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Gebirge und Ebene

In zahllosen politisch-geographischen Namen kommen schon Höhenunterschiede zum Ausdruck, Landschaften und Bezirke jeder Art, wie die Niederlande, Niederdeutschland, Oberdeutschland, Obersachsen, Niedersachsen, das badische Oberland, Ob- und Nidwalden, Hautes Alpes, und Basses Alpes, The Highlands, Lowlands und Southern Uplands in Schottland, die italienischen Compartimenti Abruzze und Campania. Die römische Grenze schnitt das Rheintal am Vinxtbach zwischen Remagen und Andernach, wo heute die Diözesen Trier und Köln zusammenstoßen: dort Oberrhein mit Mainz, hier Niederrhein mit Xanten.

Kleinen Staaten prägt die Lage in einem Gebiete gleicher Bodenformen eine orographische Einförmigkeit auf, die uns gestattet, sie ohne weiteres als Tieflandstaaten, Gebirgsstaaten, Hochebenenstaaten, Bergstaaten, Talstaaten zu charakterisieren. Ausdrücke wie Alpenstaaten und Staaten des norddeutschen Tieflandes sind selbstverständlich. Ein Staat wie einst Schwarzburg-Rudolstadt war in seiner ganzen Ausdehnung ein Stück Thüringerwald, abgesehen von den nördlichen Exklaven. Der orographischen Übereinstimmung entsprechen dann immer auch politische Ähnlichkeiten.

 

Es gibt bei den Ländern, die um ein Gebirge herum liegen, ein geographisches Verhältnis zu einem Gebirge, das sich nicht in dem Anteil an seinem Boden, sondern an seinem Wirkungsbereich erschöpft. Es ist schon ein großer Unterschied zwischen der Lage zu verschiedenen Seiten eines Gebirges. Auf den Unterschied der steileren Innenseite und der breiteren, formenreicheren Außenseite der Alpen ist schon hingewiesen worden. Die pannonische Lage vor dem breiten, offenen Ostrand der Alpen hat ganz andere Folgen als die gallische vor dem geschlossenen Zuge der Westalpen. Hinter dem massigen Pindus ist Ätiolien sicherer als Phokis hinter dem paßreichen Othrys. Die Steigung von München zum Brenner beträgt 850, die von dem ebensoweit südlich vom Brenner gelegenen Novereto 1150 m: das ist der Unterschied der Lage auf der Hochebenen- und der Tieflandseite.

 

Das territoriale Element tritt in der Geschichte der Gebirgsstaaten auffallend hervor. Auch kleinere Staaten umfassen dort gewaltige Gebirgsstöcke voller Wälder, Seen, Gletscher und Firn, die nicht für die Ansiedelung vieler Menschen bestimmt und doch von hohem politischen Werte sind. Die Täler mögen abschließen, auf den Grasmatten des höheren Gebirges führt eine halbnomadische Wirtschaftsweise zur rascheren Ausbreitung über weite Gebiete, die selbst auf den scheinbar zur Trennung geschaffenen Hochweiden des Tienschan und Pamir die Völker durch Herüber- und Hinüberwandern verbunden hat.

Die in dem Flächenraum liegende politische Kraft, verstärkt durch die politische Bedeutung der Gebirge als Grenz- und Durchgangsgebiete, ist also in den Gebirgsstaaten besonders stark vertreten.

Wo die Natur selbst ein Gebiet ausgelegt und umschlossen hat, da wird das Streben nach Bildung geschlossener Territorien sich früher erfüllen können, als auf grenzlosen Flächen.

 

Die Gebirge haben in der Kriegsgeschichte eine bedeutende Rolle gespielt. Nahrungsarme, dünnbewohnte und unwegsame Gebiete zwingen die Armeen zur Ausbreitung. Ihre Züge verlängern und verlangsamen sich. Die Zusammenfassung zu kurzen und raschen Schlägen, wie in ebenen, an Hilfsmitteln reichen Ländern, ist nicht möglich. Daher die große Ähnlichkeit der Gebirgskriege in allen Perioden der Geschichte, wobei die Beschaffenheit der Armeen und die Entwicklung der Kriegskunst viel weniger Unterschied machen als in den großen Feldzügen, die die Ebenen aufsuchen. Die kaukasischen Kämpfe der Russen haben die größte Ähnlichkeit mit den montenegrinischen Feldzügen der Türken. Die Märsche durch die Alpen bedeuteten besonders im 17. und 18. Jahrhundert, in den Kämpfen österreichischer Armeen am Rhein, am Po und an der Donau, große Verluste an Kraft und Zeit.

