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Sechstes Kapitel

Cranbourne Grove 48, den 15. Juli 19..

Lieber Doktor!

Ich vermisse Sie wenig! Mit dieser Erklärung will ich beginnen, denn sie macht Ihnen bereits klar, wie die Dinge hier liegen: das Schicksal hat mich erreicht, ich bin, wie Sie es zu nennen beliebten, Amys Kater geworden. Ich liebe Amy, und Amy liebt mich. Die erstere von beiden Tatsachen kannten Sie schon, für die zweite müssen Sie mein Wort nehmen. – In intellektueller Hinsicht waren Sie mir immer überlegen, kühl und scharfsinnig, wie Sie sind. Ich sende Ihnen darum einen Bericht über das Verhör, das ich über die Angeklagte Namens Amy Weston abgehalten habe; prüfen Sie seine Wahrscheinlichkeit und erklären Sie, ob Sie mit der Schlußfolgerung, bei der ich als Untersuchungsrichter angelangt bin, einverstanden sind. Zuvor aber will ich Ihnen eine Übersicht über den Fall mit allen seinen Einzelheiten vorlegen, und bitte Sie, sich diese Bemerkungen vor Augen zu halten, wenn Sie die Dokumente prüfen. Es ist ein sehr komplizierter Fall gewesen, und seine einzelnen Teile haben uns zu vielen gemeinsamen Beratungen veranlaßt; nur zu den letzten Schritten haben die Umstände mich allein gezwungen. Ich habe die Untersuchung vollendet, und der Fall sieht seiner richterlichen Erledigung entgegen.

Der Fall hat zwei Seiten: eine theoretische und eine praktische. Er beruht auf einer Tatsache: Am 4. Mai fanden wir beide im Keller des Hauses Cranbourne Grove 48 die Leiche eines erwachsenen Mannes. Das Gesicht war unkenntlich, und nur wenige oder in der Tat gar keine Anzeichen, die auf die Person des Toten hätten hindeuten können, waren vorhanden. Anderseits bestand kein Zweifel, daß hier ein Verbrechen begangen worden war, das heißt eine Tat, die die Staatsbehörde veranlaßt hätte, einzuschreiten und die Täter zu bestrafen.

Die theoretische Seite ist dann folgende: War es unsre Pflicht, die Staatsgewalt, in diesem Falle also die Londoner Polizei, herbeizurufen und ihr die Angelegenheit zur Verfolgung zu übergeben?

Wir debattierten über die Frage und kamen zu dem Schluß, daß uns die Sache nichts anging, und daß wir das Recht besaßen, sie unbeachtet zu lassen.

Gleichzeitig aber stimmten wir darin überein, daß uns als Mitglieder der Menschheit der Fall interessierte und daß dies eine Gelegenheit war, den Fall vom rein menschlichen Standpunkt aus zu verfolgen und durch unsre Nachforschungen zu entscheiden, ob hier der gewöhnliche Begriff des Verbrechens angewandt werden könne. Dadurch waren wir auch imstande, alle diejenigen zu schonen, die bei einer normalen Verfolgung der Sache manchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt gewesen wären; wir konnten die Öffentlichkeit, die in solchen Fällen immer Schaden anrichtet, ausschließen und wir konnten, ohne die vielen Nebenwege zu verfolgen, die die Behörde berücksichtigen muß, einfach geradeaus gehen.

Unsern Zweck haben wir erreicht, denn wie Sie aus beiliegenden Dokumenten ersehen können, ist der Fall nunmehr völlig aufgeklärt. Ob die Tat ein vollendetes Verbrechen ist oder nicht, dürfte Geschmackssache sein. Worüber Sie zu entscheiden haben, ist: ob wir die Behörde zum Einschreiten veranlassen sollen oder ob wir den Fall ohne Gerichtshof erledigen dürfen.

