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Glaube und Wissen

Ein Naturforscher von anerkannter Größe der Persönlichkeit und der Erfolge, der Gott mit derselben Hingebung sucht, mit der er den Naturgesetzen nachforschte, und mit noch größerer, und der seinen Gottesglauben mit hingebender Offenheit bekennt, ist in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine so seltene Erscheinung, daß er sich auch aus mächtigeren Umgebungen als der seiner Fachgenossen abhöbe, strahlend für einige, dunkel für viele. Er ist überhaupt im Geistesleben dieses Zeitalters und bis in die Gegenwart herein eine seltene Erscheinung. Wenn auch nicht bei allen Völkern eine materialistische, jedes Gefühl von Zugehörigkeit zu einem Wesen und einer Welt über dem, was greifbar und zeitlich ist, als Schwäche verhöhnende Strömung so mächtig geworden ist wie in Deutschland, so durchdringt doch ein Widerwille, zu glauben, die ganze Kultur, an der das 19. Jahrhundert gebaut hat. Wohl hat es Männer von anerkannten Leistungen in der Naturwissenschaft gegeben, die sich nicht gescheut haben, in der Natur, die sie so erfolgreich durchforschten, das Werk eines höheren Wesens zu verehren, das ihnen hoch über die Sphäre hinausreichte, wo sich ihre Arbeiten bewegen. Aber so wie Gustav Theodor Fechner hat sich von diesen und ihren Geistesverwandten keiner in das Wesen Gottes und des Jenseits vertieft. Gerade darum kann sich an Fechner eine Weltanschauung anschließen, die Gott in der Welt und die Welt in Gott sieht und zu glauben wagt, ohne das Kleinste von dem aufzugeben, was die Wissenschaft weiß und noch erfahren wird. Diese Weltanschauung ist im Heraufdämmern, ihre Strahlen sind schon in manche Seele gedrungen und werden eines Tages mächtig durch eine Menschheit fluten, die sich nicht auf die Dauer mit der Verneinung von allem Zufrieden geben kann, was außer diesem schwachen Menschengeiste ist. Nach vollendeter »Aufklärung« das schwankende Licht unseres eignen Bewußtseins in einer trostlosen Nacht flackern zu sehen, wird doch immer mehreren wie ein törichter Verzicht auf das Beste erscheinen, das wir in der Welt überhaupt haben können; und eine unvollkommene, lückenhafte Wissenschaft wird in ihrer Unfähigkeit erkannt werden und endlich auch sich selbst erkennen, den Bereich unseres Geistes auch nur von ferne auszufüllen.

Zumal wenn in weitere Kreise die Überzeugung gedrungen sein wird, daß sich diese Wissenschaft über die Weite und Tiefe ihres Werkes gewaltig täuscht, wird man ihren Versuchen entschiedener entgegentreten, alles zu zerstören, was sie nicht begreift. Eine Geologie und eine Biologie, die über die elementarsten Voraussetzungen ihrer eigenen Denkarbeit in schweren Irrtümern befangen sind – ich erinnere nur an ihre Unklarheit über die entscheidende Frage der erdgeschichtlichen Perspektive –, hat nicht das Recht, uns über die Stellung des Menschen in der Welt und zu Gott zu belehren. Ihre hochklingenden Erörterungen über Schöpfung, Geist, Stoff, Kraft usw. machen nur allzu oft den Eindruck der Gedanken eines zünftigen Handwerkers, dessen Welt eine dumpfe Werkstatt ist, gegenüber den Werken des künstlerischen Genius. Dieser Schuster mag glauben, die ärmlich beleuchtete Glaskugel, vor der er arbeitet, sei eine Sonne; uns andern seine blöde Kurzsichtigkeit aufdrängen zu wollen, ist Vermessenheit, die man zu lange denkträg ertragen hat.

Manches mag sich nun an Fechners Weltanschauung unvollkommen erweisen, einiges kann man schon jetzt als unhaltbar erkennen. In der Hauptsache ist sie ein großartiger Versuch, das uns zugängliche Schöpfungswerk mit Anerkennung und Verwendung alles dessen, was tatsächlich bekannt ist, so nachzudenken und nachzubilden, daß dem Geiste sein Recht gewahrt bleibt, und daß die Lücken des Wissens so ergänzt weiden, daß nicht das der Kurzsichtigkeit bequeme Leichtverständliche bevorzugt, sondern alles in dem großen Stil eines Werkes ausgedacht wird, in dessen Zusammenhang die ganze Erde selbst nur ein verschwindendes Teilchen ist. Fechner, der Denker und Dichter, dessen Glaubensbedürfnis im tiefsten Herzen erlebt ist, und der aus eigenen Erfahrungen seine im höchsten Sinne praktische Auffassung der Religion schöpft, hat in seiner Tagesansicht kein wissenschaftliches System aufbauen, sondern eine Weltanschauung bieten wollen, die vom Erkannten ausgehend die Rätsel des Daseins erhellt und aus dem vollen Verständnisse dessen, was die Menschenseele braucht, wenn sie nicht dumpf über die Abgründe dahindämmert, das Wissens- und Glaubensbedürfnis zugleich zu sättigen unternimmt. Keine neue große Entdeckung, wie wir sie ihm in der Psychophysik verdanken, kein Neubau auf den Trümmern eines niedergerissenen alten will das sein. Die dichterischen, naturbeseelenden Weltbilder vergangner Zeiten werden ausdrücklich als die Vorgänger der Tagesansicht anerkannt, die sich in schroffen Gegensatz überhaupt nur zu einer Geistesrichtung stellt, nämlich zu der Übererhebung, die uns verbieten will, zu glauben, wo für sie das Denken mit dem Wissen aufhört.

Läuft nicht alles Wissen in Glauben aus, gerade wo es ins Allgemeinste, Höchste, Letzte, Feinste, Tiefste und Feinste geht? In Glauben fortsetzen muß sich jedes Wissen um das, was ist. Wenn wir bedenken, wie die Allgemeingültigkeit aller Naturgesetze nur aus der Erfahrung abstrahiert ist und keineswegs als notwendig erwiesen werden kann, so können wir weder die nächsten noch die letzten Schritte ohne Glauben tun; wir wohnen und leben sozusagen in einer Welt des Glaubens. Und so stützt sich denn die Tagesansicht auf das Wissen, soweit es reicht; darüber hinaus glaubt sie, was sie braucht.


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