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Grenzen und Wirkungen der Volksdichte

Ebenso leicht wie die Beweglichkeit der Völker im Raum wird auch die Tatsache ihrer Dauer und ihrer Aufeinanderfolge in der Zeit übersehen. Darin liegt die Schwierigkeit der Abschätzung nach den Kulturspuren. Ein Stück Erdboden, auf welchem im Laufe der Zeit die aufeinanderfolgenden Generationen Zeugen ihres Daseins hinterlassen haben, kann auf den Nachkommenden leicht den Eindruck machen, als ob eine dichte Bevölkerung hier gehaust hätte, und doch war dieselbe in jedem Zeitpunkte nur gering. Es haben sich eben die Reste gesammelt und gleichsam verdichtet.

Alle bevölkerungsstatistischen Tatsachen erlangen ihren einfachsten geographischen Ausdruck in der Bevölkerungsdichtigkeit , welche sich aus dem Verhältnis der Zahl der Menschen zur Größe des von ihnen bewohnten Raumes ergibt; dann aber auch in der Verteilung der Wohnplätze und in deren Größe, sowie aller anderen Spuren des Menschen an der Erdoberfläche.

Jede Bevölkerungszahl wird beredter, indem sie auf den Boden gestellt wird, dem sie gehört. Tote Zahlen schöpfen Leben, indem sie geographisch begründet werden.

Auf je größere Flächen der Erdkugel eine Durchschnittsberechnung der Bevölkerung sich ausdehnt, desto reiner erscheint ihr Ergebnis für den rechnenden Statistiker, welcher die örtlichen Besonderheiten ausfallen lassen will. Aber in demselben Maße verliert dieses Ergebnis an Wert für den Geographen, dem gerade die örtlichen Besonderheiten das wichtigste sein müssen.

Die Bevölkerungskarten der Geographen sind Karten der Wohnplätze im Gegensatz zu den Bevölkerungskarten der Statistiker, welche die Menschen aus diesen ihnen eigenen und für sie charakteristischen Anhäufungen herauslösen, um sie über eine kleinere oder größere Fläche gleichmäßig, d.h. unwirklich verteilt zu denken.

Die großen Züge in der Verbreitung des Menschen sind 1. das Vorhandensein der beiden großen unbewohnten Gebiete in den arktischen und antarktischen Regionen, welche wir bei der Umgrenzung der Ökumene kennen gelernt haben; 2. die dünne Bevölkerung in dem Passatgürtel der Nord- und Südhalbkugel, welche die ausgedehntesten unbewohnten Gebiete, welche in der Ökumene zu finden, in dem nord- und südhemisphärischen Wüsten- und Steppengebiet, auftreten läßt; 3. die Beschränkung dichter Bevölkerungen in kontinentalen Gebieten auf die Nordhalbkugel, und zwar auf den gemäßigten Gürtel derselben; 4. das zerstreute Vorkommen dichter Bevölkerungen auf mittleren und kleineren Inseln; 5. die Häufung der Bevölkerung an ozeanischen Rändern und ihre Abnahme nach dem Innern der Länder; 6. die dichtere Bevölkerung, welche im Innern der Länder die tiefer gelegenen Strecken, besonders die Flußtäler, im Gegensatz zu den dünner besetzten Erhebungen einnimmt; 7. die Ausnahme, welche von dieser Regel die Gebirge in tropischen Regionen und in den Passatgürteln bilden; 8. endlich die wachsende Abhängigkeit der Bevölkerung aller Kulturländer von den Verkehrsgebieten und -wegen.

 

Beziehungen zwischen Wärme und Dichtigkeit der Bevölkerung vermittelt am wirksamsten die Bodenkultur.

Die Abhängigkeit der Bevölkerungsdichte von der Niederschlagsmenge ist viel deutlicher zu erkennen als die Abhängigkeit derselben von der Wärmeverteilung.

Eine Eigentümlichkeit der Volksverbreitung Deutschlands , welche in diesem Klimagürtel nicht wiederkehrt, ist die dichte Bevölkerung der süd- und mitteldeutschen Gebirge, ausschließlich der Alpen und des Rheinischen Schiefergebirges, des Harzes, der Rhön und einiger kleinerer Gruppen.

Auch auf der Bevölkerungskarte von Deutschland tritt die Anziehung, welche überall die Welt des Wassers auf die Menschen übt, sehr deutlich hervor. Die Bevölkerung konzentriert sich merklich an der unteren Weser, Elbe und Trave, und die friesische Küste, sowie die holsteinische Ostseeküste sind dichter bevölkert als die norddeutsche Ebene im Durchschnitt. Das Rheintal ist von den Alpen bis ans Meer ein Gebiet dichter Bevölkerung, welches das mitteldeutsche Maximalgebiet stellenweise an Intensität übertrifft. Klima, Kohlen- und Eisenlager, Fluß- und Bahnverkehr vereinigen sich hier zur Schaffung einer außerordentlich zahlreichen Bevölkerung. Der mannigfaltige Ackerbau in den Niederungen, der Weinbau in den Höhen, sind am Ober- und Mittelrhein, Handel und Großindustrie, durch die Nähe des Meeres gefördert, am Unterrhein Ursachen dichter Bewohnung. Die Täler der Nebenflüsse nehmen an diesen Vorzügen teil, so der Neckar, der untere Main, Lahn, Mosel, Sieg und nicht zuletzt die Ruhr.

