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2. In Lökken

Erstes Kapitel

Unweit der Bai von Sorrow liegt Lökken, freundlich und einladend mit seinen beiden kleinen Kirchtürmen und der großen rotgestrichenen Seemarke: ein kleines Fischerdorf zwischen sandigen Dünen.

Das war der Ort, wo Holger Nielsen und Doktor Koldby das Geheimnis von Cranbourne Grove zu enträtseln hofften.

Mr. Armstrong hatte ihnen freilich die Adresse ›Postlagernd Hjörring‹ aufgegeben, allein in Hjörring erklärte ihnen der Postbeamte auf ihre Frage, daß ein Engländer des genannten Namens seit Anfang Mai in Lökken wohne, und so nahmen die beiden Diener der Justiz einen Wagen, der sie nach Lökken bringen sollte.

Als sie auf dieser Fahrt an dem Hügel von Bröglum vorbeikamen, ließ Nielsen halten, und sie stiegen aus. Denn der Bröglumer Hügel mit der gleichnamigen Abtei darauf ist eine der schönsten Stellen Dänemarks. Die Sonne stand hoch, und eine steife Brise wehte von der See her. Nielsen atmete mit Wonne die Luft in langen Zügen ein und rief, zu seinem Gefährten gewandt: »In dieser klaren Luft muß jede Verheimlichung unmöglich sein. Sehen Sie, wie die Sonne auf das blaue Wasser draußen scheint! Und wenn das Land uns nicht hilft, dann rufen wir die See herzu – die See dort im Westen.«

Der Doktor nickte. »Freilich ist es hier schöner als in London. Vor allem klarer; man jappt hier förmlich wie ein Fisch auf trocknem Land. In der Heimat ist's immer am schönsten. Und wissen Sie was? Wollen wir nicht lieber diese ganze Affäre sich selbst überlassen, Madame Sivertsen nach Hause rufen und Amys Katze allein das Haus bewohnen lassen, solange, als wir es gemietet haben?«

Nielsen wandte sich um und schritt zum Wagen zurück.

»Keine Sentimentalitäten, Doktor. Wir haben eine Pflicht zu erfüllen, 'ran an die Sache und vorwärts!«

Der Abstieg vom Bröglumhügel ging nur langsam vor sich; der Weg war sandig und schwer fahrbar, und die Pferde schwerfällig und träge. Der Kutscher schließlich war ein echter Jütländer, der sich mit allem Zeit ließ.

»Was ist nun eigentlich Ihr Plan?« fragte der Doktor.

»Vorläufig habe ich noch nichts Bestimmtes beschlossen – es sei denn höchstens eine Erkundung. – Aber sehen Sie mal dorthin, Doktor, da gibt's ein Unglück.«

Doktor Koldby blickte über den Vordersitz der Reisekutsche hinweg und sah in einiger Entfernung vor ihnen eine Dame auf einem Zweirade, die augenscheinlich die Gewalt über ihre Maschine verloren hatte. Sie schwankte nach links und dann nach rechts, und plötzlich lag sie im Graben. Zwei Herren, die augenscheinlich zu ihr gehörten, kamen, ebenfalls auf Rädern, hinter dem Wagen hergefahren und überholten diesen an der Stelle, wo die Straße eine scharfe Biegung macht. Sie hielten auf der Stelle und sprangen ab.

Der Wagen hielt ebenfalls.

Die Dame saß bleich und anscheinend mit schmerzenden Gliedern auf dem Grabenrande; sie hielt ihr linkes Handgelenk mit der Rechten.

Nielsen sprang aus dem Wagen, und auch der Doktor kletterte – wenn auch bedächtig – hinaus, um sich dann der Dame und ihren Begleitern zu nähern.

» Impossible,« hörten sie einen der letzteren sagen, » quite impossible

»Engländer,« flüsterte der Doktor.

Nielsen lüftete den Hut und fragte höflich, ob er behilflich sein dürfe; er sagte es auf Englisch und erkannte sofort, daß er willkommen war. Und noch mehr willkommen waren beide, als sich der Doktor als Arzt vorstellte. Die Dame hatte sich das Handgelenk verstaucht und war außerstande, die Fahrt fortzusetzen, zumal sich die Gabel des Rades verbogen hatte. Nachdem der Doktor ihr eine nasse Kompresse umgelegt hatte, das heißt ein in eine Wasserpfütze getauchtes Taschentuch, wurde ihr ein Platz im Wagen eingeräumt, während das Rad quer über den andern Sitz gelegt wurde.

Die Gentlemen stellten sich als Mr. Weston und Mr. Throgmorton aus London vor, während die Dame Throgmortons Schwester, Mrs. Weston, war.

Doktor Koldby nahm die Vorstellung sehr kühl auf, während Nielsen vor Freude rot wurde.

Die drei waren also die Leute aus Cranbourne Grove; nur der Ermordete fehlte, was die Vermutung, er wäre Johnson, nur bestätigte.

Als sie am Bestimmungsort angekommen waren, ließ es sich Mrs. Weston trotz ihrer Schmerzen nicht nehmen, den beiden ihre Dankbarkeit auszusprechen, während die Gentlemen versicherten, daß nur eine höhere Macht die beiden Freunde nach Lökken geführt haben könne.

Dann wurde Mrs. Weston zu Bett gebracht, und man schickte nach dem Ortsarzt, da Koldby seinem Kollegen nicht ins Handwerk pfuschen wollte.

Als die beiden Freunde nachher in ihrem Hotelzimmer standen, sagte der Doktor: »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Nielsen.«

»Nun, was denn?«

»Daß sie unschuldig ist! Jawohl – und Miß Derrys Aktien beginnen wieder zu sinken. Aber nichtsdestoweniger – der Anfang unsrer Bemühungen hier ist nicht schlecht. Bisher habe ich stets geglaubt, derartige Zufälligkeiten ereigneten sich bloß in der Phantasie abgefeimter Novellenschreiber, aber heute habe ich gesehen, daß auch das Leben mitunter seine romantischen Einfälle haben kann. Und ich beginne beinahe an die höhere Macht zu glauben, die uns so schnell mit den Mordgesellen zusammengeführt hat.«

Nielsen schüttelte den Kopf und entgegnete: »Sie wissen, Doktor, daß wir uns aller voreingenommenen Meinungen enthalten müssen.«

»Das halten wir uns beständig wechselseitig vor,« sagte der Doktor. »Sie vergessen es besonders dann, wenn die verdächtigen Personen sich als zum weiblichen Geschlecht gehörig und als jung und lieblich erweisen. Danken Sie Ihrem Stern, daß Sie solch einen ältlichen illusionsfreien Weiberhasser mit sich auf den Weg bekommen haben, wie ich einer bin. Aber eins möchte ich noch bemerken: ich hoffe, daß diese Lady hier nicht etwa ebenfalls Amy heißt. Wenn ja, dann protestiere ich einfach.«

»Still!« sagte Nielsen – denn in diesem Augenblick schritten die beiden Engländer an ihrem Fenster vorbei, und der eine von ihnen sagte: »Der Doktor meint, daß Amy schon in ein paar Tagen wiederhergestellt sein wird.«

Nielsen und Doktor Koldby sahen einander schweigend an. Sie dachten jetzt beide an eins – an die Katze, und Koldby sagte schließlich: »Nielsen, wir hätten unsern Mausefänger einpacken und mit nach Lökken nehmen sollen.«


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