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Elftes Kapitel

Es war ein heller, frischer Morgen, als Nielsen mit der Bahn nach Notting Hill Gate hinausfuhr. Jedermann sah fröhlich und glücklich aus, nur Nielsen konnte sich an der wiedererwachten Frühlingsnatur und dem alles überflutenden Sonnenschein nicht erfreuen und, als die Bahn unter die Erde glitt, erschien ihm diese Umgebung mit ihren dunkeln Wänden und Gängen zu seiner Stimmung am besten passend. Er konnte eben keinen Geschmack daran finden, sich einem jungen Weibe aufzudrängen und ihr Vertrauen mit Drohungen zu gewinnen. Allerdings kam er nur mit guten Absichten zu ihr; er glaubte nicht an ihre Schuld; sie zu schonen war ja gerade, was er wünschte, und ohne Unfrieden sollte sie aus dem Gespräch hervorgehen. Sie, die Unschuldige, sollte ihm nur behilflich sein, den Schuldigen zu finden.

Als er wieder an das Licht des Tages kam und nunmehr unter den frisch ergrünten Bäumen der Holland Park Street mit ihren üppig blühenden Gärten zu beiden Seiten dahinschritt, kam ein Gefühl von Freiheit und Erlösung über ihn. Die Lust an dem erwachten Frühling begann ihn zu erfüllen, und er meinte, daß dieses Gefühl sich ihr mitteilen müßte. Er wollte ihr Vertrauen ohne Drohungen gewinnen, denn sie, das junge Weib, würde ihm, dem jungen Manne, schon das schnelle Vertrauen schenken, das der Begleitbrief aller Jugend ist.

Das Haus stand hinter Bäumen verborgen in einer Reihe mit andern schönen Villen. Nielsen wurde eingelassen und fand Miß Derry vor. Hoch und elegant stand sie da, in einem neuen, enganschließenden Frühlingskostüm und einen kleinen hellen, blumengeschmückten Strohhut auf dem Kopf.

Sie grüßte ihn höflich, aber ziemlich kühl, und bat ihn, Platz zu nehmen.

Er redete nun von dem Zweck seines Kommens, und während er sprach, sah er, daß sich ihr Mund fester schloß und ihr Blick schärfer wurde; er sah, daß es einen harten Kampf geben würde, ohne daß er verstanden hätte, warum.

Und nachdem er geredet, sagte sie mit klarer, fester Stimme: »Es kann Sie nicht überraschen, Mr. Nielsen, daß ich Ihnen – einem vollständig Fremden – mein Vertrauen weder schenken kann noch will. Sie wissen – und damit haben Sie eine Eindrängung begangen – Sie wissen, daß ich mit Major Johnson verlobt war. Sie wissen auch, daß die Verlobung zurückging, daß dies auf Wunsch meiner Angehörigen geschehen ist ...«

Nielsen unterbrach sie.

»Und ich weiß auch, daß Sie die Sache nicht in diesem Lichte sehen! Sie müssen nicht vergessen, Miß Derry, daß Sie zuerst zu mir gekommen sind – damals, als Sie mich ersuchten, Ihnen die Briefe an den Major auszuliefern. Ich habe Sie somit nicht zuerst aufgesucht, ich wußte nicht eher etwas von Ihnen, als bis Sie zu mir kamen. Und nun habe ich Ursache, um volle Erklärung zu bitten.«

»Mit welchem Recht?« fragte sie fast heiser.

»Mit dem gewöhnlichen Recht des Mitmenschen,« erwiderte er. »Wir stehen hier auf Erden nicht jeder für sich allein, andrer Pfade kreuzen beständig die unsern, und unser Interesse ist schnell erwacht. Der einfache Instinkt der Selbsterhaltung – ein starker, angeborener Instinkt – veranlaßt uns, wenn unsre Pfade sich mit denen andrer gekreuzt haben, zu fragen, was die Ursache zu dieser Begegnung gewesen ist. Ich will Ihnen sagen: vor einer Woche noch bedeuteten die Namen Derry und Johnson nichts für mich; nun aber haben diese Namen mein Interesse erregt. Ich weiß, daß sie mit einem Verbrechen in Verbindung stehen, das, wie ich vermute, begangen worden ist.«

Miß Derry wurde bleich.

