegung.

Die beiden Fahrzeuge waren bereits mehrere Faden voneinander entfernt, das Rettungsboot schoß dem Lande zu, während die »Betty« auf den Wellen tanzte und den Wind abzufangen suchte.

Plötzlich ertönte ein schriller Schrei aus allen Kehlen derer, die am Strande standen. Die »Betty«, die von den Wellen an der Sandbank emporgehoben wurde und in einem wahren Schauer von Sturzseen stand, wurde in diesem Augenblick von einer Gegenwelle auf der andern Seite erfaßt und ganz um sich herumgewirbelt, so daß ihr grüngestrichener Boden und ihr Kiel über dem dunkeln Wasser sichtbar wurden.

Es war ein einziger langer Schrei, der auf dem Strand ertönte. Das Rettungsboot wandte sich wieder um und steuerte aufs neue den Wellen entgegen. Und als der Regen den Schaum vertrieben hatte, sah man auf dem Kiel des gekenterten Fahrzeugs zwei Personen sitzen, die, um ihr Leben kämpfend, sich an dem sinkenden Fahrzeug hielten. Wie ein Hai schoß das rote Rettungsboot auf sie zu.

»Es wird gehen,« sagte Silius, »sie kommen noch zur rechten Zeit.«

Das Rettungsboot glitt dem gekenterten Fahrzeug zur Seite und blieb ein paar Minuten lang neben diesem liegen.

»Warum wenden sie nun nicht wieder der Küste zu?« fragte der Doktor, nachdem ein paar Minuten in gespanntester Aufmerksamkeit vergangen waren, ohne daß das Rettungsboot sich der Küste näherte.

»Ich weiß nicht,« sagte Silius leise. – Dann ging ein Flüstern von Mund zu Mund.

»Es waren fünf Menschen im Boot,« sagte Silius. »Niels Hansens Sohn, die beiden Engländer und außerdem Niels und Jens. Einer oder zwei von ihnen müssen draußen geblieben sein, vielleicht sogar drei. Mag Gott ihnen gnädig sein. Der Strom muß sie bereits um zehn Faden nach Norden getrieben haben. Sie sind verloren.«

Die Minuten schlichen wie Stunden hin, während das große rote Boot über die Bänke gehoben wurde und schließlich mit lautem Knirschen und Krachen auf den Strand schlug.

Niels Hansens Weib kniete auf dem Sande nieder, und die Menge scharte sich mit hastigen Fragen um das Boot. Nielsen folgte dicht hinter Mrs. Weston; sie hatte kein Wort gesagt, aber sie sah, was geschehen war.

Die Männer kletterten aus dem Fahrzeug, auch der lange Engländer schwang sich über die Bordwand. Er blickte, ohne sich um weiteres zu kümmern, schnell über die Menge und eilte dann auf Mrs. Weston zu.

»John ist es,« war alles, was er sagte.

Nielsen sah, wie ihre Brust sich hob und senkte. Dann wandte sie sich, ohne ein Wort zu sagen, zur Seite und schritt neben Weston den Strand hinauf.

Unter der Menge aber ging es von Mund zu Mund: »Der eine von den Engländern ist draußen geblieben.«


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