Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

»Mr. Nielsen,« sagte Weston am nächsten Tage nach dem Lunch, indem er Nielsen auf seinem Spaziergange am Strande höflich begrüßte. »Sie sind Rechtsgelehrter und verstehen außerdem gut Englisch. Wollen Sie mir eine Frage gestatten? Ich bin dringend genötigt, sie zu stellen, und unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist sie auch entschuldbar.«

»Bitte sehr,« erwiderte Nielsen, »ich bin zu jeder Auskunft – soweit ich Bescheid weiß – gern bereit.« – Innerlich aber dachte er: Aha – er fürchtet die Polizei!

»Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, daß wir auf mein Zimmer gehen, wo wir ungestört reden können.«

»Durchaus nicht,« versicherte Nielsen. Und so gingen sie in das Zimmer Westons hinauf.

»Ich bin leider fremd in diesem Lande,« begann dort Weston, »und mit seinen Verhältnissen nicht vertraut. Die Fischer verstehen von solchen Angelegenheiten nichts, und der Polizeibeamte, der mich gestern beim Suchen begleitete, war augenscheinlich nur ein Unterbeamter. Sie dagegen sind dänischer Jurist, und ich bitte Sie, mir zu sagen, was nun von seiten der Behörde geschehen wird.«

»Oh, weiter nichts als eine Untersuchung der gefundenen Leiche,« sagte Nielsen, »ein höchst einfaches Geschäft, bei dem nur das Polizeihaupt als bevollmächtigter Richter und der hiesige Kreisarzt den Tod des Mr. Throgmorton und die Ursache des Todes feststellen. Wahrscheinlich wird auch die Mannschaft des Bootes verhört werden, um festzustellen, ob jemanden eine Schuld an dem Unfall trifft. Vermutlich trägt keiner die Schuld daran – und damit wäre dann die Sache erledigt.«

»Was wird aber mit Mrs. Weston und mir geschehen?«

»Sie werden die Aufforderung erhalten, eine Erklärung bezüglich der Identität Mr. Throgmortons abzugeben. Und dabei ist ja nichts weiter; Sie kennen ihn ja, und Mrs. Weston ist seine Schwester, nicht wahr?«

Bei dieser Frage warf Nielsen einen verstohlenen Blick auf den Engländer, der ihm recht erregt vorkam.

»Wird man keinen Eid von uns verlangen oder sonst dererlei?« fragte Weston in anscheinend ruhigem und natürlichen Tone, doch Nielsen glaubte zu hören, daß seine Stimme ein wenig zitterte.

»Nein, durchaus nicht,« versicherte er, »das Ganze ist bloß eine Formalität oder nicht einmal das.«

»Aber wie ist es mit der Erbschaftssache?« fragte der Engländer weiter.

»Die wird in England erledigt.« – Mr. Weston schien erleichtert, doch Nielsen fuhr fort: »Immerhin werden Sie oder Mrs. Weston oder Sie beide vor dem Zivilamt in Hjörring wegen Testamentsprüfung erscheinen müssen, das heißt, Sie werden eine Erklärung über den Nachlaß des Verstorbenen abzugeben haben. Alsdann wird die Sache durch das dänische auswärtige Amt an die zuständige englische Behörde weitergegeben.«

»Und wird man hier einen Eid verlangen?«

Nielsen lächelte – doch unterdrückte er es sogleich, als er sah, daß der Engländer die Stirn runzelte.

»Ich denke, Sie werden eidlich versichern müssen, daß Sie und Mrs. Weston Mr. Throgmorton seit so und so vielen Jahren kennen und seine Identität bezeugen können. Ob das wirklich notwendig sein wird, weiß ich nicht, aber es kann ja weder Ihnen noch Mrs. Weston peinlich fallen.«

»Natürlich nicht,« sagte der Engländer. »Heute wird das alles wohl noch nicht stattfinden?«

»Auf keinen Fall,« versetzte Nielsen. »Wenn Sie weiteren Beistand von mir wünschen sollten, bin ich gern bereit, Ihnen zu helfen. Natürlich praktiziere ich nicht mehr, aber Sie können dennoch in jeder Hinsicht über mich verfügen.«

»Danke,« sagte Weston, »ich werde mit Mrs. Weston sprechen.«

Nielsen ließ ihn allein.

Doktor Koldby saß faulenzend in seinem Strandstuhl. Das Wetter war jetzt warm und still, alle Folgen des Sturmes waren verschwunden, nur Bolle Jensens »Betty« lag mit mehreren Löchern und gebrochenem Mast auf dem Strand.

