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Das Bild bei Menschheit

Es sind jetzt gerade hundert Jahre, daß Johann Gottfried Herder im stillen Weimar eifriger noch als gewohnt an jenem Werke arbeitete, welches unter dem Titel »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« ein wertvolles Vermächtnis unserer klassischen Literaturperiode darstellt. Der dritte Teil war eben vollendet und Ende 1785 erschienen. Der erste und zweite waren 1784 veröffentlicht worden, und erst 1792 gingen die letzten Abschnitte in die Welt hinaus, welche aber nicht das Werk, sondern nur den Torso abschlossen. Denn der großartige Entwurf hat nie seine volle Ausführung gefunden. Wir dürfen diese »Ideen« nach ihrem Inhalte als die reifste der Prosaschriften Herders rühmen und finden dennoch nicht bloß in der Unvollendung ihres Abschlusses die Bestätigung des Urteils, daß Herder der größte Fragmentist der deutschen Literatur sei. Oft beurteilt ein Geist einen anderen nur darum so treffend, weil in dessen Seele die eigene sich spiegelt. Herder hat einmal von den Schriften Lessings gerühmt, daß sie den Geist des Verfassers »immer in Arbeit, im Fortschritt, im Werden« zeigen. Aber von seinen eigenen kann dasselbe mit doppeltem Recht gesagt werden; denn Herder war von Natur so angelegt, daß er aus dem Arbeiten nach Fortschritt und dem Ringen um neues Werden von Anfang bis zu Ende niemals herauskam. Er schafft nicht den herrlich vollendeten Schild des Achilles, sondern das peinvoll immer neue Gewebe der Penelope. Wenn Lessing durch den Zufall seiner Lebensumstände vieles in Fragmenten hinterließ, so fehlten Herder nicht nur die Gunst und die Lust der Vollendung, sondern auch die Gabe derselben; denn sein Gedankenleben war ein nie ruhender Strom in klippigem, ungleichem Bette. Die Ursache davon aber suchen wir in jener Zwiefachheit der Geistesanlage, die mehr das Streben als die Harmonie fördert, dem Fortschritt günstiger ist als dem Abschluß. Der Dichter und der Denker verbanden sich in ihm nicht zur Einheit, sondern zur Kraft, nicht zur Vollendung, sondern zur Wirksamkeit.

Die literatur- und kulturgeschichtliche Bedeutung der Herderschen »Ideen« liegt in ihrer Stellung auf der Schwelle von der Teilbetrachtung der Völker zur Gesamtauffassung der Menschheit, von der fragmentarischen zur vollständigen Weltgeschichte, von der Form zur Sache. Menschlich zieht uns an, das Werk am Ziele einer langen Entwicklung zu erblicken, die die fruchtbarsten Jahre eines großen Geistes in sich schließt. Den wissenschaftlichen Wert glauben wir in der Veredelung oder, bergmännisch zu reden, Anedelung des Begriffes »Menschheit« durch Vertiefung seiner Quellen und außerdem in dem strengen Festhalten an dem Gedanken zu erblicken, daß die Menschheit nicht ohne die Erde, der Geist nicht ohne die Natur zu verstehen sei.

Kein Geschichtsschreiber vor ihm hatte gewarnt, bei der Betrachtung der Geschichte Europas nicht der Tatsache zu vergessen, daß der Norden dieses Erdteils bis zu den Alpen »eine herabgesenkte Fläche sei, die von der völkerreichen tatarischen Höhe bis ans Meer reicht«. Herder hat diesen vortrefflichen Gedanken nicht bloß ausgesprochen, sondern näher ausgeführt, indem er die Urgeschichte Mittel- und Nordeuropas nur im Zusammenhange mit derjenigen Nord- und Zentralasiens verstehen will.

