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Erkenntnisse und Weistümer

Allen Anregungen und Eindrücken weit offen und zugleich fähig zu sein, sie im Schutz einer geschlossenen Persönlichkeit sicher zu verarbeiten, darin liegt die Gewähr des Wachsens der Lebensentwicklungen bis zur höchsten Vollendung. Es gilt von den Organismen, gilt von den Charakteren und gilt von den Völkern, daß sie dort die größte Kraft und Eigenart erreichen, wo diese beiden Eigenschaften ganz zusammenstimmen. Das ist aber nicht in zahlreichen Fällen möglich. Gerade das Mehr oder Weniger der einen oder der anderen ist vielmehr ein Hauptgrund der Mannigfaltigkeit des Lebens auf unsrer Erde. So liegt vor allem im Wesen der Völker ein immer reges Streben auf Ausbreitung, das die Grenzen verwischen und über die Eigentümlichkeiten wegschreiten will. Ja, es müßte endlich zu einem allgemeinen Aus- und Ineinanderfließen führen, wenn nicht äußere Schranken sich entgegenstellten, die dem geschichtlichen Boden und Schauplatz angehören. Es handelt sich dabei durchaus nicht bloß um ein mechanisches Zusammenfassen und -halten, sondern auch um die Ökonomie der Kräfte der Völker und der Staaten. Je leichter die Behauptung des eigenen Gebietes gegen das andrängende Wachstum der Nachbarn ist, desto mehr innere Wachstumskräfte werden von der Last peripherischer Leistungen befreit und nach innen hin nutzbar gemacht.

 

Was im Handeln eines Menschen straffe Zweckmäßigkeit ist, wirkt ebenso als eine Schönheit wie jede vollkommene Erfüllung eines Gefäßes durch seinen Inhalt. Die Haut, die der Muskulatur fest anliegt, die Rinde der Buche, die ohne Risse und Auswüchse den Stamm umgibt, als sei sie mit ihm aus einem Stahlblock geschmiedet, das sind Bilder, deren Eindruck ich in dem Handeln des Mannes wiederfinde, das ohne Umschweife das Rechte erzielt, besonders ohne viel Reden, das den starken Stamm des Willens zur Tat oft efeuartig überwuchert und erstickt. Das Alter bildet den Stamm immer einfacher und kräftiger aus, und so wächst mit den Jahren die Schönheit der Handlungen der Menschen, die zu handeln wissen. Große Staats- und Kriegsmänner sind deshalb im höchsten Alter oft schöner als in der Jugend, wo sie noch nicht wußten, welcher Ast sich zum Stamm auswachsen werde.

 

Indem die Völker einander naturgemäß ihr Unähnlichstes entgegenkehren, werden die Verschiedenheiten der Völker überschätzt. Zu dieser Steigerung, ich möchte sagen: Selbststeigerung der Völkerunterschiede, kommen die unglaublich mächtigen Völkervorurteile , die ebenfalls ungemein weit verbreitet sind. Es gibt solche Vorurteile von gewaltiger Größe und Dauer, deren Überwindung nur in langen historischen Prozessen möglich gewesen ist.

Es sind nicht immer die unbewußten Fehler der Oberflächlichkeit und Einseitigkeit, die die Völkerurteile fälschen; es gibt auch eine bewußte Völkerverleumdung , vor der man auf der Hut sein muß.

 

Die Völkerbeurteilung soll uns leiten in unserem praktischen Verhalten zu allen andern Völkern; sie ist also eine der wichtigsten und folgenreichsten Anwendungen wissenschaftlicher Grundsätze. Die Völkerbeurteilung indessen, die nur die intellektuellen Kräfte in Betracht zieht, geht von einer ganz falschen Auffassung der Kräfte aus, die die Weltgeschichte bewegen.

Auf niederen Kulturstufen gibt es keinen anderen Prüfstein des Wertes der Völker als den Krieg ; auf den höchsten Stufen, die die Menschheit von heute erreicht hat, bleibt der Krieg immer noch eine der wichtigsten Prüfungen.

Ein ernsthafter Krieg macht die letzten und äußersten Hilfsmittel flüssig. Der Krieg ist ein Moment der Steigerung im Leben der Völker.

