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Zehntes Kapitel

»Nielsen,« sagte der Doktor am nächsten Morgen nach dem Frühstück, »wir sind jetzt so weit gekommen, daß es an der Zeit ist, einen regelrechten Schlachtplan zu entwerfen. Wir wollen uns fragen, was die Polizei an unsrer Stelle jetzt tun würde. Und da meine ich, diese Amy hat sich nach ihren vielen Lügen – großen sowie kleinen – so verdächtig gemacht, daß die Polizei sie zweifellos in Sicherheit bringen würde. Nun müssen wir aber nicht vergessen, daß diese Amy es gar nicht nötig hat, uns die Wahrheit zu offenbaren, und verhaften können wir sie ebenfalls nicht. Dennoch müssen wir sie einem sehr ernsten und scharfen Verhör unterwerfen. Strengen Sie daher Ihr Gehirn noch ein bißchen an und versuchen Sie, einen Meisterstreich zu ersinnen.«

Nielsen lächelte. »Ist bereits geschehen, verehrter Doktor. Miß Derry hat freilich keine Spur von Verpflichtung, uns gegenüber die Wahrheit zu reden, aber sie dürfte sich doch davor scheuen, daß wir ihr Unannehmlichkeiten in den Weg legen. Und mit Hilfe dieser ihrer Furcht wird es uns gelingen, alles von ihr zu erlangen, was wir wollen. Das ist ein einfacher Polizeitrick. Um aber schlagen zu können, müssen wir Waffen haben, und diese Waffen werden wir uns von andrer Seite besorgen. Mr. Armstrong ist unser Mann. Wir müssen die ganze Vergangenheit dieser Gesellschaft wissen, und können das nur von Armstrong einerseits und Miß Derry anderseits erfahren. Wir verhören sie beide getrennt.«

»Und wie wollen Sie Armstrong zum Reden bringen? Etwa durch einen Appell an seine besseren Gefühle?«

»Nein,« sagte Nielsen schmunzelnd, »aber keine fünf Häuser von Armstrong entfernt wohnt ein Mr. Davis, der auch Häuseragent ist. Diese beiden Gentlemen sind Konkurrenten, und das sagt alles!«

»Ausgezeichnet!« rief der Doktor lachend. »Sie gehen zu Mr. Davis und klagen, wie unzufrieden Sie mit Armstrong seien. Und wenn Sie dem Davis dann noch ein gutes Geschäft in Aussicht stellen, so zieht er ohne Zweifel die Schleusen seiner Beredsamkeit auf, und Sie erfahren über Armstrong so viel Unvorteilhaftes, daß Sie ihn sicher werden in die Ecke treiben können.«

Nielsen rieb sich die Hände.

»Ich gehe schon. Und wenn ich Armstrong ausgepumpt habe bis auf den Grund, so gehe ich, bewaffnet mit diesen Erfahrungen, zu Miß Derry und zwinge auch sie, mit der Wahrheit herauszurücken. Wir werden dann wohl den Ort der Handlung mit einer uns mehr vertrauten Gegend vertauschen können.«

»Gut,« stimmte der Doktor bei. »Ich werde inzwischen eine Skizze von Turners unsterblichem ›Sturm im Kanal‹ aufnehmen. Ich erinnere mich noch eines Esels von Kopenhagener Professor, der dieses wundervolle Gemälde ›kopferkältend‹ und ›zum Niesen anreizend‹ nannte. So ein Schuft! Ich wünschte, ich hätte ihn und alle seine Kollegen unten im Kalk liegen zusammen mit unserem Mister X!«

Dies war ein Gegenstand, über den Nielsen grundsätzlich niemals mit dem Doktor stritt. Jeder hat das Recht, auf seinem Steckenpferd zu reiten, wenn er es nur in seinen vier Wänden tut. – – –