Dichten und Denken fanden Genüge nur noch in der Erhebung des Geistes mit der Natur zu der höheren und höchsten Einheit des Schöpfers, dem beide ihr Dasein verdankten, zu dem Einen und Allen. An nicht auffallender Stelle der Vorrede von 1784 sagte Herder: »Gott ist alles in seinen Werken.« Dieser Spruch aber könnte an der Spitze und am Schlusse des ganzen Werkes stehen.

Auf dem einzigen Felde, wo Herder durch emsige Eigen- und Sonderarbeit eine der tieferen Quellen aufschloß, die Voltaires Zeit verachtete, dem der Volksdichtung, hat man längst die lebendigen Fäden aufgezeigt, die von hier zur Verjüngung der deutschen Poesie im Jungbrunnen der Volksüberlieferung leiten. Aber die Geisteswissenschaften haben nicht weniger gewonnen durch das tiefere Pflügen, welches Herder auf dem alles bestimmenden Gebiete, dem der Geschichte, so eindringlich empfahl.

Das Bild der Menschheit ist klarer, deutlicher geworden, es hat an Tiefe gewonnen; allein die Grundzüge sind dieselben, wie sie in Herders hochgemutem Sehergeiste standen.

 

Die Grundaufgabe aller mit der Verbreitung und Urgeschichte der Menschheit sich befassenden Studien ist gelöst, wenn es gelungen ist, das geographische Bild der Menschheit zu erfassen. Zu diesem Bilde gehören aber die horizontale Verbreitung der Menschheit, deren Bestimmung eins ist mit derjenigen der Grenzen der Ökumene, dann die Abstände, in welchen die verschiedenalterigen Teile der Menschheit hintereinander stehen, endlich die Höhe des Überragens der besser angelegten oder kulturlich besser ausgestatteten Völker. Aus den beiden letzteren Eigenschaften erwächst dem Bilde der Menschheit Tiefe und Höhe.

Das Bild der Menschheit braucht, um wahr zu sein, vor allem Tiefe . Diese Tiefe aber gliedert sich in Dämmerung und Dunkel. Von der Gegenwart aus rückwärts gehend, durchschreiten wir eine Zeit genauerer Nachrichten, die uns die geschichtliche ist; dann treten wir in eine Periode viel trüberen Lichtes, die man die vorgeschichtliche nennt, und hinter dieser liegt endloses Dunkel, von dessen Inhalt niemand weiß. Die geschichtliche und die vorgeschichtliche Zeit rücken nahe zusammen, wenn wir sie mit der tiefen Nacht vergleichen, welche über den hinter ihnen liegenden Perioden ruht. Um so näher, als die erstere häufig von verschwindend geringer Ausdehnung und als ihr Licht nur ein geliehenes ist.

Soweit die Erde für den Menschen bewohnbar ist, finden wir Völker, die auch im kulturlichen Sinne Glieder einer und derselben Menschheit sind.

 

Dem Leben auf der Erde ist ein beschränkter Raum angewiesen, in welchem es immer wieder umkehren, sich selber begegnen und alte Wege immer neu begehen muß. Noch mehr schränkten die bekannte Verteilung des Wassers und des Landes, die Ausbreitung großer Eismassen um die beiden Pole und die Erhebung mächtiger Gebirge bis zu lebensfeindlichen Höhen die vom Boden und Klima abhängigen Lebensformen ein. Dem Menschen sind heute nicht ganze zwei Dritteile der Erdoberfläche als Raum zum Wohnen und Verkehren gestattet. Was wir Einheit des Menschengeschlechtes nennen und was den Biologen in der übrigen organischen Welt von heute als Einförmigkeit erscheint, wurzelt in dieser Beschränktheit des Raumes. Diesen Raum wenigstens ganz zu überschauen, gebietet sich jedem, der die Beziehung einer Lebensform zur Erde verstehen will. Jedes biogeographische Problem kann nur auf dem Boden einer die ganze Erde umfassenden Anschauung seine vollständige Lösung finden.


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