 

Die beste Schule für die Beurteilung der Völker wird immer die Beherrschung der Völker bleiben. Jede politische Herrschaft ist ein Kursus in praktischer politischer Ethnographie. Je mehr Völkerkenntnis seine Kolonialbeamten, Missionare, Kaufleute zu ihren Aufgaben mitbringen, je mehr Völkerverständnis das ganze Volk sich anbildet und anerzieht, desto gründlicher wird es in der Schule der Herrschaft Völker beherrschen lernen.

 

Der Gegensatz zwischen kriegerischen und friedlichen Völkern , der seinem Wesen entsprechend auch immer ein Gegensatz zwischen Vordringen und Beharren, Erobern und Erobertwerden ist, zieht sich durch die ganze Menschheit und erscheint in mannigfach verschiedenen Formen je nach den Kulturstufen.

 

Die Weltpolitik wird nicht mit Grobheiten gemacht, und ein Volk, das sich ohne Not Haß erregt, handelt höchst unklug.

 

Ist es nicht eine Gefahr, wenn ein Volk mit jeder Phase seiner Diplomatie sich identifiziert?

 

Kein Volk der Erde ist in vollständiger Vereinzelung aufgewachsen, es ist keine isolierte Aktion möglich, jedes hat Wirkungen aus dem Kreise seiner Nachbarn heraus erfahren.

Wohin wir sehen, wird Raum gewonnen und Raum verloren. Rückgang und Fortschritt an allen Enden. Wie töricht wäre ein Volk, das glaubte, über sein Schicksal sei vor Jahrhunderten entschieden worden, als die ersten Verteilungen der fremden Länder und der Macht und des Einflusses bei fremden Völkern geschahen! Sehr oft ist in Deutschland derartiges ausgesprochen worden.

 

Es wird immer herrschende und dienende Völker geben. Auch die Völker müssen Amboß oder Hammer sein. Ob sie das eine oder das andere werden, liegt in der rechtzeitigen Erkenntnis der Forderungen der Weltlage.

 

Ist vielleicht beim wachsenden Volk die Bedeutung des Bodens nicht so augenfällig, so blicke man auf den Rückgang und Zerfall, die auch in ihren Anfängen durchaus nicht ohne den Boden verstanden werden können: Ein Volk geht zurück, indem es Boden verliert . Es kann an Zahl abnehmen, aber den Boden zunächst noch festhalten, in dem seine Hilfsquellen liegen. Beginnt es aber von seinem Boden zu verlieren, so ist das sicherlich der Anfang seiner weiteren Zurückdrängung.

 

Kein Volk ist durch Schläge von außen zertrümmert worden, wenn es nicht schon innen zerrissen und unterwühlt war.

 

Je passiver ein Volk, um so abhängiger ist es von der Natur, um so energischer wirkt dieselbe auf es zurück. Je tätiger und begabter es hingegen ist, um so mehr entzieht es sich den Einflüssen der Naturumgebung und schreitet sogar, wie wir bei unseren höchststehenden Kulturvölkern wahrnehmen, zu einer weitgehenden Beherrschung derselben fort. Es geht einem solchen Volke mit seiner Weltlage wie einem weisen Mann mit den Lagen, in die ihn das Leben nacheinander versetzt: er weiß sie zu benützen, ohne sich von ihnen beherrschen zu lassen.

 

Bei geschichtlichen Erscheinungen, denen Massenwirkungen zugrunde liegen, schwächen die verschiedenen Richtungen der Willenskräfte sich gegenseitig ab, und es ergeben sich ein mittleres Maß und eine mittlere Richtung der Handlung, welche, unter gleichen Bedingungen oft wiederkehrend, genug Regelmäßigkeit erlangen, um mit Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden zu können.

 

Der Staat erhält sich mit den Mitteln, durch die er entstanden ist; das heißt, daß die natürliche Grundlage des Staates seinem Leben und besonders seinem Wachstum notwendige Ziele und bestimmte Impulse setzt.

 

Weit entfernt, an der Entwicklung der Menschheit nur passiv beteiligt zu sein, ist der Staat vielmehr eines ihrer wichtigsten Werkzeuge; man kann sagen, er ist eine Triebkraft dieser Entwicklung. Der Staat wirkt durch gewaltsames Sichausbreiten und Zusammenfassen auf dasselbe Ziel hin wie der Verkehr durch friedliches Sichberühren und Austauschen.