Nielsen begab sich somit zu Mr. Davis, der fünf Häuser von Armstrong entfernt wohnte, und redete ihm ein Klagelied über Mr. Armstrong vor. Mr. Davis bedauerte, daß ein unfreundliches Geschick Herrn Nielsen mit diesem – um noch ein mildes Wort zu gebrauchen – Schundagenten zusammengeführt habe, und als Nielsen mehr zu wissen wünschte, sagte der Agent diplomatisch, daß Mr. Armstrongs Ruf durchaus nicht der beste wäre. Er sei bei einer Affäre einer Baugesellschaft beteiligt gewesen, die mehreren wohlangesehenen Leuten schwere Verluste gebracht habe. Unter den Spekulanten habe sich sogar ein Offizier – ein gewisser Major Johnson – befunden, der durch diese Affäre gezwungen worden sei, seinen Abschied zu nehmen. Es sei ein richtiger Skandal gewesen, und in den Hauptbeteiligten der Affäre habe man Mr. Armstrong und außer ihm noch einen gewissen Mr. Weston, der besonders berüchtigt sei, zu suchen.

Nielsen wünschte noch mehr herauszubekommen, aber der würdige Mr. Davis wußte selbst nicht mehr; die Einzelheiten kannte er nicht.

So schied denn Nielsen freundschaftlichst von seinem neuen Bekannten, die Tasche voller Adressen, die er nicht brauchte. Er war zwar etwas enttäuscht über diese Ausbeute seines Besuchs, aber er glaubte doch, mit Hilfe dieser Kenntnisse Mr. Armstrong in die Ecke treiben zu können.

Und es dauerte nicht lange, so saß er ernst und reserviert in Mr. Armstrongs Privatbureau, dem Rhadamanthus, dem Richter der Toten, aus der griechischen Sage nicht unähnlich.

»Sir,« begann er in würdigem Tone, »als ich damals zu Ihnen kam, tat ich es in der Absicht, mit einem Manne, der sein Geschäft in einer Straße wie dieser hatte, in geschäftliche Beziehungen zu treten. Ich traf gerade Sie und faßte Vertrauen zu Ihnen; ich nahm das Haus, das Sie mir empfahlen, obwohl es mir zu teuer war. Doch es gefiel uns, und Ihnen, Mr. Armstrong, voll vertrauend zogen mein Freund und ich dort ein.«

Mr. Armstrong rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her; er wußte nicht recht, was da kommen sollte.

Nielsen fuhr fort: »Ich bin kein Irgendjemand von der Straße, sondern ich bin Rechtsgelehrter von Beruf. Und meine Tätigkeit als solcher bringt mich mit hochangesehenen Leuten zusammen, denen ich meine jetzige Adresse angeben muß ...«

Armstrong unterbrach ihn. »O, die Straße, in der Sie wohnen, gilt durchaus als vornehm.«

»Lassen Sie mich ausreden,« sagte Nielsen, »ich spreche nicht von der Straße, noch von dem Hause, sondern von dessen Besitzer. Major Johnson ist wegen einer schmutzigen Geschäftssache aus der Armee entlassen, nicht wahr? Mr. Weston und wohl auch Mr. Throgmorton sind wegen derselben Sache geradezu berüchtigt, nicht wahr? Und schließlich Sie selbst, Mr. Armstrong – – – diese Affäre mit der Baugesellschaft ...«

Armstrong brauste auf. »Ich bin nicht willens, mich von dem nächsten Besten beleidigen zu lassen.«

Nielsen sah ihn scharf an. »Seien Sie doch ruhig, Mr. Armstrong, von der Affäre weiß ja jeder Mensch. Mir ist es ja ganz gleichgültig, was für Leute das Haus besitzen, aber wenn ich jeden einzigen Tag wegen der zweifelhaften Geschäfte dieser Leute geplagt und belästigt werde, dann habe ich wohl das Recht, mich zu beklagen, und ich beklage mich. Vor allem Ihnen gegenüber, Mr. Armstrong. Sie haben mir nichts als Lügen erzählt, als ich das Haus mietete. Sie sagten mir, es gehöre einem Major in der Armee; daß dieser Major schon längst wegen unredlicher Geschichten ausgestoßen war, davon sagten Sie kein Wort. Ferner gaben Sie vor, den Namen des früheren Besitzers nicht zu kennen; dabei haben Sie gemeinsam mit ihm diese Skandalaffäre in Szene gesetzt. – Meinen Sie, ein solches Benehmen sei ehrenhaft? Wohl kaum. Und ich sage Ihnen, Mr. Armstrong, daß ich mir das nicht bieten lassen werde. Ich muß darauf bestehen, daß Sie mir alles mitteilen, oder – bei meiner Ehre – ich gehe sofort zu einem Advokaten und lasse die ganze Geschichte aufdecken. Ich muß unbedingt Klarheit darüber haben, wer der rechtmäßige Besitzer des Hauses eigentlich ist, denn ich habe keine Lust, mein Geld zu bezahlen, und eines schönen Tages hinausgeworfen zu werden, weil Ihre Schwindler gar keine Rechte auf das Haus haben.«