Daß Gebirgskämpfe immer ungemein zäh sind und oft den Charakter von Verzweiflungskämpfen annehmen, liegt besonders in der Natur des Schauplatzes, wo die Kämpfenden ihren eigenen Boden verteidigen; sie kennen jedes kleine Stück davon genau und haben darüber hinaus nicht viel zu verlieren. Vom Montenegriner sagt ein österreichischer Offizier: »Er wagte rücksichtslos das Höchste, er lebte sozusagen von seinem Tod.« In der Erkenntnis, daß die rauhe Unwegsamkeit ihr stärkster Bundesgenosse sei, haben die Gebirgsvölker ihre Gebiete auch nie zugänglicher gemacht, als unbedingt nötig war.

 

Indem Gebirge das kleine Wachstum schützen, zersplittern sie leicht das große. Für einen Staat, der kräftig vom Gebirge hinausstrebt und sich mit einer größeren Raumauffassung erfüllt, gibt es hunderte von kleinen politischen Existenzen, die sich mit Bewußtsein Schranken setzen, indem sie die Höhenzüge als günstig für die eigene Anlehnung und für die Absonderung vom Nachbarn ansehen. Es ist eine Regel der politischen Geographie, daß die Hochgebirge der Sitz zahlreicher kleiner Mächte sind, die erst durch ihre Vereinigung politische Bedeutung gewinnen. Sie gilt für die Alpen wie für die Clanstaaten von Nepal. Eine der ältesten politisch-geographischen Nachrichten aus den Alpen weist dem Kleinstaat des Cottius in den gleichnamigen Bergen 15 Kantone zu. Für Schottland kann man an das Wort erinnern, daß geographisch Schottland höchst ungeeignet für einen » central despotism sei. Die Regel gilt auch für jene Zeit, wo in dem von allen peloponnesischen Landschaften am reichsten gegliederten Argos die Ausbreitung der Dorier zur Zersplitterung ward.

 

Der größte Teil des Verkehrs in den Gebirgen und über die Gebirge weg drängt sich zusammen in den Pässen , wegsamen Einschnitten der Kämme. Damit drängt sich dann in dieselben Einschnitte zusammen ein entsprechend großer Teil der Bedeutung der Bodenformen für den Menschen, sei es im Sinn der politischen oder der Völker- und Stammesgrenzen, sei es in demjenigen des Verkehrslebens. Es ist, als ob sich auf den einen Weg die Bedeutung der Länder konzentriere, die er verbindet, oder auf wenige Wege.

Pässe zu umfassen und ausschließlich zu beherrschen ist der Zweck und Anlaß besonderer Staatenbildungen der Paßstaaten .

Fordern die Verkehrsmöglichkeiten eines Passes zu politischer Ausnützung auf, so wird die Beherrschung beider Abhänge und Ausmündungen des Weges auf beiden Seiten angestrebt. Häufig arbeitet schon die Kolonisation vor, die Bergübergänge mit den oberen Talstufen zu beiden Seiten mit Leuten desselben Volkes besetzt, wie Oberwallis und Oberalp, Oberhalbstein und Bergell, Disentis und Urseren, Engadin und Puschlav. Über die gangbarsten Pässe ist die französische Bevölkerung aus Savoyen und der Dauphiné in die Täler der Dorn Riparia und des Clusone gleichsam übergeflossen. Die Macht, die einen Gebirgsübergang umfaßt, zieht zunächst Einfluß aus ihrer Beherrschung des Verkehrs, der diesen Weg benützt. Die ganze Staatsbildung kann sich dabei auf die Ausnützung dieses Vorteiles beschränken und die Gelegenheiten zur Ausbreitung ungenützt lassen, die sich auf beiden Seiten darbieten.

Daß der politische Wert der Pässe nicht in ihnen selbst, sondern in dem Wert der Länder liegt, zu deren Verbindung sie bestimmt sind, lehren die Veränderungen dieses Wertes im Laufe der Zeiten.