 

Das Wachstum schreitet über die Sippe hinaus nur noch als Wachstum des Staates . Verbinden sich mehrere Sippen zu einem Bunde zu Angriff oder Abwehr, so haben wir in dem neuen Gebilde nur noch den Staat. Der Staat hat zuerst die wirtschaftliche Einheit, dann die verwandtschaftliche Einheit überwunden und überragt und umfaßt sie nun beide; es ist damit die Stufe erreicht, wo nur noch der Staat räumlich zusammenhängend wächst. In dieser Weise ist er dann fort und fort gewachsen, bis zu erdteilgleichen Weltreichen, und vielleicht ist die Grenze dieses Wachstums noch nicht erreicht.

Sagt was ihr wollt, die Härte kann schön sein und ist es auch sehr oft, die Weichheit ist immer häßlich. Die Nachgiebigkeit, die Empfindlichkeit, das Schwanken sind absolut häßliche Dinge.

 

Nur Vertrauen ist die Brücke zwischen dem Feldherrn oben und dem letzten Wachtposten unten. Eine Truppe kann von Ratlosigkeit überfallen werden, daß sie nicht aus noch ein weiß, aber es ist dann immer noch ein Weg zu finden. Mangel an Vertrauen ist eine Herzkrankheit, die den innern Organismus der Truppe so lange schwächt, bis Verzweiflung an allem entsteht. Das Ende der Vertrauenslosigkeit ist der Zusammenbruch: eine Herde, von den bösen Geistern des Ungehorsams und der Furcht auseinandergetrieben.

 

Wie schön sind die Freundschaftsverhältnisse zwischen Bergsteigern und ihren Führern, die tief wurzeln in dem gemeinsamen Bestehen großer Gefahren, der wechselseitigen Hilfeleistung, vielleicht in der Errettung aus Todesnot. Ähnliche Freundschaften müßten zwischen Offizieren und Soldaten entstehen, müßten sogar häufig sein, wenn nicht die militärische Ordnung dazwischenstünde.

 

Wir alle haben es beständig nötig, aus unsern egoistischen Schranken, die wir uns kurzsichtigerweise immer wieder aufrichten, herausgeführt zu werden, und zwar nicht in die ähnlich beschaffenen Vorstellungskreise und Empfindungsweisen andrer Einzelmenschen, sondern in die weite, reiche Natur, die nichts von Leid und Lust der Menschen weiß und eben darum beiden so wohltätig ist.

 

Der Deutsche, der die Geschichte seines Volles vernachlässigt, kommt mir wie ein Mann vor, der statt des edeln alten Weins, den er im Keller hat, Krätzer trinkt.

Die Verteilung der Brennpunkte der deutschen Geschichte hat über so viele Landschaften ein Dämmerlicht großer Erinnerungen ausgegossen, daß man sagen kann, der deutsche Boden sei von einem Ende bis zum andern geschichtlich durchgearbeitet. Der Unterschied von den geschichtlichen Landschaften Westeuropas liegt hauptsächlich in dem raschen Wechsel der Schauplätze und dem Mangel eines alten Macht- und Kulturmittelpunkts: keine große Kulturquelle, aber viele kleinen, die in ihrer Art doch wieder groß sind.

 

Durch die deutsche Geschichte geht lange ein Zug der Zwiespältigkeit zwischen Festhalten an dem sicheren Besitz und Hinausstreben nach ungewissen, erst zu hoffenden Erwerbungen. Der Anschluß an das von der Natur Gegebene hat sich aber jeweils als das beste gezeigt, und den Deutschen ist es, wie jedem Volk, doch immer am wohlsten geworden, wenn sie am festesten ihren angestammten Besitz zusammenhielten und seiner sich erfreuten.

 

Es war mehr als Kurzsichtigkeit, es war ein Frevel, den Unterschied zwischen Nord und Süd, Ost und West in Deutschland so zu betonen, wie es oft geschehen ist. Zum Wesen Deutschlands gehört es gerade, daß die entferntesten Stämme sich besser verstehen als in vielen anderen Ländern Europas.