 

Hart nebeneinanderliegende, größere Gebiete dichter und dünner Bevölkerung setzen die Unterschiede, vielleicht sogar Gegensätze, ihrer Naturbegabung durch das Mittel der darauf sich gründenden Unterschiede der Bevölkerungsdichtigkeit in geschichtliche Spannungen von oft beträchtlicher Wirksamkeit um.

Eine dünne Bevölkerung nimmt in einem Lande, welches die Ausbreitung zuläßt, immer die günstigsten Stellen ein. Die Bevölkerungsstufen stehen in einer bestimmten Beziehung zur Kulturstufe . Die Volkszahl auf bestimmtem Raum entscheidet wesentlich über den Entwicklungsgang der Kultur; je näher sich die Menschen berühren, desto mehr sind sie aufgefordert, ihre humanen Eigenschaften zu entfalten.

Hirtenvölker brauchen größeren Raum als Ackerbauer, bei denen indessen der Raumanspruch je nach der Intensität der Bewirtschaftung verschieden ist. Der flüchtige Ackerbau der Indianer und Neger ohne Pflug und Düngung beansprucht mehr Raum als der jedes Mittel ausnutzende, gartenartige Anbau der Chinesen, der übrigens auf der ganzen Erde wenig seinesgleichen hat.

Küstenvölker, welche ein fischreiches Meer vor sich und im Rücken ein Land haben, aus dessen Wäldern und Feldern sie Nahrung ziehen, während die Schiffahrt ihnen durch den Besuch anderer Küsten und Inseln ihre Hilfsquellen zu vervielfältigen gestattet, können ohne viel Ackerbau dichter wohnen als Jagdvölker.

Für die Beurteilung der Geschichte eines Volkes ist die Zahl desselben von großer Bedeutung. Die Geschichte der kulturarmen Völker wird mit kleinen Zahlen gemacht.

In einem großen oder wenigstens in einer oder der anderen Richtung weit ausgedehnten Lande wird die dichtere Ansammlung der Bevölkerung an einer bestimmten Seite immer auch den Erfolg haben, dieser Seite ein geschichtliches, besonders ein kulturgeschichtliches Übergewicht zu erteilen: Ostchina, Gangesland, Unterägypten. Dichte Bevölkerung an und für sich ist kein Element von politischer Stärke in einer Nation, aber sie macht nachhaltig.

Die Geschichte, welche für uns Urgeschichte, ist immer mit viel kleineren Menschenzahlen gemacht worden, als man glaubt. Dichtes Wohnen befördert die Vereinheitlichung der körperlichen und geistigen Merkmale eines Volkes, läßt es, mit anderen Worten, älter werden.

Kultur setzt höhere Schätzung der Menschenleben voraus und lehrt diese Schätzung.

Rückgang der Bevölkerung und Sinken der Kultur arbeiten einander in die Hände. Die Kulturwerke verfallen, weil die Arbeitshände abnehmen, und die Bevölkerung, welche von ihnen lebte, muß zurückgehen; indem sie weiter abnimmt, muß von neuem das Kulturniveau sinken und so immer weiter und tiefer.

Die Kultur steigert die Zahl derjenigen, welche ihre Träger sind, vermehrt dadurch deren Leistungs- und Verbreitungsfähigkeit und sichert ihnen die Oberhand in den unvermeidlich daraus sich ergebenden Verdrängungsprozessen, besonders aber auch in den Mischungen, welche die letzteren begleiten.

Die Zunahme der Bevölkerung bedeutet nicht bloß Verdichtung, sondern auch Befestigung. Und was festhält, das ist immer kulturfördernd.

Über die Folgen der Volksdichtigkeit einiger Teile von China liegen Schilderungen, besonders auch aus dem alten Nordchina vor, welche nicht daran zweifeln lassen, daß die Übervölkerung dort längst in der Form eines von Zeit zu Zelt immer wieder hervortretenden Mißverhältnisses zwischen Nahrungsmitteln und Menschenmengen zur gewohnten Erscheinung, fast möchte man sagen zu einer Einrichtung des Reiches geworden ist. Dieses Mißverhältnis führt alle paar Fahre zu einer Hungersnot in größeren Teilen des Reiches, während örtliche Notstände jährlich wiederkehren. Die Physiognomie des Landes und des Volkes trägt in vielen Gegenden dauernd den Stempel der chronischen Verhungerung. Das alte zusammengedrängte Volk hat auf der einen Seite Geduld, Genügsamkeit und Emsigkeit lernen müssen, um sich zu erhalten, auf der anderen hat es im Kampf um die Nahrung Rücksichtslosigkeit, Skrupellosigkeit, Grausamkeit erworben. Schreckliche Verwüstungen der Menschenleben sind ein Merkmal des Volkslebens geworden.

