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Siebentes Kapitel

Was werden Sie aber hierzu sagen, Herr Justizminister?«

Mit diesen Worten trat Doktor Koldby ein wenig später an demselben denkwürdigen Nachmittag ein und schwenkte ein Blatt Papier in der Luft.

Nielsen sah auf. »Was haben Sie da bekommen?«

»Ein Billet-doux, mein Freund, eine reizende, kleine Karte, von energischer Damenhand geschrieben – natürlich ohne Datum, denn solch wichtige Kleinigkeiten pflegen Damen nicht zu beachten. Der Inhalt ist folgender: ›Wenn nun wirklich alles aus sein soll zwischen uns, dann mag es so sein, aber ich sage dir, daß du es noch bereuen wirst!‹ Die Unterschrift lautet ›Amy‹, die Anrede ›Lieber James‹.«

Nielsen griff nach dem Blatt – ja, es stand wirklich Amy dort – es war ein Drohungsbrief von ihr.

»Nun haben wir vier Dokumente,« sagte der Doktor, »Nummer eins die Leiche, Nummer zwei die Katze, Nummer drei das Halsband und Nummer vier diese Karte! – Wie, wenn es Amys Tat wäre, die Rache hat nehmen wollen?«

Nielsen nickte gedankenvoll. »Armstrong erzählte mir, daß Johnson froh gewesen sein soll, seine Braut losgeworden zu sein. Es ist somit möglich, daß Amy diese Braut war und ...«

»Daß Johnson die Leiche ist? Hm, das erscheint mir doch nicht recht glaubhaft. Der Major ist zweifellos eine Person von Ansehen und Bedeutung, die nicht so einfach und ohne Spuren zu hinterlassen von der Bildfläche verschwinden kann! Natürlich ist ja immerhin möglich, was Sie meinen: daß Amy ihren Geliebten aus Rache ermordet und dabei ihre Katze im Keller vergessen hat. Aber es erscheint mir dann höchst merkwürdig, daß die Lady sich hierzu ihre Katze mitgebracht haben soll, und wenn es anderseits etwa Johnsons Katze ist, dann begreife ich nicht, warum sie sich Amys Katze nennt.«

»Ich will zugeben, daß Sie im Recht sind,« sagte Nielsen. »Wir wissen zwar, daß diese Katze einer gewissen Amy gehört, auch wissen wir, daß der Major mit seiner Geliebten, namens Amy, Zerwürfnisse hatte. Aber ob diese beiden Amys eine und dieselbe Person sind, das können wir nicht erraten.«

»Eben, und das ist auch nicht unsere Sache,« versetzte der Doktor lächelnd. »Wir dürfen nur ganz rationell Schritt für Schritt vorgehen. Ich meine, unser Problem ist es zunächst, ausfindig zu machen, wie diese Geliebte des Majors mit vollem Namen heißt, und wo er und sie sich jetzt befinden. Und da meine ich, muß Mr. Armstrong, dieser vortreffliche Schwätzer, uns etwas mitteilen können. Er weiß sicher bedeutend mehr, als er Ihnen zu hören gegeben hat.«

»Schön,« sagte Nielsen. »Aber wo haben Sie eigentlich dieses Billett gefunden?«

»Im Speisezimmer,« war seine Antwort, »es lag halb hinter dem Wandgetäfel versteckt. Ja, da können Sie sehen, junger Mann, ich spioniere ringsumher und bringe alles mögliche an den Tag, während das doch eigentlich Ihr Geschäft ist. Aber nun seien Sie auch so gut und gehen Sie zu Mr. Armstrong und pumpen Sie ihn über die ganze Liebesaffäre des Major Johnson aus.« –

Die Glocke draußen ertönte wiederum. Madame Sivertsen ging, um die Tür zu öffnen, und meldete darauf eine junge Dame an, die die beiden neueingezogenen Herren sprechen wollte.

Nielsen erhob sich hastig.

»Sie sollen sehen,« sagte der Doktor leise, »das ist unsere gesuchte Amy. Gibt's nicht ein Sprichwort, das da sagt, der Verbrecher oder die Verbrecherin wird durch einen unerklärlichen Drang nach dem Ort des Verbrechens gezogen? – Na, nehmen Sie sie in Empfang, derweil ich mich auf den Korridor zurückziehen und lauschen werde.«

Er tat es, und Nielsen blieb etwas aufgeregt zurück.

Die Dame trat ein. Sie war jung und hübsch, von entschieden elegantem Äußeren und in ein tadellos sitzendes Schneiderkleid gekleidet.

Nielsen verbeugte sich.