 

Beim Vergleich der germanischen Völkerzweige erschienen mir immer die Deutschen und die Holländer durch die Verbindung von Phlegma und Erregbarkeit ausgezeichnet. Am Tropenkoller laborieren sie beide mehr als andre. Ich teile nicht die naive Ansicht eines amerikanischen Professors, der in dem systematischen Betrieb der Leibesübungen den einzigen Grund sieht, warum sich die Anglokelten besser in der Hand hätten. Er sagt: »Das tägliche Messen der Kräfte birgt die Gefahr der rohesten Prügelei, wenn nicht feste Regeln eingehalten werden; ich kann mich nicht der Gefahr aussetzen, daß mein Gegner beim Fußball Hand an mich legt, wenn ich nicht ganz genau weiß, daß er gewisse Grenzen nicht überschreiten wird.« Insofern jedoch als die Spiele, in denen Entschlossenheit und Kraft den Ausschlag geben, auf die Selbstzucht heilsam zurückwirken, ist auch in dieser Ansicht ein Körnchen Wahrheit.

 

Aus der Enge europäischer Staatengeschichte ist Deutschland auf den weiteren freieren Plan der Weltgeschichte hinausgetreten. Nicht wie früher bloß seine einzelnen Bürger berühren sich verantwortungslos mit den Völkern der Erde, sondern das Reich erscheint selber an den Küsten des Indischen und des Stillen Ozeans, und die Welt steht gespannt, wie diese jüngste der Mächte, welche der außereuropäischen Menschheit unmittelbar gegenübertreten, die Aufgabe erfassen werde, deren Lösung keiner anderen zur Zufriedenheit gelang. Der einzelne war dem Staate verantwortlich, der Staat ist es der ganzen Welt.

 

Man sollte Deutschland für wohlvorbereitet halten, sich an dem großen Werke der Erziehung der Menschheit zur Kultur zu beteiligen. Kaum dürfte in einer anderen europäischen Literatur innerhalb der letzten hundert Jahre so viel von der Menschheit gesprochen worden, das große Wort aber auch durch häufigen Gebrauch so abgeschliffen worden sein.

 

Das Mittelmeer erleichterte durch seine Lage den Verkehr Südeuropas und dann auch Westeuropas mit dem Orient. Die Kultur Vorderasiens und Nordafrikas tritt hier vollständiger, reicher und früher auf als im inneren Europa. Aber die arischen Völker erscheinen nicht auf demselben Wege wie diese Kultur, sondern sie übersteigen die Gebirge, die die südeuropäischen Halbinseln vom Festland trennen, und dringen langsam von Norden her in diese Halbinseln ein. Am frühesten wird Griechenland arisch, dann folgt Italien; Spanien ist die einzige von diesen Halbinseln, die vorarische Bevölkerungen bis heute beherbergt. Das entspricht ganz seiner westlichen Lage.

Die Vorgeschichte hat die Überschätzung des Mittelmeeres korrigiert, an der unsere Geschichtsauffassung mangels einer hinreichend weiten Perspektive krankte. Sie zeigt uns, wie jung die griechisch-römischen Einflüsse auf das nordalpine Europa sind, und daß wir hier die wichtigsten Kulturelemente auf nördlicheren Wegen, besonders durch das Donauland empfangen haben, das wahrscheinlich in den arischen Wanderungen die Rolle eines sekundären Ausgangsgebietes gespielt hat.

Die Wiege aller Romanen ist das Mittelmeer, in dem und an dessen Rändern des Römische Reich sich entwickelt hat, begünstigt durch die vereinigende Kraft des geschlossenen Meeres. Die Ähnlichkeit der Naturbedingungen und der erleichterte Verkehr beförderten die Verschmelzung zahlreicher verschiedener Völker zu einem.

 

Die dem Christentum zugeschriebene kosmopolitische Auffassung der Völker und Rassenunterschiede hat ihre Wurzel in der praktischen Völkervereinigung des römischen Weltreiches. Ohne das Römische Reich wäre das Christentum keine Weltreligion geworden. Die Hauptstädte und Verkehrsmittelpunkte dieses Reiches sind die Ausstrahlungspunkte des Urchristentums geworden; auf den römischen Heerstraßen sind die Apostel in alle Welt und zu allen Völkern gezogen, soweit das Römische Reich reichte. Als Rom aufhörte, die Hauptstadt des weltlichen Reiches zu sein, hatte es bereits begonnen, die Hauptstadt des Reiches Christi zu werden.