Mit dem Verkehr durch das Gebirge von einem Fluß zum anderen ist der Wert der Pässe nicht erschöpft. Sie sind nicht bloß Lebensadern für den hindurchstrebenden Verkehr, sondern das Leben in den Gebirgen selbst nährt sich von ihnen, wird sogar durch sie erweckt.

 

Seitdem mit Caesars Zügen nach Gallien die mittelländische Welt aufhörte, die Welt zu sein, bewegt sich das geschichtliche Leben Europas in zwei Strömen, zwischen denen die Pyrenäen, die Alpen, der Balkan wie eine Kette stiller Grenzinseln liegen. Die Wellen schlagen herüber und hinüber; aber es bleiben zwei Welten. Und das nicht bloß, weil die eine alt und die andere neu ist, sondern weil sie grundverschiedene Beziehungen zur Welt im ganzen haben.

Erinnern wir uns an die politische Karte der Alpen , auf der wir die Großmächte West- und Mitteleuropas von allen Richtungen her an das Gebirge sich heran- und in dasselbe hineindrängen sehen, in so seltsamen Formen, wie sie kaum sonst in dem ganzen Umfang Deutschlands, Italiens und Frankreichs vorkommen. Zwischen ihnen die vielgliedrige Schweiz, mit ihrem auffallenden, dreifach gelappten Südteil so recht in das eigentliche Hochgebirge hineingewachsen. Und dann noch das kleine Liechtenstein. Kein anderes Gebirge wird so gesucht und umfaßt. Die geographischen Physiognomien dieser Länder werden bei der Annäherung an die Alpen bewegter, lebhafter. Die langen, langsamen Grenzzüge greifen aus, ersteigen die höchsten Kämme und dringen bis in die hintersten Täler hinein.

Wie heute waren schon in den grauesten Zeiten die breiten, offenen Ostalpen ethnographisch mannigfaltiger als die zusammengedrängten West- und Inneralpen.

Indem von Süden die Romanen, von Norden die Germanen, von Osten die Slaven heranrückten und die Kelten in das Gebirge zurückdrängten und durchbrachen und ferner im Westen aus italischen und gallischen Romanen sich zwei Nationalitäten sonderten, bildete sich der heutige Zustand heraus, so daß die vier großen Völker der Deutschen, Franzosen, Italiener und Südslaven sich in den Alpen begegnen.

Wo Völkergebiete und Staatengebiete in Lage und Größe so weit auseinandergehen wie hier in den Alpen, erkennt man den großen Unterschied im Wachsen der Völker und der Staaten . Jene zerteilen sich in kleine Gruppen, die leicht Wege und unbeargwohnt Plätze finden, wo sie ihre Hütten aufschlagen mögen; diese sind ihrem Wesen nach größer und schwerer beweglich.

Den langsamen geschichtlichen Bewegungen, die wie in tausend Fädchen und Tröpfchen eine weite Fläche überrinnen, sind die Mauern eines Hochgebirges kein Hindernis.

 

Große Wanderscharen der nordischen Völker würden die Hindernisse der Alpen kaum haben überwinden können; denn diesen sind nur organisierte Heere gewachsen. Sie umgingen das Hochgebirge lieber nach dem Beispiele der Cimbern und Teutonen. So tat auch noch das letzte der großen Völker, die nach Süden wanderten, die Langobarden, die 568 die Julischen Alpen und Tirol in den Spuren der Ostgoten durchzogen, um am Fuße der Alpen hin Oberitalien zu unterwerfen. Dann erst drangen sie in die großen Täler der Alpen an der Drau, Etsch und dem Eisack hin vor und machten Südtirol langobardisch.

 

So wie die großen Hochländer Mittelasiens und des westlichen Amerikas Gebiete eigentümlicher Völker und Staatenbildungen sind und waren, so sind es die Alpen zwischen Donau und Po und Rhone und Mur immer mehr geworden. Schon weil sie Räume dünnerer Bevölkerung mit den charakteristischen, wirtschaftlichen und Kulturmerkmalen der Gebirgsvölker nebeneinanderlegen, prägten sie dem Alpenland im weitesten Sinne auch bestimmte politische Merkmale auf, die nicht bloß in selbständigen Alpenstaaten, sondern auch in der Eigenart alpiner Provinzen größerer Reiche ihre Ausprägung finden.