Die praktische Seite der Sache liegt anders: Wir fanden den Ermordeten, wir fanden die Katze, die uns mitteilte, daß sie einer gewissen Amy gehörte, und wir fanden zwei Amys: Major Johnsons Amy und meine Amy. Dann stellten wir das Trio Weston, Throgmorton und Johnson auf, während wir Miß Derry und Mr. Armstrong mehr außer Betracht ließen. Wir folgten dem Trio und fanden die zweite Amy. Dann mischten sich höhere Mächte in unsre Affäre, bliesen in der Nordsee einen Sturm zusammen und setzten Throgmorton außer Spiel. Wir hielten damals Major Johnson für den Ermordeten und die beiden andern für die Täter. Das war ein Irrtum, denn es dauerte nicht lange und wir gelangten zu der Ansicht, daß der Mann, der sich Weston nannte, der Major sein müsse. Und er ist tatsächlich der Major, während Mr. Weston der Tote ist, der mit Kalk bedeckt in unserm Keller liegt. – Den Namen des Täters schließlich ersehen Sie aus einliegendem Dokument.

Wir haben somit das Verbrechen – um den technischen Ausdruck zu gebrauchen – mit unfehlbarer Sicherheit aufgedeckt und zwar in der Zeit vom 4. Mai bis zum 15. Juli, was in Anbetracht der vorliegenden Umstände eine recht achtbare Leistung ist.

Wenn wir nun unsre theoretischen Erfahrungen mit unsern praktischen vergleichen, so finden wir, daß die von uns gewählte Methode, vom praktischen Standpunkt aus gesehen, vortrefflich ist. Theoretisch dagegen befriedigt sie weniger. Alle Umstände, denen gegenüber wir zu Anfang unschlüssig waren, sind noch vorhanden oder doch ein großer Teil von ihnen. Mißgriffe und Behelligungen der Schuldlosen sind sicher vermieden worden, aber die Hauptfrage ist noch unbeantwortet geblieben, und ich will versuchen, sie in eine solche Form zu kleiden, daß Sie Ihr Urteil darüber abgeben können. Die Frage lautet dann folgendermaßen: »Liegt irgend ein für uns zwingender Grund vor, den Fall der gesetzlichen Behörde vorzulegen und deren Urteilsspruch herauszufordern?«

Ich stelle die Frage ganz klar, so daß Sie nur mit ja oder nein antworten können.

Und im Anschluß hieran will ich eines bemerken: im Laufe unsrer Forschungen und der Ereignisse, die da geschahen, während wir unsre Fäden spannen, bin ich – in gesetzlichem Sinne – meines Amtes unfähig geworden. Theoretisch genommen, bedeutet dieses für uns eine Niederlage, denn es beweist, daß das Individuum wegen seiner ererbten Neigungen und überhaupt der ganzen menschlichen Natur nach gar nicht imstande ist, die Gewalt der Gesellschaft zu vertreten. Das ist an sich nichts Neues, ich wünsche nur Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Soweit ich überblicken kann, ist es eines der ungelösten Existenzprobleme, wie die Interessen der einzelnen Person – des Ichs – mit denen der Gesellschaft – der andern – vereinbart werden sollen; ich zögere jedoch nicht, mit dem berühmten Philosophen Leibniz zu erklären, daß ich glaube, eine Lösung der Frage dadurch herbeiführen zu können, daß bei jeder Handlung das Ich des einzelnen die Hauptrolle zu spielen hat. Und indem ich diese Frage Ihnen zur Entscheidung übergebe, lege ich jedenfalls den Beweis dafür ab, daß ich den ehrlichen Wunsch habe, unsre Angelegenheit auch vom altruistischen Standpunkt aus zu betrachten. – Nach dieser Einleitung überlasse ich Ihnen das Studium der Dokumente, die ich der Wirklichkeit möglichst entsprechend abgefaßt habe, so daß Sie imstande sein werden, die Angelegenheit ganz unparteiisch zu richten. Zeugen waren beim Verhör leider nicht zugegen, da ich Madame Sivertsen nicht gut hereinrufen konnte, und Amys Katze nicht dazu geeignet ist, obwohl sie eine wichtige Rolle in der Affäre gespielt hat.

Ich erwarte Ihre Antwort und verbleibe
Ihr aufrichtig ergebener Holger Nielsen.

* * *

Urschrift des Verhörs, das am 12. Juli 19.. in London, South Kensington, Cranbourne Grove 48, in Sachen der am 4. Mai im Keller des genannten Hauses aufgefundenen unbekannten männlichen Leiche abgehalten wurde.

