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Ganze Völker umfassende, keinen Bruchteil zurücklassende Wanderungen scheinen, wenn wir von den Naturvölkern absehen, nur da vorzukommen, wo Völker mit Gewalt aus ihren Sitzen verdrängt werden. Die großen Völkerwanderungen, von denen wir geschichtliche Kenntnis haben, teilten sich in der Regel in Auswandernde und Bleibende. Oft wiederholten sich Fälle, wie das oft erwähnte Verbleiben des dritten Teiles der in Skandinavien ansässigen Deutschen, welches uns Paulus Diaconus berichtet, oder gar die Bewahrung der den Ausgewanderten gehörenden Landstriche durch die Zurückgebliebenen, die uns von den Vandalen Schlesiens eine so gute Autorität wie Prokop meldet, welcher noch die interessante Mitteilung hinzufügt, daß die Ausgewanderten sich weigerten, ihr Recht an der heimischen Erde aufzugeben, obgleich die Daheimgebliebenen durch eine Gesandtschaft nach Afrika an König Geiserich darum nachsuchten. Bei solchem Zusammenhange der Ausgewanderten und Sitzengebliebenen begreift man, wie z. B. die Langobarden noch 200 Jahre nach ihrer Auswanderung aus dem unteren Elbgebiet sich ein Hilfsvolk von ihren dort ansässigen »alten Freunden«, den Sachsen, erbitten konnten. Diese kamen in der Tat nach Italien, und zwar mit Weib und Kind; ihre Sitze aber gingen an die Nordschwaben über. Diese Teilung der Völker ist ethnographisch wichtig wegen ihrer Folgen für die geographische Verbreitung, und das um so mehr, als dieselbe sich auf dem Marsche selbst noch öfters vollzieht.
In derselben Richtung wirkt das Mitreißen anderer Völker durch die in Wanderung befindlichen. Dieses ist eine ganz gewöhnliche Erscheinung, welche man ebenfalls fast zu den notwendigen Begleit- und Folgeerscheinungen der Völkerwanderung rechnen kann. Mit den Vandalen zogen bekanntlich die Alanen nach Afrika, und kein geringer Teil der Kampffähigen, welche jene auf afrikanischem Boden musterten, ist auf dieses ihr Hilfsvolk zu rechnen, welches wahrscheinlich nicht germanischen Stammes war. Die innige Verbindung zwischen Hunnen und Gepiden ist bekannt. Als im Winter 406 auf 407 einer der verheerendsten Schwärme, die die germanische Völkerwanderung kennt, den Rhein überschritt, zählten Zeitgenossen eine ganze Reihe Einzelvölker auf, die demselben angehörten. Es steht außer Zweifel, daß er Vandalen, Sueven und Alanen umschloß, daß er Burgunden mitriß, und daß späterer Zuzug aus Deutschland ihn Verstärkte. In den Reihen der Mongolen zogen Vertreter aller mittelasiatischen Stämme. Mit den Zügen der Araber sind, nach einer Mitteilung Barths , Kopten nach Marokko gekommen.
Die Ursachen des Wanderns der Völker sind Wohl immer hauptsächlich drei gewesen: Ungenügender Lebensunterhalt auf dem einmal eingenommenen Räume; Verdrängung durch Feinde; Eroberungs- und Raublust, gepaart mit unbestimmter Sehnsucht nach einem fremden besseren Lande.
Bedeutende, reiche Städte sind oftmals ein Lockmittel für Wanderungen gewesen. So für die Gallier der Balkanhalbinsel im 3. Jahrhundert Delphi, so für die Germanen der großen Völkerwanderung Rom, nach welchem selbst noch die Mongolen unter Dschingiskhan strebten, so Byzanz nacheinander für die Normannen, Türken und Slaven.
Unabhängig von zufälligen Lockmitteln wie diesen gibt es Länder, welche die Wanderungen anziehen, andere, welche sie aussenden, und wieder andere, welche sie festhalten.
Treffend sind uns hier zwei Typen von Ländern bezeichnet: Die anregende und die zur Ruhe weisende, die hinausführende und die abschließende Völkerheimat.
Überall liegen Länder, die zum Rasten einladen, neben solchen, die, über ihre eigenen Grenzen hinausweisend, zum Wandern anregen.
Als dritte Art von Naturgebieten mögen aber einige abgesondert werden, welche tiefen Einfluß üben auf die Völker, Sei es im wandernden oder ruhenden Zustande; das sind jene Steppen, in welchen ein Zurruhekommen überhaupt nicht möglich, sondern welche eigentlich nur große Tummelplätze rastloser, wurzelloser Völker sind und von denen man sagen kann, daß die Völkerwanderung in ihnen in Permanenz erklärt ist. Es sind das die Steppen, in welchen nomadische Horden umherziehen, welche keine festen Wohnplätze, dafür aber oft eine sehr feste Organisation haben und welche durch diese Organisation oft genug der Schrecken gebildeter und in ihrem Kerne mächtigerer, aber mit geringerer Beweglichkeit und mit einem kleineren Grade herdenhaften Gehorsams begabter Völker geworden sind. Um nicht weiter zu gehen als an die Pforten unseres Erdteiles, erinnere ich an die Flachländer Südosteuropas an der unteren Donau und an den Nordzuflüssen des Schwarzen Meeres. In diesem Flachland drängte, soweit die Geschichte geht, beständig ein Volk das andere, und alle drängten west- und südwärts.
Hier ist also wohl ein Punkt, wo die Geographie sich den Volkerstudien nützlich zu erweisen vermag. Sie zeigt gewisse Gebiete, wo in geschützten Grenzen alte Typen sich ziemlich unversehrt erhalten konnten, und andere, wo beständiges Ab- und Zuwandern gleichsam einen Völkerwirbel schuf, der alles ihm Nahekommende in seine Tiefe zog, die Unähnlichkeiten verwischte und jene äußere Gleichmäßigkeit erzeugte, welche schon Hippokrates in seinem merkwürdigen Büchlein über »Die Rückwirkung von Luft, Wasser und Ortslage auf die Bewohner« von den Nomaden behauptete. Wir könnten jene Beharrungsgebiete nennen, diese Wandergebiete .
Die meisten Völkerwanderungen, welche die Geschichte kennt, haben sich aus kälteren nach wärmeren Regionen bewegt, so die dorische, die arisch-indische, die iranische, die gallische, die germanisch-slavische, die aztekische, und da diese alle auf der Nordhalbkugel unserer Erde stattgefunden haben, so ist ihnen auch im allgemeinen eine nordsüdliche Richtung oder eine äquatoriale Tendenz zuzuerkennen.
Wir kommen zu der Erkenntnis, daß höchstwahrscheinlich kein einziges Volk der Erde auf dem Boden sitzen geblieben, dem es entsprungen ist, daß also jedes einzelne der heutigen Völker in die Wohnsitze, die es einnimmt, eingewandert ist. Daraus ergeben sich einige Schlüsse, die nicht ohne Wert sein dürften. Wir müssen vor allem die Versuche aufgeben, das Wesen eines Volkes absolut aus seinen Naturumgebungen konstruieren zu wollen, solange wir nicht den Zeitraum kennen, welchen hindurch es in diesen Umgebungen lebt.