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Völker-Grenzen

Wo die Verbreitung einer Lebensform Halt macht, liegt ihre Grenze . Die Grenze besteht aus zahllosen Punkten, wo eine organische Bewegung zum Stillstand gekommen ist. So viel es Gebiete der Pflanzen- und Tierarten, Wälder und Korallenriffe gibt, so viel muß es Grenzen pflanzlicher und tierischer Verbreitungsgebiete geben, auch Wald- und Riffgrenzen. Und so gibt es Gebiete und Grenzen der Rassen und Völker und jener durch die Geschichte zusammengefügten Gruppen von Menschen, die Staaten bilden.

Ändern sich die Lebensbedingungen in günstigem Sinn oder wird die Stärke oder Richtung dieser Bewegung eine andere, so erhalten die Verbreitungsgebiete eine neue Möglichkeit der Ausdehnung, und man sagt: Die Grenze schiebt sich vor.

Die Grenze als Peripherie eines Volkes gehört dem Volk. Sie mag dann in den Boden eingezeichnet oder ausgesteckt oder von Eigenschaften des Bodens begünstigt sein, sei es von Flüssen, Gebirgen, Wäldern; wesentlich gehört sie zu dem lebendigen Körper, dessen Peripherie sie ist. Die Grenze ist also immer ihrem Wesen nach veränderlich.

Auch wo das Streben herrscht, sie zu befestigen, bleiben Grenzen nur für kurze Reihen von Jahren an derselben Stelle.

Mit der Veränderlichkeit aller Erscheinungen der Erde ist auch die Veränderlichkeit aller an sie sich lehnenden Grenzen der Völker und Staaten gegeben, und wir haben auf absolute Grenzen zu verzichten.

Den Niederlanden ist jede politische Eroberung in Europa seit Jahrhunderten versagt, sie haben vielmehr Verkleinerungen sich gefallen lassen müssen, aber sie haben Tausende von Quadratkilometern vom Meere gewonnen, das ihnen alljährlich mit den Schwemmstoffen des Rheines und der Maas neue Landstücke angegliedert. So protestiert der natürliche Wechsel der Dinge an unserer Erde gegen alle dauernde Begrenzung.

 

Bei einer zerstreuten Verbreitung wird aber die Zeichnung der äußeren Grenze nicht als Linie durchzuführen sein, die den Schein der Gleichwertigkeit mit der inneren Grenze erweckt, sondern es muß die Andeutung des Saumes genügen.

Einer Grenze, die sich vorschiebt, wächst in entgegengesetzter Richtung eine andere entgegen: Indien und Rußland in Zentralasien. Wachstum, Zusammenstoß, Rückgang und neues Wachstum folgen einander in diesem Saume, und so entsteht ein Zwischengebiet, das erfüllt ist von geschichtlichen Resten und in dem die Trümmer geschichtlicher Zusammenstöße sich anhäufen, wie der Felsschutt zwischen Steilküste und Brandung. Zum geschichtlichen Bilde eines alten Landes gehört immer dieser Saum.

Die Bedeutung der vielberufenen natürlichen Grenzen möchten wir für die sich entwickelnden Völker höher anschlagen als ihre Stellung zu den fertigen. Die Gunst der natürlichen Grenzen ist nicht unentbehrlich zur Reife eines Volkes, aber sie beschleunigt ihren Eintritt und macht das Volk früher »fertig«, dessen Entwicklung sie im wahren Wortsinn »Grenzen zieht«. Die Bildung Frankreichs in dem Bestande vor der Revolution erscheint als ein wahres Hin- und Herwogen, besonders zwischen Westen und Osten, bis die sogenannten natürlichen Grenzen gewonnen waren, in denen sich nun das neue, von Nordfrankreich ausgegangene keltischromanisch-germanische Volk der Franzosen unter Aufsaugung der fremden Völker ausbreitete. Begünstigt in seinen Grenzen, Ozean und Mittelmeer, Ärmelkanal und Vogesen, [mit dem Vorstoß an den Rhein hatte Frankreich 1919 diese natürlichen Grenzen überschritten. D. Hrsg.] ist dieses Volk mit am frühesten unter allen europäischen fertig geworden. Die Natur selbst machte das Ziel leichter kenntlich, das die räumliche Entwicklung des Staates sich setzen mußte, und darin liegt ein Vorzug der französischen vor der deutschen Geschichte, der nicht hoch genug zu schätzen ist.