Der Gerichtshof trat um siebeneinhalb Uhr abends zusammen und bestand aus Holger Nielsen als selbsternanntem Richter ohne Zeugen. Es erschien, frei von Zwang und Beeinflussung, Amy Weston, welche angab, daß sie am 1. März 18.. in Trinidad als Tochter des verstorbenen Doktor Charles Throgmorton und seiner ebenfalls verstorbenen Gattin Cäcilie Jones geboren sei. Die Eltern starben, als die Zeugin noch ein Kind war, und sie genoß ihre Erziehung bei einer Tante in Trinidad. Im Alter von siebzehn Jahren kam sie nach London und wurde im Hause einer Schwester ihres Vaters, der Miß Jenny Throgmorton, aufgenommen, die das erwähnte Haus Cranbourne Grove 48 besaß. Amy und ihr um drei Jahre älterer Bruder John Mc Gregor Throgmorton waren die einzigen Kinder. Der Bruder, der das Technikum in South Kensington besuchte, erhielt nach Beendigung des Studiums eine Anstellung als Ingenieur bei der Great Western Eisenbahngesellschaft. Die Zeugin schildert ihn als einen verlogenen, liederlichen Menschen, der ihr und ihrer Tante beständig Kummer bereitete. Schließlich wurde er von seiner Stellung entlassen und eröffnete in Gemeinschaft mit einem gewissen James Weston, einem Schulkameraden von ihm, in Lambeth ein elektrisches Bureau. Weston, den die Zeugin als einen tätigen und energischen Mann schildert, war ein häufiger Gast im Hause ihrer Tante und schien auf Throgmorton einen guten Einfluß auszuüben. Die Tante der Zeugin wurde allgemein als wohlhabend betrachtet und gab des öfteren zu verstehen, daß sie ihr ganzes Vermögen ihrer Nichte zu vermachen beabsichtigte. Dieser Umstand wahrscheinlich war es, der Mr. Weston veranlaßte, der Zeugin besondere Aufmerksamkeit zu erweisen. Diese war damals zweiundzwanzig Jahre alt, und da ihre Tante sehr zurückgezogen lebte, hatte sie nur wenig Gelegenheit gehabt, mit Menschen zusammenzukommen und sich ein Urteil über sie zu bilden. Daher kam es, daß sie, als Weston nach einer Bekanntschaft von etwa sechs Monaten um sie warb, seine Werbung annahm. Nicht, weil sie ihn liebte, sondern weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte und ihre Lebenslage zu verändern wünschte.

Auf die Frage des Richters, ob sie jemals für einen Mann Liebe empfunden habe, antwortete sie entschieden verneinend und fügte hinzu, daß der Richter der erste und einzige sei, den sie wirklich liebe, und daß diese ihre Liebe bis ans Ende ihres Lebens währen würde.

An dieser Stelle wurde das Verhör um ein paar Minuten vom Richter »vertagt«.

Fortsetzung des Verhörs um achteinhalb Uhr.

Auf Befragen des Richters erklärte die Zeugin, daß die ersten Jahre ihrer Ehe mit »glücklich« im gewöhnlichen Sinne des Wortes bezeichnet werden können. Ihr Gatte erwies ihr alle nur mögliche Aufmerksamkeit, ihr Bruder betrug sich manierlich, und das Geschäft der beiden Schwäger florierte. Dann aber traf sie ein schwerer Schlag: bei der Übernahme einer öffentlichen Arbeit hatten sie die Kosten falsch berechnet und erlitten nun bei der Ausführung so schwere Verluste, daß sie gezwungen waren, ihre Tätigkeit einzustellen. Es gelang ihnen wohl, einen Bankrott zu vermeiden, aber von dieser Zeit an hatten sie mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen und machten häufig Anspielungen darauf, wie wünschenswert für sie der baldige Tod ihrer Tante sei. Sie stürzten sich in unhaltbare Spekulationen aller Art, die ihnen bald Gewinn, bald Verlust einbrachten, und Westons Betragen wurde nun ebenso ausschweifend wie das Throgmortons. Die Beziehungen zwischen ihm und seiner Gattin wurden recht kühl, und häufig kam es zwischen ihnen zu Szenen, die ernstere Reibungen befürchten ließen.