Wenn die Geschichte des Welthandels klar zeigt, daß die letzte Quelle des weitaus größten Teiles des Reichtums der Alten Welt in dem Handel Europas und Afrikas mit Asien zu suchen ist, und die Kulturbedeutung der Schiffahrt und des Handels im Mittelmeer nur wie ein Anhängsel erscheint der außerordentlich fruchtbaren Handelsbeziehungen zwischen Plätzen an den Küsten des Roten und Persischen Meeres und des Indischen Ozeans, so sagt man sich, daß die glückliche Annäherung der tropischen Fülle an die zusammengehaltene Kraft der Kulturzonen in dieser geschichtlich hochbedeutsamen Tatsache zur Ausprägung kommt.

 

Wir stehen der auffallenden Tatsache gegenüber, daß die Griechen seit dem Altertum ihre Verbreitung nur unbeträchtlich geändert haben. Sie sind auch heute außerhalb des Königreiches immer noch das Insel- und Küstenvolk; und wie einst die Großmachtpolitik Athens an der zu schmalen geographischen Basis zugrunde ging, so werden die großgriechischen politischen Bestrebungen an dem Mangel der zusammenhängenden Verbreitung des griechischen Volkes scheitern. Eine Politik der Seebeherrschung von Küsten und Inseln aus läßt sich nicht mehr mit kleinen Mitteln machen.

Das Endurteil ist merkwürdigerweise immer und bei allen sehr günstig für den hart arbeitenden, in engem Kreise und mit schmalem Lohne leicht befriedigten Griechen aus dem Volke und wird immer ungünstiger, in je höhere Schichten es aufsteigt. Die Menschen der Städte an der landschaftlich so schönen griechischen Küste gefallen den Beobachtern viel weniger als die der rauhen Gebirge und Karstflächen des Inneren.

 

Niemals kommen mir die Anglokelten utilitaristisch platter vor, als wenn sie den Wein- und Biergenuß mit aller seiner Poesie kurzweg in dieselbe Grube wie ihre tierische Whiskyvöllerei werfen. Man muß stumpf sein gegen das Schöne und Gute dieser Erde, wenn man das alte Gold des Rheinweins oder den grünlichen Bernstein des Mosels nur deshalb nicht mehr leuchten sehen will, weil darin ein paar Tropfen von demselben Alkohol sind, der in konzentrierten Dosen den Menschen vertiert.

 

Was nützt das Namen- und Zahlengedächtnis? Bourienne sagt, Napoleon habe kein Gedächtnis für Eigennamen, Wörter und Daten gehabt, dagegen Tatsachen und Örtlichkeiten, die er einmal gesehen habe, habe er nie vergessen. »Die er einmal gesehen habe«, das ist die Hauptsache daran. Was ich gesehen habe, ist mein Eigentum, was ich gelesen habe, ist nur geliehen. Soweit ich mit Selbstgesehenem, d.i. Selbsterfahrnem arbeite, bin ich original. Wörter und Zahlen lernen, ist das Geschäft eines Wiederkäuers.

 

Das Leben, welches die Erde veredelt und verschönt, ist ein Ganzes, dessen weit verschiedene Formen die Äußerungen einer Entwicklung sind. Wie die Erde, auf deren Oberfläche es sich entwickelt, eine ist, ist auch dieses Leben eines ; der einzigen Unterlage entspricht der gemeinsame Ursprung.

 

Ist denn aber die Erde ein Organismus, daß wir es wagen dürfen, das Meer als eines ihrer Hauptorgane zu bezeichnen? Es ist gefährlich, dieses Wort zu gebrauchen, weil es weitsinnig ist und zu schiefen Deutungen herausfordert; aber dem Bilde zu folgen, ist minder gefährlich, als in sein Gegenteil, in die zusammenhangslose, zerstückte Naturauffassung zu verfallen. Es liegt vor allem eine platte Unwahrheit in jener Anschauung, die in der Erde eine tote Masse sieht, welche von einem fremden Kleide reichen Lebens umhüllt ist. Das Leben ist von der Erde unzertrennlich. Unter der scharfen Trennung der Erde oder dessen, was man an ihr als tot ansieht, von dem, was auf ihr lebt, leiden alle Zweige der Biologie und selbst die Physik der Erde samt den von ihr abhängigen Wissenschaften. Unser Geist ist ohnehin der freilich nicht immer leichten, wenn auch stets dankbaren Arbeit des zusammenfassenden Denkens weniger geneigt; er liebt es mehr, den innern Zusammenhang der Dinge zu ahnen, als ihn zu durchdenken.