Es geht also nicht an, daß man den Gebirgen nur den negativen Wert von Hindernissen in der Geschichte der Völker zuspricht.

 

Große Bewegungen, die hier gehemmt wurden, sind in eine Anzahl von kleinen ausgelaufen; diese aber haben in dem vielgegliederten und an begehrenswerten politischen Objekten reichen Alpenland auf engen und gewundenen Wegen um sich gegriffen. Wer in den Grenzformen zu lesen versteht, der erkennt, daß mehr als in der Ebene oder im Hügelland hier Anziehungen im Spiele sind, die ein Land am diesseitigen Abhang nicht warten lassen, wenn ein Paß hinauf und hinüber offen ist, und die den Rand eines politischen Gebietes nicht am Fuße des Gebirges ruhen lassen, sondern nach den Quellen der Flüsse hinauftreiben, die aus diesem Gebirge ins Land hinausströmen.

Mit diesen, dem Gebirge selbst ungehörigen Wirkungen liegen nun jene von außen hereinstrebenden im Streit, welche die Kraft der großen Länder rings um die Alpen an das Gebirge heranbringen und gleichsam darin verankern oder darüber hinauswirken lassen wollen. Das ist ein Ringen, das durch die ganze Geschichte der Alpenvölker und -staaten sich durchzieht.

Es gibt keine politischen Grenzen der Alpen. Es gibt aber Grenzen der politischen Wirkungen der Alpen .

 

Wenn die Alpen in ihrer ganzen Ausdehnung seit dem Römischen Reiche, und vorübergehend in dem fränkischen Karls des Großen, nicht mehr als Ganzes einem einzigen Staat angehört haben, so ist doch ihre Zerteilung erst allmählich so weit gediehen, wie sie jetzt besteht. Seit der Halbierung in nord- und südalpine Besitzungen, die im 6. Jahrhundert zwischen Ostgoten und Franken bestand, ist die Zergliederung immer weitergeschritten.

Als Bayern vor der Loslösung Kärntens (976) das ganze Gebiet umfaßte, das heute Altbayern heißt und die Ostalpen von Tirol bis Steiermark, Krain und Istrien dazu, da gab es auch einen großen ostalpinen Staat, wie er so geschlossen nicht mehr aufgetreten ist. Derselbe Stamm wohnte vom Ortler bis zum Triglav und von der Etsch bis zur Naab.

Der passive Charakter des Alpenlandes, der es den von außen heranwachsenden Staatenbildungen verfallen ließ, liegt in seiner Natur.

 

Einer der merkwürdigsten Züge der politischen Geographie der Alpen ist die Teilnahme der Kirche an der Urbarmachung, besonders durch Klöster, und infolgedessen eine folgenreiche Ausdehnung geistlichen Besitzes in dem Land »intra montana« zu beiden Seiten der Alpen, mehr noch im eigentlichen Gebirge als in den schon besiedelten Tälern. Welche Stellung nehmen Trient, Brixen, Chur und Sitten ein, und weiter im Osten das Bekehrungskloster Innichen an der Grenze der Slovenen! Seit Ende des 11. Jahrhunderts besaßen Bistümer und Abteien mehr Grund und Boden im eigentlichen Gebirgsland als die weltlichen Herren. Appenzell, Glarus, das Berner Oberland hatten geistliche Herren. Bamberg und Salzburg besaßen ganze Landschaften in den norischen Alpen; in das Lavanttal teilten sie sich, und das Land zwischen Villach und Pontafel war bambergisch. Besonders oft waren Bergübergänge mit den obersten Talstufen zu beiden Seiten in geistlicher Hand.

Welche Kulturarbeit wurde hier geleistet, aber auch welche Ernte an politischem Einfluß gesammelt!

 

Es ist sehr interessant, in einer so durchsichtigen Entwicklung wie jener der schweizerischen Eidgenossenschaft das Erscheinen und Wachsen der territorialen Politik zu verfolgen.

In einem Bunde Berns mit Freiburg und dem Grafen von Savoyen finden wir schon 1330 den ausgesprochenen Zweck, den Frieden in dem Lande zwischen Arve und Reuß, Jura und Alpen zu erhalten. Das war die auf gleiche Eigenschaften des Territoriums begründete Gleichheit der Interessen.