Es endete schließlich damit, daß die Zeugin im Herbst des Jahres 19.. das Haus verließ und zu ihrer Tante zog, die schwer erkrankt war und ihrer Pflege bedurfte. Ungefähr zu derselben Zeit machten Weston und Throgmorton die Bekanntschaft des Majors James Johnson vom 27. Lancerregiment, der in besonderem Kommando nach London gekommen war. Der Major war ein noch junger bemittelter Mann und mit einer jungen Dame, Miß Derry, der Tochter eines bedeutenden Geschäftsmannes, verlobt; er war bestrebt, sein Einkommen zu vergrößern, da dieses durch seine Neigung zum Spiel stets sehr geschmälert wurde. Durch Vermittlung eines Agenten nun, des Mr. Sydney Armstrong, wurde dieses neugeschaffene Syndikat Weston-Throgmorton-Johnson in eine Bauspekulation verwickelt, die mit einem Skandal endigte; die drei Spekulanten hatten die Grenze des gesetzmäßig Erlaubten erheblich überschritten und vielen Personen, besonders solchen mit kleinen Einkommen, schwere Verluste verursacht.

Major Johnson wurde sofort aus der Armee entlassen; Weston und Throgmorton wurden einem Verhör unterzogen, das jedoch zu keinem Resultat führte, da sie gesetzlich nicht zu fassen waren. Die Zeugin wußte, daß dieses Ereignis die Eltern der Miß Derry veranlaßte, dem Major mitzuteilen, daß sie die Aufhebung seines Verlöbnisses mit ihrer Tochter verlangten. Miß Derry aber hegte, wie die Zeugin weiß, noch weiterhin warme Zuneigung zu dem Major, was die Zeugin umso unerklärlicher findet, als sie selbst stets nur Widerwillen gegen diesen Mann empfunden hat. – Weston und Throgmorton brauchten nicht lange, um das unrechtmäßig bei dem Bauschwindel verdiente Geld zu verschleudern, und als bald darauf die Tante der Zeugin starb, fand sich Weston bei letzterer ein, bat sie um Verzeihung, versprach ihr Besserung für die Zukunft und behandelte sie mit so viel Güte, daß sie einwilligte, mit ihm in dem Hause, Cranbourne Grove 48, das sie soeben geerbt hatte, zusammen zu leben.

Das sollte sie aber bald bereuen. Major Johnson nämlich wurde jetzt ein ständiger Gast im Hause. Ganz abgesehen von dem Widerwillen, den sie gegen ihn empfand, war sie um so weniger gewillt, seine Anwesenheit zu ertragen, als sie erkannte, daß er in höchst unziemlicher Weise und mit ganz unehrenhaften Absichten ihr seine Gesellschaft aufzuzwingen suchte.

Auf Befragen des Richters erklärt die Zeugin, daß sie niemals andre Gefühle als die geschilderten für den Major gehegt habe, und daß sie ihn, trotzdem er seine Annäherungsversuche lange Zeit fortsetzte, immer mit Widerwillen von sich gestoßen habe.

Diese Erklärung veranlaßte aufs neue eine kurze »Vertagung« des Verhörs, das jedoch bei der Wichtigkeit der Sache bald wieder fortgesetzt wurde.

Die Zeugin berichtete sodann, daß Weston sich von nun ab dem Trunk und der Verschwendung ergab, während der Major, der im Gegensatz zu den beiden andern einen ehrbaren Lebenswandel führte, ihr ständiger Gast wurde. Da sagte sie ihm denn eines Tages, sie habe den Eindruck, daß die beiden Männer ihn bloß um sein Geld betrügen wollten; sie bat ihn ernstlich, zurückzutreten und sie in Frieden zu lassen. Der Major schien ihren Worten nicht zu glauben, teilte sie jedoch nichtsdestoweniger Mr. Weston mit und rief dadurch eine Szene hervor, die der Untersuchungsrichter wegen ihrer Wichtigkeit mit den eigenen Worten der Zeugin (er hat diese stenographisch festgehalten) wiedergeben will.