 

Die weiten Wege, die hohen Flüge, die großen Zahlen und die ausgedehnten Räume sind dem Geiste des Menschen lästig. Er liebt am meisten, sich mit dem zu beschäftigen, was ohne Anstrengung überblickt, durchmessen, erwogen werden kann. Sich selbst macht er zum Maße der Dinge, sogar in Fragen der Erdgeschichte, in welchen es gar nicht darauf ankommt, was er erlebt, was die ganze historische Zeit erlebt hat. Die mäßigen Dimensionen sind ihm am angenehmsten, weil sie ihm in einem tieferen Sinne kongenial sind.

 

Menschliches kommt an Menschen nicht heran, ohne weckend, reizend, Wünsche wachrufend, Gedanken zeugend auf dieselben zu wirken. Es folgt am häufigsten Verwerfung des Altgewohnten, begierige Annahme des Neuen; alte Werte sinken, neue werden erst allmählich geschaffen. Man kann diesen Zustand der Unruhe als Gärung bezeichnen; es ist ein innerer Vorgang der Zersetzung, hervorgerufen durch äußeren Eingriff, in welchem Zerstörung und Erneuerung sich verbinden, aber in der Weise, daß zuerst die erstere wirksam wird, auf deren ruinenbesätem Boden dann erst die andere ihr Feld bestellt.

 

Der Mensch ist ruhelos; er strebt nach möglichster Ausbreitung überall, wo ihn nicht natürliche Schranken starker Art einengen, und jede anthropologische Auffassung, welche nicht dieser Ruhelosigkeit seines Wesens Rechnung trägt, steht auf falscher Grundlage. Die Menschheit muß als eine beständig in gärender Bewegung befindliche Masse betrachtet werden, welcher durch diese Gärung eine große innere Mannigfaltigkeit angeeignet wird. Diese Beweglichkeit ist in verschiedenem Grade vorhanden; aber sie fehlt keinem Volke und keiner Kulturstufe. Sie hat die Tendenz, die Menschheit immer einförmiger zu gestalten, well die Vermischung mit diesen Bewegungen unzertrennlich verbunden ist.

 

Nicht darin sehe ich das Große des Verkehrs , daß er die Räume verkürzt, daß er die Güter der Erde austauscht und die Volker bereichert, noch viel weniger in der unmittelbaren Hebung der Kultur durch die Verbreitung der Werke einer höheren Stufe, sondern vielmehr in der Annäherung der Volker selbst. Niemand wird dabei an Vereinheitlichung denken. Verwischen der Unterschiede, das wäre der Friede des Kirchhofes. Das Leben braucht Gegensätze. Klüfte sind notwendig, aber nur dort, wo die Natur sie wollte, und wir wollen sie nicht tiefer, als die Geschichte sie gemacht hat.

 

Wenn das Leben des Menschen im allgemeinen ein Kampf mit der Natur genannt werden kann, so ist der Kampf mit der organischen Natur der eindringendste und zäheste, zumal ihn der Mensch nicht allein, sondern unterstützt von jenen Geschöpfen und Gebilden der organischen Natur führt, welche er sich unterzuordnen oder zu gesellen vermag.

 

Der Kampf ums Dasein wird durch den Raum, der ihm gewährt wird, ebenso beeinflußt, wie jene Höhepunkte bewaffneter Konflikte der Menschen, die wir bezeichnenderweise Schlachten nennen. Dieser Kampf läßt sich wie die Schlacht auf vor- und zurückdrängende Bewegungen zurückführen. Auf weitem Raume kann der Gegner ausweichen, auf engem wird der Kampf verzweifelt und entscheidend, weil kein Ausweg bleibt. Die Größe des Kampfplatzes ist also von entscheidender Bedeutung. Merkwürdigerweise wird das bei solcher Vermehrung endlich mit Notwendigkeit entstehende Mißverhältnis zwischen diesem fortwachsenden Leben und dem Raum, über den es sich ausbreiten will, nicht mehr für die Gesamterde betont, wiewohl darin die Ursache aller weiteren Mißverhältnisse gelegen ist.