Nielsen sprach mit lauter Stimme, was Mr. Armstrong, da im Vorzimmer einige Leute warteten, recht genierte. Er drehte und wandte sich hin und her; er konnte es nicht wagen, das hohe Pferd zu besteigen, da an den Mitteilungen des Mr. Davis wirklich etwas Wahres war.

Und er beschloß, lieber zum Guten einzulenken.

»Was wünschen Sie zu wissen?« fragte er.

»Alles,« sagte Nielsen, und Armstrong begann:

Der Major wäre tatsächlich an der Baugesellschaft beteiligt gewesen, die nur eine unglückliche Spekulation, sonst nichts, gewesen sei. Den Abschied habe der Major aus andern Gründen – rein disziplinarischen – nehmen müssen. Das Haus gehöre Mr. Throgmorton und seiner Schwester, der Mrs. Weston, gemeinsam. Den Major habe Armstrong nur deshalb als Eigentümer angegeben, weil Throgmorton und Weston infolge geschäftlicher Mißerfolge übel beleumundet seien; auch der Umstand, daß Weston ein Trinker sei und der Major seiner Frau den Hof mache, sei daran schuld. Aus diesem Grunde hätten es die Herren für richtig befunden, England auf eine Zeitlang zu verlassen, und zwar wären sie aus ökonomischen Gründen nach einem Hafenort an der Westküste Dänemarks gezogen. Ob Major Johnson mit ihnen gegangen sei, wußte Armstrong nicht, doch sei der Major immer sehr ängstlich darauf bedacht gewesen, der Familie Derry aus dem Wege zu gehen, und er habe schließlich das Gerücht verbreiten lassen, er sei nach Birma gegangen. Hierin mochte auch einige Wahrheit stecken, denn Johnson habe dem Throgmorton Vollmacht gegeben, alle Gelder und Briefe für ihn in Empfang zu nehmen. Die Vollmacht sei vom 30. April dieses Jahres datiert.

Nielsen unterbrach ihn: »Also alles dieses haben Sie über die Leute gewußt, und mir erzählten Sie damals etwas ganz andres.«

Der Agent mußte es zugeben.

»Kennen Sie Miß Derry?« war Nielsens nächste Frage.

»Die junge Dame ist in den letzten Tagen ein- oder zweimal hier gewesen,« sagte er, »aber gemäß meinen Instruktionen habe ich ihr nichts mitgeteilt. Ich habe Order erhalten, keinem etwas zu verraten.«

»Nun, Mr. Armstrong,« sagte Nielsen schließlich in milderem Tone, »es freut mich, daß Sie mir die Sache nunmehr klargelegt haben. Um Ihrer selbst willen aber möchte ich Ihnen empfehlen, Ihren früheren Genossen kein Wort von dieser Unterredung zu verraten; denn es dürfte Ihnen kaum zum Vorteil gereichen, wenn Sie diesen Gentlemen erzählten, daß Sie Ihrer besseren Einsicht gefolgt sind und sich mir gegenüber frei ausgesprochen haben. Ich möchte auch selbst nicht, daß Sie Ihre Offenherzigkeit zu bereuen hätten. Mißgeschick kann uns alle treffen, und ich will Ihnen glauben, daß Sie ein Opfer des Mißgeschicks geworden sind. Ich werde fortan auf Ihrer Seite stehen, und ich bin, wie gesagt, kein Irgendjemand von der Straße. – Noch eine Frage, und ich bin dann fertig. Wann haben Sie den Major zum letzten Male gesehen?«

Der Agent kramte unter seinen Papieren.