»Ich erinnere mich noch jenes schrecklichen Abends – es war der 26. April – ein kalter, nasser Tag. Gegen acht Uhr abends hatte ich das Licht aufgedreht und saß hier in diesem Zimmer, wo wir uns jetzt befinden, an jenem Tische am Kamin, wo Sie jetzt sitzen. Major Johnson saß plaudernd mir gegenüber und hatte – ich erinnere mich noch genau daran – eine Katze auf dem Schoß, dieselbe Katze, die Sie Amys Puß nennen. Da zog er aus der Tasche eine kleine silberne Kette hervor und erzählte mir, daß diese eigentlich seiner ersten Braut, Miß Derry, gehöre, deren Vorname ebenfalls Amy ist. Die Kette legte er der Katze um den Hals, um, wie er sagte, mir zu zeigen, daß all sein Denken nur auf mich gerichtet sei. Wir waren ganz allein zu Hause, denn unser bisheriges Mädchen war gegangen und das neue sollte erst am nächsten Tage kommen.

Da wurde die Tür aufgestoßen, und Weston, schwer betrunken und laut krakehlend, trat herein – obwohl ihn mein Bruder, der hinter ihm folgte, zurückzuhalten suchte. Ich will nicht versuchen, die Worte, die gesprochen wurden, zu wiederholen; das Blut erstarrte in meinen Adern, so schrecklich redete der Mann, seine Worte waren so roh und unsäglich gemein, daß ich sie nur teilweise verstehen konnte. Ich erinnere mich nur noch seines letzten Satzes: ›Nimm sie, James, nimm die Dirne, und wenn sie etwa spröde ist, so gib ihr 'nen Fußtritt. Ich verkaufe dir das Weib für tausend Pfund, wie du weißt. Den Preis ist sie wert, und du bist ja ganz vernarrt in sie. Meinetwegen kann sie zum ...‹

Ich sprang auf.

Major Johnson hatte sich ebenfalls erhoben.

Ich versuchte aus dem Zimmer zu flüchten, doch Weston vertrat mir den Weg – ich wähne jetzt noch seinen nach Schnaps riechenden Atem in meinem Gesicht zu fühlen, seine starren, blutunterlaufenen Augen vor mir zu sehen und seine heisere, rauhe Stimme zu hören. Und dann geschah es. Er versuchte mich zu ergreifen, und ich – – ich glaube, ich ergriff ein stählernes Papiermesser, das auf dem Tisch lag, und stieß es ihm in die Brust. Ich hörte noch seinen Schrei, dann fiel ich zu Boden und verlor das Bewußtsein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Sofa im Wohnzimmer. Der Major stand über mich gebeugt davor; er war bleich, aber sehr ruhig.

›Mrs. Weston,‹ sagte er, ›verlassen Sie sich auf mich, es soll Ihnen kein Leid geschehen. Glauben Sie mir, vertrauen Sie mir! Ich war es, der ihn tötete, ja, ich war es, verstehen Sie wohl, ich war es!‹

Ich verstand ihn nicht, erfuhr jedoch bald, was geschehen war, erfuhr es, während mein ganzes Ich vor Schreck und Erregung erbebte, und in dieser Erregung billigte ich, was die andern vorschlugen – machte mich zum Mitschuldigen meines Bruders und stürzte mich selbst in all das Unglück, aus dem nur Sie allein, Sie, der einzige, den ich liebe, mich befreien können.« –

An dieser Stelle brach der Richter in Anbetracht des erregten Zustandes der Zeugin das Verhör ab und vertagte es auf morgen. Es war jetzt gegen elf Uhr nachts.

Verhör geschlossen – Zeugin entlassen – Gerichtshof aufgelöst.

* * *

Fortsetzung des vorangegangenen Verhörs.