 

Wie dunkel sind die Zusammenhänge alle noch! Wie fremd steht uns unsere eigene Einfügung in diese Welt, die Abhängigkeiten, die Einflüsse und Gegenwirkungen, die sie bringt und zu denen sie nötigt, vor uns! Sie ist ein Stück unseres Wesens, und sie erschreckt uns doch immer noch, wenn wir sie einmal in den hellen Augenblicken, in denen wir auf den Grund der Dinge sehen zu können vermeinen, gewahr werden, wie uns manchmal der eigene Schatten erschreckt, wenn er aus dem Dunkel des Waldes vor uns her auf eine weiße mondbeschienene Landstraße hinausgeht.

 

Alles Neue wird einmal alt. Neu ist ein Augenblickswort, das ebenso rasch veraltet wie die Neuheit des Gegenstandes, den es bezeichnete. Es ist deswegen widersinnig, das Wort lange über den Zeitpunkt hinaus fortzuführen, für welchen es bestimmt war.

 

Große Naturschilderei haben gerade wie große Landschafter das rechte Wort, die treffendste Linie nur angesichts der Erscheinung empfangen; selten wird ein wirklich bedeutendes Landschaftsbild nur aus der Erinnerung gemalt sein. Die unscheinbare Skizze enthält allein das, was den Zauber der Wirklichkeit ausmacht, die Wahrheit des Besonderen, das mit der allgemeinen Naturwahrheit vereinigt sein muß. So wird auch eine Naturschilderung in der Hauptsache immer ein Bild von großen Zügen sein; aber es muß im Vordergrund auch Einzelheiten zeigen, selbst sehr kleine, scheinbar unbedeutende, wenn sie nur etwas Großes zu sagen haben. Es gibt ein freies Verfügen über die gewonnenen Eindrücke, das nur die größten Naturkenner unter den Dichtern und Künstlern haben; nur sie treffen das Richtige, auch wenn sie es nicht gerade eben gesehen oder gehört haben? es liegt in der Tiefe ihres Erlebens und Mitlebens, daß sie gerade das Wesentliche und Treffende festhalten und bereit haben.

 

Wenn durch die Mühen von Hunderten ein bestimmter Betrag von Vorarbeiten geleistet ist, erscheint je und je ein umfassender Geist, der die Menge der Einzelleistungen zusammenfaßt und durch große Gedanken gleichsam durchleuchtet. Diese Gedanken wirken als Methoden, Systeme, Theorien wieder auf die Nachfolger, für die sie die Richtungen erneuter Einzuarbeiten bestimmen, bis ein neuer Schöpfer ein neues Licht über die mühsam zutage gebrachten Funde wirft. Dieser Prozeß spielt sich natürlich nicht so ab, wie wenn in der Uhr nach sechzig unscheinbaren Minuten bei der einundsechzigsten die Glocke aushebt, die mit tönenden Schlägen die vollbrachte Stunde verkündet. Auch die genialen Forscher arbeiten sich mühsam durch die Einzelprobleme hindurch, und auch aus den Werkstätten, wo gewöhnlich nur Teile zu großen Ganzen hergestellt werden, gehen weltbewegende abgeschlossene Entdeckungen hervor. Doch zeigt uns die Geschichte der Wissenschaften im großen immer das gleiche Bild jener Aufeinanderfolge.

 

Der Gang der Entwicklung läßt gar nicht zu, daß die Wissenschaft sich in engen Kreisen zunftmäßiger Arbeiter vollende. Sie braucht das Mittun und Mitdenken vieler. Und diese vielen kommen gerade bei uns freiwillig und legen freudig Hand an, weil sie wissen, daß sie an einem großen Werke mitschaffen. Nur wo diese kleinen Einzelleistungen von vielen übernommen werden, finden die genialen schöpferischen Geister sich den Boden bereitet.


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