»Am 26. April war er mit Mr. Throgmorton hier. Seitdem habe ich keinen von beiden gesehen.«

»Und Mr. Weston?«

»Mr. Weston habe ich seit Mitte April nicht gesehen. Ich kam nur selten mit diesen Herren zusammen.« –

Nielsen ging geradeswegs nach Hause; er war befriedigt von dem Resultat.

»Doktor,« sagte er, »nun haben wir einen guten Schritt vorwärts getan. Wir wissen, daß Major Johnson der Mrs. Weston offenkundig den Hof gemacht hat, daß der Major für eine Zeitlang zu verschwinden wünschte, und daß den beiden andern daran gelegen war, ihn für immer verschwinden zu lassen. Das hat sich seit dem 26. April begeben. Ferner wissen wir, daß Weston und Throgmorton zwei höchst unsympathische Personen sind, daß das Haus dem Major nicht gehört, und daß er diesen Throgmorton bevollmächtigt hat, sein Geld in Empfang zu nehmen.«

Der Doktor nickte. »Das läßt uns vermuten, daß die beiden Schwindler in der Zeit vom 26. bis 29. April den Major ermordet haben und darauf außer Landes gezogen sind. Aus unbekanntem Grunde gerade nach jenem dänischen Fischerdorf. Schön, wir werden sie dort schon finden. Aber die Katze – Amys Katze? Wenn Miß Derry wirklich im Recht ist – wenn ihr die Katze nicht gehört und sie also gar nichts mit diesem Drama zu tun hat – ja, warum erzählte sie uns dann soviel Lügen? Warum sagt sie zum Beispiel, sie wisse die Adresse des Majors, während sie doch in Wirklichkeit keine Ahnung davon haben kann? Was will sie überhaupt noch von ihm?«

»Das alles herauszufinden, ist meine nächste Aufgabe. Und nach dem guten Resultat, das ich bei Mr. Armstrong erzielt habe, bin ich weniger ratlos darüber, wie ich bei dieser jungen Lady etwas erreichen kann. Die eigentliche Schwierigkeit liegt mehr darin, Zutritt zu ihr zu erlangen. Übrigens bin ich nach diesen Mitteilungen von Armstrong auch willens, sie mit aller Schonung zu behandeln.«

Der Doktor legte den Kopf auf die Seite.

»Sind Sie nun schon wieder von ihrer Schuldlosigkeit überzeugt? Die ungünstigen Nachrichten über Throgmorton und Weston beweisen das noch lange nicht. Bedenken Sie doch, daß Miß Amy Derry mit diesen Gentlemen unter einer Decke gesteckt haben kann, daß sie – von dem Doppelspiel des Majors zur Verzweiflung getrieben – in diesem selben Hause die blutige Rache der Eifersucht an dem Treulosen genommen hat, während die beiden Halunken, Throgmorton und Weston, diese Tat zu ihrer pekuniären Bereicherung benutzt haben. Ich sage Ihnen, wenn das Mädel gänzlich reine Hände hat, so wird sie Ihnen ohne weiteres mitteilen, was sie weiß. Sie brauchen ihr nicht einmal mit Unannehmlichkeiten zu drohen.«

»Und wenn sie keine reinen Hände hat?« fragte Nielsen dazwischen.

»Dann werden wir eben in ihr den Schlüssel zum Rätsel finden und uns außerdem eine Reise nach Hjörring ersparen.«

* * *

Nielsen machte sich auf den Weg nach Clarendon Road, doch Madame Sorel, die inzwischen ihre Instruktionen erhalten, war so ungefällig, ihn nicht zu empfangen.

Da ließ denn Nielsen eine Karte zurück.

»Sehr verehrtes Fräulein! Es ist zwecklos, meinen Besuch zurückzuweisen. Ich weiß, wo Major Johnson sich befindet; vielleicht interessiert Sie das. Übrigens haben Sie unsre Bekanntschaft begonnen: Sie kamen zu mir, und ich möchte diese Angelegenheit lieber mit Ihnen als mit Ihrem Herrn Vater zur Erledigung bringen. Ich werde darum morgen vormittag um elf Uhr wieder hier vorsprechen. Ihr ergebener ...« –

Die Antwort lautete günstig; noch an demselben Abend traf sie in Form eines Telegramms ein.


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