In der Entwicklung der Schweiz ist die heilsame Wirkung der Vereinigung der Naturkraft der Hochgebirgskantone mit der Diplomatie und dem Reichtum von Zürich und Bern deutlich erkennbar. Die eine beruht in der Abgeschlossenheit der Hochalpentäler, die andere in der Verkehrsbedeutung der Alpenpässe und des Voralpenlandes. Wo beide Begabungen auf so engem Raum zusammentreffen wie in Uri, wo das hochhinaufführende Reußtal mit dem Übergang über den Gotthard und ins Hinterrhein- und Rhonetal sich verbindet, da kommt auch selbst in die Politik des abgelegenen Waldkantons ein großer Zug, der in dem frühen Hinübergreifen ins Val Leventina sich ausspricht.

Die entscheidende Tatsache in der Entwicklung der schweizerischen Eidgenossenschaft war die Stellung der Waldstätte in der Eidgenossenschaft.

Kein Alpensee zeigt klarer die Bedeutung der Seen für die Schönheit der Gebirgslandschaft und für die gesamte Kultur der Gegend, welcher sie angehören, als der südliche, am tiefsten ins Gebirg hineinziehende Arm des Vierwaldstättersees , der auch Urnersee genannt wird, weil er zum größten Teil im Gebiet des Kantons Uri liegt, an welchem die Axenstraße sich hinzieht. Seine Ufer sind hohe Berge, die mit Felsenabhängen steil aus der unbekannten, grünen Tiefe emporsteigen; wo Wasser und Land sich berühren, zieht eine beständige Linie dem Gebirg entlang, welche alle die wechselnden Formen, die als Ufer an jenes hintreten, scharf hervorhebt und so den ganzen Umriß der Seiten des Gebirgs als vielbuchtigen Rand in diesen Spiegel schneidet; hier und dort treten Vorgebirge in denselben und lassen schon von weitem stille Buchten voll neuer Bilder vermuten, welche sich hinter ihnen auftun werden; beruhigend liegt der See mit seiner Spiegelglätte und Farbeneinheit, die tief und voll verborgener Lichter ist, in der Formen- und Farbenfülle der Umgebung; von den trotzigen Zacken des Bristen- und Urirothstocks bis zur letzten Felsplatte und Fichte des Ufers herab ist sie gewaltig und wird, da kein Blick sie auszuschöpfen vermag, am Ende verwirrend und drückend. Aber der See schließt auch mit seinen Wasserbahnen die Verborgenheit und Unwegsamkeit des Gebirges auf und wirkt hier im engen Kreise so kulturfördernd, wie die Meere im weitesten; an seinen Ufern liegen alle Stätten, die in der Urgeschichte der Eidgenossenschuft von Bedeutung gewesen sind, denn aus den verschiedenen Tälern, die in ihn münden, führte er die Männer zusammen, die ohne ihn wohl so getrennt geblieben wären wie in den Talschaften Graubündens oder Tirols; im Herzen der Schweiz ist er die Hauptkraft gewesen, die das Herz auch als Herz wirken, zum Lebensmittelpunkte des Bundes werden ließ. Auch die Bedeutung, die der Gotthard als Verkehrsstraße zwischen Nord und Süd erlangt hat, beruht zum nicht geringen Teil darauf, daß der Vierwaldstättersee seinen Fuß bespült und so als die leichteste Verbindung des Gebirgs mit der Ebene sich mit seiner an sechs Meilen langen Wasserstraße an den Paß anschließt.

 

Fürstenmächte sind im Schutze der Berge der Ost- und Westalpen groß geworden. Die Wiege des Hauses Savoyen steht in der Maurienne, von wo es sich auf beiden Seiten der Alpen im Gebiete jener wichtigen Passe ausbreitete, die aus dem Gebiet der Rhone und Isère in das des Po zusammenstrahlen. In der Hut der Alpenpässe und -wege seines Kerngebietes ist Savoyens Macht herangewachsen.

In seiner natürlichen Absonderung hat so mancher Winkel der Alpen eine selbständigere Geschichte erlebt als größere und reichere Gebiete draußen.

 

Die geschichtliche Stellung der Alpen in Europa ist in ihrer Lage zwischen dem Mittelmeere und Mitteleuropa begründet.