»Doktor,« sagte Nielsen, auf Koldby zutretend, »ich habe soeben mit Weston gesprochen, und wissen Sie, er ist wegen des Eides, den er zur Feststellung der Identität ablegen soll, beunruhigt. Nun gerät er in eine Klemme.«

»Sagte er etwas von der Taschenuhr?«

»Kein Wort.«

»Dem Polizeibeamten scheint er auch nichts gesagt zu haben. Dieser wackere Beamte nämlich hat mir soeben die Auffindung der Leiche mit allen Einzelheiten geschildert, ohne etwas von einer fehlenden Taschenuhr zu sagen. – Was macht Weston jetzt?«

»Er beratschlagt mit seiner Frau, wenn sie das ist. Ich habe ihm zu verstehen gegeben, daß er heute noch glimpflich davonkommen wird, während es ihm vor dem Zivilamt schon schlimmer ergehen werde.«

»Schlimmer? Wieso? Die beiden lügen ganz einfach was vor.«

»Er vielleicht; ob aber auch sie?«

»Selbstredend auch sie!« rief der Doktor. »Was sollte sie sonst tun?«

»Aber der Eid?«

»Eid? Lieber Nielsen, Sie sind ja selbst einer der schärfsten Gegner des Eides; Sie haben im Kopenhagener Arbeiterverein einmal einen großartigen Vortrag gehalten, wie verkehrt es sei, jemand zum Eide zu zwingen – und nun stehen Sie da und sind von der Vortrefflichkeit des Eides überzeugt. Sie müssen mich nicht falsch verstehen; ich habe eigentlich gar nichts andres von Ihnen erwartet, aber komisch ist die Sache doch, nicht wahr?«

»Ich habe niemals verworfen, daß in gewissen Fällen der Eid zur Aufdeckung der Wahrheit verlangt wird. Ich bleibe bloß dabei bestehen, daß jeder Zwang zum Bekennen der Wahrheit mit den gesunden Prinzipien der Justiz unvereinbar sind.«

»Natürlich,« sagte der Doktor lachend. »Die Polizei soll nichts zu sagen haben, die Spitzbuben dagegen haben alle Rechte auf ihrer Seite. Das ist der Grundsatz, auf dem auch diese Affäre basieren soll. Na, meinetwegen. Lang lebe der Fortschritt und die Kriminalogie! Je verrückter, desto besser!«

Nielsen wurde etwas ärgerlich. »Es kann gar kein Zweifel herrschen, daß auch Verbrecher ihre Rechte haben. Wenn Mrs. Weston zum Beispiel ihre Gründe hat, den Namen des Verstorbenen zu verheimlichen, dann sollte man sie eben nicht mit der Drohung ewiger Verdammnis zwingen, ihn zu nennen. Verbrecher haben gewissermaßen ein Recht zu lügen. Ich stehe prinzipiell allen Eiden entgegen, wenn ich auch anerkenne, daß sie etwas Moderneres sind als Daumenschrauben und glühende Zangen. Aber mit der Wahrheit haben sie ebensowenig zu tun wie die Tortur. Wenn es wirklich im Interesse dieser Leute liegt, zu lügen und einen Meineid zu schwören, dann werden sie es auch tun.«

»Das meine ich ja eben,« rief der Doktor, »aber erlauben Sie mir zu bemerken, daß Sie vorhin gerade das Gegenteil zu beweisen versuchten.«

»Das tat ich bloß, um meine Gedanken zu klären,« sagte Nielsen nervös. »Mrs. Weston will mich heute Nachmittag besuchen; ich habe ihr meine Dienste angeboten.«

Der Doktor lächelte. »Sehr aufmerksam von Ihnen!«

»Oh, ich wünsche natürlich nicht, daß sie in Schwierigkeiten gerät. Im Gegenteil.«

»Beabsichtigen Sie, ihr nunmehr die kleine Geschichte von Cranbourne Grove zu erzählen?«

»Nein, das noch nicht.«

»Sondern?«

»Ja – zunächst muß ich, koste es, was es wolle, herausfinden, ob Mrs. Weston an unsrem Geheimnis direkt als Mitschuldige beteiligt ist.«

»Und dann?«

»Dann – ja, dann ziehe ich die Sache vorläufig in die Länge – lasse sie reden, was sie reden will, und sage nichts von dem, was ich weiß. Schließlich werde ich die Sache solange hinausgedehnt haben, bis Miß Amy Derry auf dem Schlachtplan erscheint. Dann ist der Major verraten und Mrs. Weston gezwungen, offen zu uns zu sein.«

Der Doktor legte den Kopf auf die Seite.

»Mein lieber Cato junior, würde es Sie nicht besser kleiden, offenes Spiel zu spielen? Warum in aller Welt wollen Sie, der Kämpe für Wahrheit und Menschenrechte, mit gespaltener Zunge reden. Leben und handeln Sie doch nach Ihren reinen Lehrsätzen, Verehrtester!«

Nielsen erhob sich und blickte einen Augenblick lang auf das blinkende Wasser hinaus; dann wandte er sich um und sagte: »Oh, Sie Kleingläubiger! Wissen Sie nicht, daß nach der Erschaffung des Menschen in seiner Unvollkommenheit ihm sofort die Lüge zur Seite gestellt wurde, damit die Unvollkommenheit erhalten bliebe? Durch die Lüge kommt der Mensch seiner Urform gleich; die Lüge verbirgt, was offenbart werden soll; sie hat zu allen Zeiten eine große Rolle gespielt sie ist sogar die Wahrheit selbst gewesen. Wir können nicht absehen von der Lüge; nur wenn wir sie tagtäglich eingestehen, können wir sie allmählich loswerden, doch dann hätte die Welt ihr Ende erreicht, und der letzte Mensch würde sterben.«

Zu dieser Lehre sagte Koldby nichts.


 << zurück weiter >>