»Ja, mit einem Verbrechen,« fuhr Nielsen fort, »und ich will diesem Verbrechen auf den Grund kommen. Es liegt nicht in meiner Natur, müßig dabeizustehen, sondern jede wichtige Sache in die Hand zu nehmen, als ob sie meine eigene wäre. Dieser Major Johnson ist der Mittelpunkt einer Reihe von Handlungen, die wir Verbrechen nennen dürfen. Und mir als Mitglied der Gesellschaft steht das Recht zu, die letztere vor Verbrechen zu bewahren. Darum sitze ich nun hier und warte auf Ihre Erklärung.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen,« sagte Miß Derry mit zitternder Stimme.

»Nun, hören Sie mich an. Als ich jenes Haus in Cranbourne Grove mietete, erzählte man mir, es gehöre einem Major, der nach Birma gegangen sei. Das ging mich weiter nichts an; die Miete zahlte ich ganz einfach an den Agenten. Dann aber kamen Sie und verlangten, ich solle Ihnen die für den Major einlaufenden Briefe zusenden. Ich versprach es Ihnen, doch als ich hierüber den Agenten befragte, protestierte er ganz entschieden dagegen; er zeigte mir eine Vollmacht, die der Major einer andern Person gegeben hatte, und verbot mir, Ihrer Bitte zu willfahren. Wir fanden in der Wohnung einen kleinen Brief von Ihnen, Miß Derry – nicht wahr, er war von Ihnen? Sie aber erzählten uns eine Unwahrheit, denn Sie wünschten uns los zu werden. Die kleine Episode mit der Katze, die im Hause lebte und ein Halsband mit Ihrem Namen trug, vermehrte unsern Argwohn gegen Sie. Sie versuchten, mich zu bewegen, in Ihrem Interesse zu handeln und Ihre Eltern zu täuschen. Wie mir der Agent erzählte, hatte der Major den Wunsch, für eine Weile zu verschwinden. Sie behaupten zu wissen, wo er ist; das glaube ich Ihnen aber nicht. Und ich will Ihnen sagen, was meine Ansicht ist. Major Johnson ist in die Hände zweier Verbrecher gefallen, die seinen Namen mißbrauchen, sein Geld für sich verwenden – und ihm sogar nach dem Leben trachten.«

Miß Derry lauschte mit offenem Munde, bis Nielsen seine lange Rede beendet hatte; dann sank sie zurück, wie von einer Schwäche befallen.

Nielsen, der sie scharf beobachtete, fuhr fort: »Ich bitte Sie nun bloß, mir offen eine Frage zu beantworten: Wissen Sie, wo sich Major Johnson befindet? Wissen Sie, ob es sein eigener freier Wille war, der ihn in die Hände dieser Männer, Weston und Throgmorton, brachte? Wissen Sie, ob er in die Netze einer Frau, der Mrs. Weston, geraten ist? Und warum schließlich wollten Sie, daß ich die Briefe des Majors an Sie weitergebe?«

»Ich muß es ablehnen zu antworten,« sagte sie fest.

»Sehr wohl,« erwiderte Nielsen, »ich kann Sie dazu nicht zwingen. Aber vielleicht werden Sie noch bedauern müssen, daß Sie mir nicht geantwortet haben – nämlich, wenn Sie denen gegenüberstehen werden, die die Macht haben, Sie zum Reden zu bringen.«

Da erhob sie sich und sagte stolz: »Ihre Drohungen erschrecken mich nicht. Zwischen ihm und mir ist nichts vorgefallen, dessen ich mich schämen müßte. Ich habe recht gehandelt und kann es vor Gott und den Menschen verantworten. Durch Drohungen lasse ich mich nicht einschüchtern.«

›Bloß Phrase,‹ dachte Nielsen, der einsah, daß er mit Drohungen bei ihr nichts ausrichten konnte. Und von der Leiche im Keller mochte er noch nichts erwähnen.