So sind die Alpen der Anlaß, daß der geschichtliche Unterschied zwischen Süd- und Nordeuropa sich nördlich von den Alpen in einen Unterschied zwischen West-, Mittel- und Osteuropa verwandelte. Den Alpen fiel es zu, zwei der folgenreichsten geschichtlichen Bewegungen tief zu beeinflussen: den Übergang der geschichtlichen Führung vom Süden zum Norden Europas und die Ausbreitung des Christentums aus dem Gebiete der klassischen Kultur in den Norden und Westen Europas. Die beiden sind zeitlich nicht auseinanderzuhalten, und räumlich verbindet sie derselbe Weg, den ihnen die Alpen gewiesen haben: nach Westen und dann erst nach Norden und Osten.

 

So wie der gerade Weg von Wien nach Triest doppelt so lang ist wie die Linie Como – Konstanz, ist auch die Geschichte der Ostalpen geräumiger und zugleich unbestimmter als die der West- und Mittelalpen. Die norische Entwicklung hat nichts von dem Geschlossenen der rätischen. In die nach Osten offenen Täler blasen, wie die physischen, so die geschichtlichen Stürme herein.

Die Geschichte der Gebirgsvölker wogt in den Tälern wie ihre Flüsse oder liegt so still darin wie der Spiegel eines Alpensees.

Der Gegensatz westlicher und östlicher Entwicklung in unserem Erdteil verdichtet sich gewissermaßen in der Geschichte der zwei Alpenpfortenstädte Genf und Pettau. Genf ist ein Brennpunkt abendländischen Geisteslebens, erwehrt sich der savoyischen »Escaladen« und fühlt ein fast stetig aufsteigendes Leben. Pettau gehört zu den meistzerstörten Städten Europas. Es war eines der ersten Opfer der Völkerwanderung, seine römische Größe war früh vergessen, und es ist noch im Jahre der unglücklichen Schlacht bei Nikopolis (1396) von den zum erstenmal in der Steiermark erscheinenden Türken verbrannt worden. Das ähnlich an der Mur gelegene Radkersburg hatte auch ähnliche trübe Schicksale.

 

In einem Gebiete der Absonderung müssen den Verbindungen besonders wichtige Aufgaben zufallen. Unendlich oft hat die Geschichte in kleinen und großen Alpenländern den Gang genommen, daß die stille Entwicklung in der Absonderung durch eine natürliche Lücke des Gebirgsbaues heraustrat, mit anderen ihresgleichen oder mit fernerliegenden neue Verbindungen knüpfte und damit zu größeren Wirkungen gedieh.

Die Lage der Alpen zwischen dem Mittelmeer und Mitteleuropa verleiht den quer durchführenden Pässen eine weit über das Gebirge hinausreichende Bedeutung, die auch die Geschichte ihrer Staaten in hundert Fällen bewährt. Von der größeren oder geringeren Wegsamkeit hängt der politische Wert ganzer Abschnitte des Gebirges ab.

Die Einsenkung des Brenners mit dem Inn- und Sill-, dem Etsch- und Eisacktal, beherrscht den ganzen Alpenabschnitt, den wir unter Tirol zusammenfassen. So wie sich Tirol am und um den Brenner entwickelt hat, ist es auch ohne den Brenner undenkbar (Supan).

 

Das römische Netz der Alpenstraßen , wie es, allerdings nur sehr allmählich, sich herausgebildet hatte, gehört zu den bedeutendsten Leistungen dieses Volkes.

Das Verhältnis des Römischen Reiches zu den Alpen und ihren östlichen Fortsetzungen (wie auch zum Balkan) hat aber doch nie ganz die Hemmnisse überwunden, die in diesen Gebirgen lagen.

Noricum war zuerst ein Vorland und dann ein Teil Italiens. Man könnte es fast ein kleines Gallien nennen. Rätien liegt, damit verglichen, wie ein toter Punkt hinter den mittleren Alpen.

 

Die Verteilung der Pässe über die Alpen ist sehr ungleich und viel mehr noch ihre Höhe, Länge und sonstige Wegsamkeit.

Salzburg und Kärnten sind von Natur hermetisch gegeneinander geschlossen, Steiermark und Kärnten durch unschwierige Wege miteinander verbunden.