Am 13. Juli kam der Gerichtshof gegen elf Uhr vormittags an derselben Stelle wieder zusammen. Amy Weston, frei von Zwang und Beeinflussung, erschien wieder und erklärte, was folgt:

»Ich verbrachte die Nacht nach diesem Ereignis mit Hilfe eines Schlafpulvers in Ruhe. Und am nächsten Tag befand ich mich entgegen aller Erwartung wohl genug, um an den Beratungen zwischen meinem Bruder und dem Major Johnson teilzunehmen. Und da zeigte es sich, daß mein Bruder an Infamie dem Weston nicht nur ebenbürtig, sondern sogar überlegen war. Major Johnson bestand darauf, daß er die Tat vollbracht haben sollte, und erklärte sich bereit, alle Verantwortung auf sich zu nehmen. Mein Bruder aber versuchte ihm klarzumachen, daß dieser Schritt ihn nur ruinieren könnte und uns beiden keinen Nutzen bringen würde. Ich fühlte mich krank und schwach, schauderte als ein Weib bei dem Gedanken an Polizei und Gefängnis, und mein Bruder benutzte diese Schwäche von mir. Er benahm sich wie ein richtiger Schurke; er schmiedete einen Plan, nach dem Westons Gemeinheit nach dessen Tode fortgesetzt werden sollte. Nachdem er die Leiche beiseite geschafft hatte, bekam er den Major ganz unter seinen Einfluß, teils, indem er ihm andeutete, ich würde mich durch sein ritterliches Benehmen von meinem Widerwillen gegen ihn abbringen lassen, teils durch Hinweis auf die sichere Aussicht, öffentlich in eine Skandalaffäre verwickelt zu werden. Es gelang ihm sogar, den Major zu bewegen, dem Namen nach zu verschwinden und das Gerücht zu verbreiten, er sei nach Birma gegangen. Und alles dies tat mein Bruder nicht etwa um meinetwillen, sondern – wie sich später herausstellte – um von dem Major eine Vollmacht zu erhalten und um ihn so weiterhin als die Goldmine zu benutzen, die er zu Lebzeiten Westons gewesen war.

Und so begann jenes von Haß erfüllte Leben, das erst am Tage, da mein Bruder ertrank, ein Ende nahm.« – –

Auf Befragen des Richters gab die Zeugin an, sie wisse mit Sicherheit, daß sie und nicht der Major den verhängnisvollen Stoß gegen Weston getan habe. Das Verschwinden der Katze war ihr zwar auch aufgefallen, allein sie hatte diesem Umstand keine Beachtung geschenkt, bis sie jetzt kürzlich das Haus wieder besuchte und von der Befreiung der Katze aus dem Keller hörte. – Die Zeugin gibt zu, daß der Pfad, den der Richter bei seiner Untersuchung eingeschlagen hat, der richtige gewesen ist, doch erklärt sie, dieses offene und volle Geständnis nur aus Liebe zu ihm abgelegt zu haben, in dessen Hände sie auch ihr ferneres Schicksal lege.

Mit Bezug auf Miß Derry erklärt sie auf Befragen, daß sie diese Dame nicht kenne, sondern nur wisse, daß sie eine starke Zuneigung für den Major hege. Sie weiß, daß Miß Derry Nachforschungen über den Verbleib des Majors angestellt hat, und daß dieser Umstand mit ein Grund dafür war, daß der Major den Namen des Verstorbenen – Weston – annahm. Mit Bezug auf den Major erklärte die Zeugin, daß sie ihn trotz seines Benehmens zu ihr, seiner Charakterschwäche und seiner Unregelmäßigkeit in Geldsachen doch für keinen schlechten Menschen halte, und daß er ihr in einem Falle tatsächlich eine gewisse Ritterlichkeit erzeigt habe, die nur durch seine nachfolgende Schwäche und seine Nachgiebigkeit ihrem Bruder gegenüber wieder ausgeglichen wurde. Über ihren Bruder erklärte sie, daß dieser ein in jeder Hinsicht verdorbener und lasterhafter Mensch sei, und daß sie ihm nur gehorcht habe aus Furcht, in einen öffentlichen Skandal verwickelt zu werden, bei dem es auch zur Entdeckung des Mordes hätte kommen können.

Nachdem die Zeugin erklärt hatte, daß sie sich in alle Maßnahmen fügen wolle, die der Richter für geeignet halten würde, wurde das Verhör um ein Uhr geschlossen.

Holger Nielsen.


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