Dichte Bevölkerung, großen Geburtenüberschuß, starken Zuwachs teilen mit den mitteldeutschen Ländern alle großen Industriegebiete Europas.

 

Dichte Bevölkerung, mäßiger Geburtenüberschuß, starker Zuwachs ist dagegen der Typus großstädtischer Bezirke, denen als sehr bezeichnendes Merkmal noch die höhere Sterblichkeit gehört.

Dichte Bevölkerung bei geringer Zunahme ist der Typus der Übervölkerung, wobei eine Variation hervorgebracht werden kann durch starken Geburtenüberschuß, welcher in der Auswanderung aufgeht, wie in Irland, oder geringen Geburtenüberschuß, welcher den verschärften Eindruck der Übervölkerung, sogar des Notstandes hervorbringt.

Eine Variante desselben wird durch die Verbindung von dichter Bevölkerung mit geringer Kinderzahl und geringer Sterblichkeitsziffer – der Zusammenhang der beiden letzten Tatsachen ist klar – gebildet; dieselben verbinden sich zu dem Ergebnis eines Volkes von hohem Durchschnittsalter. Das ist der Typus der alten Kulturvölker, in denen die Hochschätzung des Menschenlebens alle Mittel zu dessen Verlängerung findet, wählend zugleich die mehr oder weniger dichte Bevölkerung die natürliche Vermehrung in präventiver Weise statt durch Kindsmord einschränkt.

Hohe Kultur ist bezeichnet durch Höchstschätzung des Wertes der Menschenleben, die so wenig wie möglich zerstört, so viel wie möglich erhalten werden. Es wird also die Lebensdauer vermehrt, und gleichzeitig nimmt die natürliche Vermehrung ab. Das Ergebnis ist ein im Durchschnitt älteres Volk, dessen Aufbau durch das Zurücktreten der jüngeren und besonders der jüngsten Glieder gegenüber den sich zähe forterhaltenden älteren charakterisiert wird. Kein europäisches Volk entspricht diesen Anforderungen so sehr wie das französische, dessen mittleres Alter ebenso groß ist wie seine Vermehrung gering ist. Aber eine ganze Reihe von Kulturvölkern, sowohl in Europa als in Nordamerika, schwankt ganz langsam in einer Richtung, an deren äußerstem Ende wir Frankreich erblicken, Frankreich, dessen Typus man in dieser Beziehung als den der Überkultur bezeichnen könnte.

Man erkennt leicht, daß dieser Typus eine Ähnlichkeit mit demjenigen besitzt, den wir als großstädtischen bezeichnen; er unterscheidet sich von diesem hauptsächlich durch den starken äußeren Zuwachs der großen Städte. Aber in allen anderen Beziehungen nehmen gegenüber dem Typus der alten Kulturvölker die großen Städte eine ähnliche Stellung ein, wie bezüglich der Bevölkerungsdichtigkeit die Inseln, die wir statistisch frühreif genannt haben.

Dünne Bevölkerung und rasche Zunahme durch eigene Vermehrung und Zuwanderung kann als kolonialer Typus bezeichnet werden oder auch als Typus der jungen Völker.

Große Kinderzahl und große Sterblichkeit und als Ergebnis beider ein geringes Durchschnittsalter der Bevölkerung ist der Typus armer Völker und armer Klassen, der Typus der Sklaven und Proletarier und jenes Teiles kulturarmer Völker, welcher noch nicht durch geringe Kinderzahl auf die schiefe Ebene des Rückganges gelangt ist.

Geringe Geburtenziffer bei großer Sterblichkeit und häufig in Verbindung mit großer äußerer Bewegung ist der Typus der meist im Rückgang befindlichen niedrigstehenden Völker, wie Australier, Polynesier, der meisten Stämme der Indianer. Diese Art von Bewegung ist heute auf die niedrigsten Schichten der Menschheit beschränkt. Aber die Frage ist erlaubt: Welches war der Zustand der Menschheit bei erheblich geringerer Lebensdauer, größerer Sterblichkeit, geringerer Aussicht der Erhaltung von Geschlecht zu Geschlecht? Es war der Zustand beständigen Ankämpfens gegen das Aussterben, gegen das Abreißen jenes Zusammenhanges der Generationen, auf dem die Kultur beruht.


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