 

Wie das Gebirge die geschichtliche Bewegung hemmt, so erleichtert ihr die Ebene die Ausbreitung nach allen Seiten. Die Bewegungen vollziehen sich rasch und massenhaft. Im Tiefland, wo ein Volk, wie Dahlmann von den Sachsen sagt, »in derselben endlosen Ebene mit seinen Feinden wohnt«, wird schwerer der Vorzug der abgeschlossenen Entwicklung bis zu einem hohen Stand der Reife verwirklicht, als der der raschen, aber flüchtigen Ausbreitung über ein weites Gebiet. Der Nomadismus ist daher bezeichnend für die weiten Ebenen. Er hat sie einst in größerem Maße erfüllt als heute, wo er in die Steppen und Wüsten zurückgedrängt ist.

Die Ausbreitung der Germanen zeigt das leichtere Vordringen im norddeutschen Tiefland vom Westen her und das schwierigere Eindringen in die Gebirge und in die Alpen. So wenig wir im einzelnen von den Germanen in der ersten Römerzeit kennen, wir sehen sie stark im Norden am Rhein, wenn sie im Süden sich erst zwischen den Gebirgen durchgewunden und die Alpen überhaupt noch nicht berührt haben. Das ist eine Verbreitungswelse im Einklang mit dem Zug der Gebirge, die mit ihrem hercynischen Streichen das norddeutsche Tiefland zu einem nach Westen sich einengenden Keil machen. Dann geschieht die weitere Ausbreitung unter Vermeidung des länger keltisch bleibenden, gebirgumrandeten Böhmens und der Erhaltung keltischer Reste in den Mittelgebirgen. Die Alpen werden erst überschritten, nachdem einige Jahrhunderte die Flut gegen ihren Nordrand hatten anschwellen lassen.

 

Wie der einförmig niedere Pflanzenwuchs der Steppe die geschichtlichen Bewegungen ins Breite gehen läßt, hat uns besonders die Betrachtung des Nomadentums gezeigt. Wo immer die Gräser oder niederen Sträucher das Land mit einer gleichmäßigen, der Ernährung großer Herden günstigen Pflanzendecke überziehen, da haben wir in allen Ländern der alten Welt dieselben Erscheinungen des Hirtenlebens, die den Passatgürtel vom Stillen bis zum Atlantischen Ozean ausfüllen, die einförmigste der klimatisch bedingten, geschichtlichen Erscheinungen, großartig in der Einförmigkeit ihres Wesens und ihrer Wirkungen. Zwischen dem Klima und diesen Völkern ist der Steppenpflanzenwuchs das Mittelglied. Auch die kleineren Wirkungen gleichen sich. Wie heute etwa Argentinien oder Australien, war in der Römerzeit Kleinasien mit den endlosen Weidetriften seiner Hochebenen das Land der Wolle und ihrer Industrien; es war aber auch das Land nie endender Räubereien und Aufstände.

Der Unterschied des Waldlandes von solchem Land war schon den Alten kund; auch den politischen Gegensatz von Wald- und Steppenbewohnern haben die Römer auf mitteleuropäischem Boden erkannt.

Die Hemmung der Kolonisation des östlichen Nordamerika durch die urwaldbedeckten Alleghanies, deren Schranken erst nach 150 Jahren durchbrochen wurden, hat die Ansiedelungen auf den atlantischen Rand beschränkt, aber zugleich sie zusammengefaßt, ihren inneren Ausbau und Wohlstand gekräftigt; ihr ist es zu verdanken, daß die gewaltige Expansion unseres Jahrhunderts die intensive Entwicklung des Ostrandes nicht mehr verflachen konnte. Mit einem Wort: der Wald verlangsamt und vertieft die geschichtliche Bewegung .

Was diese Einzelfälle lehren, zeigt nun der allgemeine Gang der Geschichte, überall hat sie von den waldarmen Zonen aus ihre Staaten und Kulturgebiete spät in die Waldregionen hineingeschoben, in Peru, Ägypten, den Sudanstaaten polwärts, Südafrika äquatorwärts, in Mittel- und Osteuropa. Das höhere geschichtliche Alter Nordchinas vor Korea, Japan und Mittelchina ist ebenso eine Tatsache der Pflanzendecke wie der Vortritt des Mittelmeergebietes vor Mittel- und Nordeuropa.


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