»Mein Name ist Miß Derry,« sagte die Dame, »Amelia Derry. Entschuldigen Sie, bitte, daß ich störe, aber dieses Haus bewohnte vor kurzem ein Freund meiner Familie, der jetzt – recht plötzlich abgereist ist. Es ist nun wahrscheinlich, daß Briefe für ihn hier eingehen werden. Würden Sie vielleicht die Güte haben, diese Briefe an eine Adresse weiterzusenden, die ich Ihnen nennen werde?«

Nielsen verbeugte sich. »Mit Vergnügen, Miß Derry. Darf ich bitten, mir den Namen des Herrn, der hier gewohnt hat, zu nennen?«

»Major Johnson – James Johnson vom siebenundzwanzigsten Lancerregiment. Er ist ins Ausland gegangen. Doch hat er vielen diese Adresse aufgegeben, und es ist doch immer peinlich, wenn Briefe in fremde Hände geraten.«

»Seien Sie sicher,« sagte Nielsen mit Absicht, »daß ich die Briefe Ihres Herrn Bräutigams nicht öffnen werde.«

Die Dame errötete. »Meines Bräuti... wie wissen Sie – –«

Nielsen lächelte. »O, ich mache aus zweien bloß ein Paar. Aber vielleicht habe ich mich geirrt, dann bitte ich vielmals um Entschuldigung.«

Die Dame sah ihn scharf an. »Major Johnson ist nicht mein Bräutigam,« sagte sie schließlich, »er ist bloß ein Verwandter von mir, und mein Vater hat ihm versprochen, ihm seine Briefe nachzusenden. Mr. Armstrong hat wohl vergessen, Ihnen das zu sagen?«

»Allerdings,« sagte Nielsen, »das hat er in der Tat vergessen, obwohl er sonst ja sehr beredsam ist.«

Die Dame blickte ihn wieder scharf an; sie hatte eine eigene Art, Leute, mit denen sie redete, scharf anzusehen.

In diesem Augenblick knarrte die Tür, und mit einem leisen Miau glitt die Katze in das Zimmer. Es war der Doktor, der hinter der Szene waltete.

Die Katze kam quer durch das Zimmer spaziert und schmiegte sich einschmeichelnd an das Kleid der Dame.

Nielsen hielt den Atem an.

»Ist das Ihre Katze?« fragte die Dame.

»Nein,« erwiderte Nielsen, »es ist Amys Katze.«

»Amys Katze?« fragte sie, und Nielsen hörte, daß ihre Stimme zitterte. Er sah sie scharf an.

»Freilich,« erwiderte er; »wir fanden die Katze hier im Hause, als wir kürzlich einzogen. Sie hatte ein Halsband um, das ich abgenommen habe; es war von Silber, und auf dem Namenschild stand: Amys Puß. Wir dachten, daß die Leute, die hier vor uns gewohnt haben, die Katze vergessen hätten.«

Nielsen sprach sehr langsam. Es freute ihn, daß die Dame im vollen Tageslicht saß, so daß er sie vortrefflich beobachten konnte, während er selbst mehr im Schatten war. Die Katze hatte sich inzwischen mit einem Sprung auf den Schoß der Dame gesetzt. – ›Wenn es doch lieber ein Hund wäre,‹ dachte Nielsen, denn diese Mausefänger schmeicheln sich bei jedermann ein.

»Es ist eine hübsche Katze,« sagte die Dame freundlich, »ein nettes Tierchen, aber dem Major gehört sie nicht. Wie ich Ihnen schon sagte, wohnte der Major nicht hier. Er hatte das Haus von einem Freund, einem Mr. Throgmorton und dessen Schwester gekauft, Leuten, die er in Indien getroffen hatte. Der Kauf wurde schnell abgeschlossen – sehr schnell.«

»Hat denn Mr. Throgmorton hier gewohnt?«

»Ich glaube nicht,« sagte sie. »Ich glaube, hier hat lange Zeit niemand gewohnt. Die Möbel kaufte der Major. – Doch ich habe nun den Zweck meines Besuches erfüllt – und will nicht länger stören. Sie versprechen also, die Briefe an meine Adresse weiterzugeben?«

»Wenn Sie mir Ihre Adresse gütigst nennen wollen ... oder vielleicht die Ihres Vaters?«

»Nein, nein,« sagte sie hastig, »hier ist meine Adresse: Miß A. Derry, 117 Clarendon Road, Bayswater.«

»Und was soll mit der Katze geschehen?« fragte Nielsen.

»Die kann hier bleiben,« sagte sie eilig.

Jetzt wurde die Tür weiter geöffnet, und der Doktor trat ein.

»Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit, »aber ich bin der Freund dieses Herrn – wir wohnen zusammen – und da ich soeben im Nebenzimmer arbeitete, konnte ich nicht umhin, Ihr Gespräch zu vernehmen. Es schien ja auch nichts Geheimes zu sein. Sie sprachen von Briefen an Herrn Major Johnson. Bitte sehr, hier ist ein Brief an ihn; – er ist bereits geöffnet, doch nicht von mir, es lag kein Umschlag dabei.«

Die Dame wurde dunkelrot. Sie erkannte augenscheinlich den Brief und griff hastig danach.

Der Doktor sah sehr ernst aus. »Ich versichere bei meiner Ehre, Miß Derry, daß ich den Brief nicht geöffnet habe.«

Sie war sich offensichtlich bewußt, sich verraten zu haben, und suchte ihre Fassung wiederzugewinnen. »Dieser Brief hat nichts mit Major Johnson zu tun,« sagte sie scheinbar gleichgültig und reichte ihn dem Doktor zurück, »und geht mich darum nichts an. Es muß ihn irgend jemand verloren haben. Doch nun ist mein Geschäft hier beendet. Ich darf also erwarten, daß Sie die Briefe nachsenden werden. Entschuldigen Sie, bitte, die Mühe, meine Herren. – – Fort, Puß, oder ich trete auf dich! Es sieht wirklich aus, als ob diese Katze mit mir gehen wollte.«

Miß Derry verbeugte sich lächelnd vor den Herren, und Nielsen folgte ihr, die eilig hinausschritt, durch den Garten bis zur Außentür.

Als die beiden Freunde wieder beisammen waren, hielten sie einen Kriegsrat ab.

Die Dame hieß Amelia. – War sie Amy? Sie trat als Freundin des Majors auf – war sie seine ehemalige Braut? Sie verleugnete die Katze – sie verleugnete den Brief – war sie die Schreiberin? War sie eine Mörderin? War die Leiche im Keller der Major Johnson?

So folgten die Fragen aufeinander.

»Würden Sie diese Lady verhaftet haben, wenn Sie die Macht dazu besäßen?« fragte der Doktor. »Verdächtig erscheint sie genug, und lügen tut sie auch. Der Brief war wohl von ihr; nur seinetwegen war sie gekommen. Und die Katze scheint ihr auch zu gehören. Würden Sie sie verhaftet haben?«

»Nein,« sagte Nielsen.

Es klopfte jetzt an der Tür, und ein Postbote brachte eine Karte. Nielsen nahm sie in Empfang; ihr Inhalt lautete:

»Ich habe noch vergessen, Sie zu bitten, doch alle Briefe, die dort für den Major Johnson einlaufen sollten, an mich weiter zu senden – nur an mich, an keinen andern. Vielleicht ist Ihnen dieserhalb schon von andrer Seite ein Ersuchen zugegangen, ich bitte Sie jedoch, solcher Aufforderung keine Folge zu leisten, sondern die Briefe nur mir zuzusenden; es ist dieses höchst wichtig. Ich werde mir erlauben, Sie morgen vormittag um halb zwölf zu besuchen.

Sydney Armstrong.«

Der Doktor drehte sich zu Nielsen um. »Würden Sie sie jetzt verhaftet haben?«

»Nein,« wiederholte Nielsen, »aber ich glaube, Miß Derry hat allen Grund, vergnügt zu sein, daß sie statt unser nicht etwa ein paar Detektivs vom Scotland Yard hier vorfand.«

Der Doktor nickte. »Das stimmt, denn mit Verdächtigungen ist man immer schnell bei der Hand. Obwohl – – – sagen Sie selbst, sieht diese Lady etwa danach aus, als ob sie imstande wäre, den Major umzubringen und in die Kalkkiste zu packen?«

»Keine Spur!« versicherte Nielsen eifrig.

Der Doktor klopfte ihm lachend auf die Schulter. »Mein Freund, Sie sind schon wieder auf falscher Fährte. Weil dieses Mädel nun hübsch, wohlangezogen und ladylike ist, vermögen Sie keinen Argwohn gegen sie zu hegen, obwohl sie offensichtlich lügt wie ein Sonntagsjäger. Wäre es dagegen irgend ein vierschrötiger Bursche mit Schielaugen und sonstigen Kennzeichen ererbter Minderwertigkeit, dann hätten Sie schnellstens Hand auf ihn gelegt.«

Nielsen nickte. Es ärgerte ihn, aber der Doktor hatte wirklich recht.

»Na, ich denke, wir schlagen uns für heute die Sache aus dem Kopf,« sagte der Doktor schließlich. »Morgen ist ja auch ein Tag, und dann werden wir ja sehen, was dieser vortreffliche Mr. Armstrong uns mitzuteilen hat. Heute abend, denke ich, gehen wir in ein Theater und sehen uns an, wie miserabel in England Shakespeare gespielt wird.«


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