»Miß Derry,« sagte er und änderte seinen Ton, »ich wünsche gar nicht, einen Zwang auf Sie auszuüben. Ich suche nur Ihre Hilfe in Ihrem eigenen Interesse. Ich muß Major Johnson sehen, ich muß mit ihm sprechen. Nicht über Sie; ich werde mich gar nicht in Ihre Beziehungen zu ihm hineinmischen. Ich bitte Sie bloß, mir zu sagen, wo er ist.«

»Ich weiß es nicht,« war ihre kurze Antwort.

»Heißt das: Sie wollen es mir nicht sagen?«

Sie antwortete ruhig und gefaßt: »Wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen doch nicht sagen. Ich traue Ihnen nicht.«

»Sehr wohl,« sagte Nielsen, »wenn Ihnen jetzt etwas Unangenehmes zustoßen wird, so vergessen Sie nicht, daß Sie es sich selbst zu verdanken haben. Ich wünsche nicht, die Unterhaltung fortzusetzen.«

»Wollen Sie etwa zu meinem Vater gehen?« rief sie da mit heiserer Stimme. »Tun Sie das nicht, sage ich Ihnen! Denn wenn Sie es tun, dann ... dann begehe ich einen Schritt, und die Schuld an meinem Schicksal fällt auf Sie.«

Ihre Wangen glühten und ihre Brust wogte vor Erregung auf und nieder. Er merkte, daß sie ein echt britisches Mädchen war, voll Feuer und Mut, daß sie meinte, was sie sagte, und daß sie einen Willen hatte; er mußte darauf achten, den Bogen nicht bis zum Brechen zu spannen.

»Ich bin ein Gentleman,« sagte Nielsen in höflichem Ton. »Ich habe nur mit Ihnen zu tun, nicht mit Ihrem Vater. Sie lehnen es ab, mir irgendwelche Auskunft zu geben – wie ich glaube, weil Sie selbst nicht unterrichtet sind. Denn wenn Sie etwas wüßten, so wäre es höchst töricht, mich auf eine falsche Spur zu führen. Sie wissen selbst nicht, wo der Major sich befindet, sondern würden alles, was Sie besitzen, dahingeben, wenn Sie es erfahren könnten.«

Ihr Gesicht blieb unbewegt; sie stand hochaufgerichtet wie zuvor.

»Ich verspreche Ihnen, Miß Derry, daß Sie die erste sein werden, der ich es mitteile, wenn ich den Major gefunden habe – denn finden will ich ihn – lebendig oder tot.«

»Major Johnson ist nicht tot,« sagte sie ruhig.

»Würden Sie es denn gewußt haben, wenn er tot wäre?« fragte Nielsen gleichgültig.

Sie schwieg.

»Sagen Sie mir nur ein Ding, nur das eine: Haben Sie mit diesem Manne seit dem 28. April dieses Jahres gesprochen?«

»Mr. Nielsen,« versetzte sie mit fester Stimme, »ich ersehe aus Ihrem ganzen Benehmen, daß Sie ein Polizeispion sind. Sie müssen entschuldigen, daß ich das so sage, aber das sind Sie wirklich. Und ich sage Ihnen, ich werde den Major nicht der Polizei ausliefern, wie unrecht er auch gehandelt haben mag. Wenn Sie wollen, können Sie mich meinetwegen verhaften; es wäre mir völlig gleichgültig.«

Nielsen verbeugte sich.

»Sie irren sich, Miß Derry, ich will weder Sie noch ihn behelligen. Aber eins will ich Ihnen sagen: Sie glauben, der Major habe das Land verlassen in Begleitung zweier verdächtiger Menschen; ich glaube dagegen, er befindet sich noch hier im Lande, hilflos, stillschweigend – um es rein herauszusagen: ermordet!«

»Sie regen sich vergeblich auf, Mr. Nielsen,« sagte sie ruhig, »und Sie verschwenden unnütz Ihre Zeit.«

Nielsen verspürte dieselbe Überzeugung. »Gut,« sagte er, »dann mag es dabei bleiben, daß ich Ihnen schreiben werde, sobald ich ihn gefunden habe – ob nun in China oder Peru – finden werde ich ihn auf jeden Fall!«

Sie lächelte trübe.

»Ich weiß nicht, was Ihre Beweggründe zu alledem sind – mit mir jedenfalls – das müssen Sie schon gemerkt haben – verschwenden Sie bloß Ihre Zeit.«

Da verbeugte sich Nielsen und ging.


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