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Fünftes Kapitel

Madame Sivertsen war nicht leicht aus ihrer Ruhe zu bringen. Ihr fettes friedliches Antlitz zeigte in der Regel keinerlei Ausdruck – aber als sie jetzt mit ehrlich gemeintem freundlichem Lächeln Nielsen die Gartenpforte öffnete und neben diesem die fremde, elegante Dame erblickte, da prallte sie doch vor Erstaunen zurück.

Nielsen mußte lächeln und klärte sie sogleich auf: »Das ist meine Hauswirtin,« sagte er.

»Ah,« rief Madame Sivertsen, wieder in ihre alte Apathie zurückfallend, »die Dame, der das Haus gehört?«

»Ganz recht.«

Madame Sivertsen trat zur Seite, um den beiden den Weg frei zu geben, als in demselben Augenblick jemand auf der Bildfläche erschien, an den keiner gedacht hatte: mit der stolzen Miene eines zum Hause Gehörigen nämlich – den Schwanz im Winkel von fünfundvierzig Grad zum Rücken in die Höhe gerichtet, kam die Katze den gepflasterten Gartenweg gemächlich heruntergeschritten.

Auf Madame Sivertsens Antlitz erschien wieder das breite Lächeln. »Ja, Mr. Nielsen, Puß hat sich inzwischen vortrefflich erholt,« sagte sie. Dann wandte sie sich der Dame zu, um ihr gutmütig auf Englisch zu berichten: »Sie wissen wohl, Madame, daß diese Katze eigentlich Ihnen gehört? – Die Herren nannten sie immer Amys Puß. Halbverhungert war sie, als sie sich plötzlich wie aus der Wand gekrochen in der Küche vorfand, und wenn sie jetzt so dick und rund geworden ist, so ist das nur meine Schuld! Nicht wahr, Pussy?«

Puß schnurrte.

»Puß verdankt in der Tat mir Leben und Freiheit,« sagte Nielsen. »Ich muß Ihnen nämlich erzählen, daß ich die Katze aus dem Keller unter dem Speisezimmer befreit habe, wo sie eingeschlossen war und sich nachts durch ihr klägliches Miauen bemerkbar machte.«

Er sprach in entschlossenem Tone und beobachtete Mrs. Weston dabei scharf.

Sie wurde totenbleich und begann heftig zu zittern.

»Wollen wir hineingehen?« forderte Nielsen sie auf, während die Katze sich zärtlich an das Kleid der Dame schmiegte.

»Mr. Nielsen,« erwiderte sie stammelnd, »mir – mir ist nicht ganz wohl. Ich glaube, ich täte gut, eine Droschke zu nehmen und nach dem Hotel zu fahren. Mir ist nicht wohl.«

Madame Sivertsen schaute sie groß an – Nielsen dagegen legte leicht seine Hand auf ihren Arm und sagte halb flüsternd: »Ich bestehe darauf, daß Sie mit mir hineinkommen. Hören Sie, ich bestehe darauf.«

Eine Blutwelle stieg ihr ins Gesicht, dann wurde sie wieder bleich und ließ sich von Nielsen fast mit Gewalt durch die Haustüre führen. Er öffnete die Tür zum Salon, fast mechanisch trat sie ein und nahm auf einem Lehnstuhl am leeren Kamin Platz. Nielsen blieb vor ihr stehen.

Da verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen.

Nielsen verhielt sich schweigend.

Endlich schaute sie trotz ihrer Tränen auf, wandte ihre flehenden Augen voller Verzweiflung auf ihn und sagte schluchzend: » Das also war es ... Sie haben mich gehetzt wie ein wildes Tier – Sie, Mr. Nielsen, dem ich vertraute – der einzige auf der Welt, dem ich vertraute!«

Nielsen war von ihren Worten heftig ergriffen, er fühlte, wie sein Herz zu ihr hingezogen wurde, aber wie eine Vision tauchte in seiner Erinnerung das scharf geschnittene, sarkastisch lächelnde Gesicht des Doktors auf. War jetzt der große Augenblick der Entscheidung gekommen? Bedeuteten ihre Worte ein Geständnis ihrer Mitschuld?

»Mrs. Weston,« sagte er, »ich verstehe Sie nicht. Ich habe Sie durchaus nicht wie ein wildes Tier gehetzt. Ich bin bereit, Ihnen zu helfen und beizustehen – jetzt wie bisher. Aber ich verlange eins von Ihnen – Offenheit!«

Sie antwortete nicht, sondern weinte vor sich hin, daß ihr ganzer Körper mitbebte.

»Mrs. Weston,« wiederholte Nielsen, »seien Sie offen; was auch geschehen sein mag, ich werde Sie nicht verlassen. – Nur Offenheit verlange ich.«

Sie schaute auf. »Später,« sagte sie, »später. Jetzt kann ich nicht, lassen Sie mich nach Hause gehen, lassen Sie mich ruhen. Ich bin nur ein Weib, dies ist zu viel für mich. Wenn Sie mich töten wollen, dann tun Sie es – aber stehen Sie nicht da und sehen Sie mich nicht so starr an. Ich schwöre Ihnen, daß ich unschuldig bin – wirklich unschuldig.«

Nielsen ergriff ihre Hand und sah sie mit einem Blick an – mit einem Blick, der viel, viel wärmer war, als Doktor Koldby für diese Situation passend gefunden hätte.

Da richtete sie sich auf und schlang ihre Arme um ihn: »O, helfen Sie mir – helfen Sie – nehmen Sie mich fort von diesem Ort. Ich – ich liebe Sie ja, ich will immer bei Ihnen sein – immer die Ihrige sein. Ich liebe Sie ja.«

Und Nielsen fühlte ihre Wange, noch von Tränen benetzt, gegen die seine gedrückt; da nahm er sie in seine Arme und küßte ihr die Tränen fort. – – –

* * *

Madame Sivertsen war an diesem Tage sehr mißvergnügt – und sie wurde es noch mehr, als Nielsen sie ersuchte, das Zimmer Doktor Koldbys für die fremde Lady einzurichten. Sie war doch engagiert worden, für zwei Herren den Haushalt zu führen!

Aber sie war doch eine erfahrene Person und verstand, Aufträgen Folge zu leisten. Und Nielsen schien auch nicht in der Stimmung, Widerspruch zu dulden.

Und sie machte das Zimmer bereit, doch als die Dämmerung fiel und sie sich in ihrer Kammer zur Ruhe begab, zog sie vorher noch Pussy auf ihren Schoß und sagte zu ihr: »Siehst du, Pussy, nun haben wir Damenbesuch bekommen. Jetzt sind unsre guten Tage vorbei! O, wie wahr ist es doch, daß wir Ladies die Ursache zu allen Sorgen und Mühen in der Welt bilden.«

Pussy nämlich war auch eine Lady.


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