Die frühe Entwicklung der Insel- und Halbinselvölker zu einem geschlossenen ethnischen und politischen Charakter ist eine der Grundtatsachen der alten und neuen Geschichte.

 

Die Neigung zur Vereinfachung der Vorstellung von den Grenzen führt in den allerverschiedensten Fällen auf die gleiche, weil nächstliegende Auskunft: die Linie , mit welcher als Küstenlinie, Linie gleicher Wärme, Firn- oder Schneelinie, Höhenlinie der Vegetation, politische Grenzlinie die Geographie in ihrer ganzen Ausdehnung zu tun hat. Ob der Gelehrte sie durch Messung oder die Diplomatie durch einen Vertrag festsetzt, diese Linien sind stets unwirkliche Dinge.

Da nun die Wirklichkeit, aus der diese Abstraktionen hervorsprossen, immer dieselbe ist, bleibt auch der Weg, der sie auf ihren Boden zurückführt, in allen Fällen der gleiche: die abstrakte Linie vervielfältigt sich, sobald wir auf ihren Ursprung zurückgehen, und wir sehen einen Raum entstehen, der zwischen den zwei Gebieten, die wir vorher durch eine Linie trennten, einen Saum bildet. Die geschichtliche Entwicklung der Grenzen zeigt auf tieferen Stufen überall mehr oder weniger breite Länder oder Gürtel, durch die sich die Völker und Staaten auseinanderhalten.

Es ist von der größten Bedeutung, die abstrakte Grenzlinie und diese Grenzräume , welche in den meisten Fällen band- oder gürtelförmige Striche bilden werden, auseinanderzuhalten.

Ein Blick in die geschichtliche Vergangenheit der Grenzgebiete vollendet den Eindruck der organischen Eigenartigkeit. Jeder Niedergang hat seine Wirkungen hier zuerst geäußert, und jeder Neuaufschwung versuchte, sie in gleichen Räumen wieder gut zu machen. Jedes Nachlassen des Haltes am Boden, in dem sich der Stärkegrad eines Volkes ausprägt, hat hier zuerst eine Losbröcklung zur Folge gehabt. Die ideale Grenzlinie sehen wir also in diesem Raume bald hier-, bald dorthin schwanken.

 

In den Grenzen spricht sich die Verbreitungsweise der Völker aus. Ein Volk, das ein langes Wachstum hinter sich hat, füllt sein Land aus, ein junges Volk hat nur Zeit gefunden, einige wenige Punkte zu besetzen, zwischen denen ein anderes Volk oder andere Völker sich ausbreiten.

Wo die Deutschen am dichtesten wohnen, im Westen ihres Verbreitungsgebietes, sind sie einfacher begrenzt, als im Osten, wo sie am dünnsten verteilt sind; dort sind sie ein altes, hier ein verhältnismäßig junges Kolonialvolk.

Ein Kulturzustand, der den Völkern ruhiges Wachstum erlaubt, ist durch einfachere Grenzen ausgezeichnet als ein Kulturzustand, der häufige äußere Bewegungen, Kurzlebigkeit der Staaten und vielleicht selbst Völkerdurcheinanderschiebungen, Kriege und Verdrängungen mit sich bringt.

 

Rassenmerkmale verbreiten sich in der Regel nicht geschlossen, sondern unter Rassenmischung, und darum sind die Rassengrenzen verwischt. Eine Sprache dagegen strebt danach, ein Gebiet gleichmäßig zu bedecken, das durch das Nichtverständnis der Sprache vom Nachbargebiet sich scheidet; wir finden daher viele scharfgezogene Sprachgrenzen. Für den Wert der Grenzen wird die Regel gelten dürfen: Je größer und dauernder der Unterschied der Merkmale auf beiden Seiten, desto größer ist der Wert der Grenze. Wir stellen also Rassengrenzen über Kulturgrenzen, Kulturgrenzen über Sprachgrenzen, Sprachgrenzen über Staatsgrenzen. Es liegt in der Entwicklung des Staates, daß Völkergrenzen älter sind als Staatsgrenzen.

 

Ein Volk kann aber auf die Dauer nicht des Verkehres mit anderen Völkern entraten, und so verlangt es zuerst als Wirtschaftskörper die Durchbrechung der Grenzen wenigstens an einzelnen Stellen.


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