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Der Staat als Organismus

Kein Staat ohne Boden

Die Verbreitung der Menschen und ihrer Werke auf der Erdoberfläche trägt alle Merkmale eines beweglichen Körpers, der im Vorschreiten und Zurückweichen sich ausbreitet und sich zusammenzieht, neue Zusammenhänge bildet und alte zerreißt und dadurch Formen annimmt, die mit den Formen anderer gesellig auftretender beweglicher Körper an der Erdoberfläche die größte Ähnlichkeit haben. In vielgebrauchten Bildern wie Völkermeer und Völkerflut, Völkerinsel, politische Insel, politischer Isthmus liegt eine Ahnung davon, an deren tiefere Begründung freilich kaum von denen gedacht wird, die solche Ausdrücke verwenden.

 

Der Mensch ist nicht ohne den Erdboden denkbar und so auch nicht das größte Werk des Menschen auf der Erde, der Staat . Wenn wir von einem Staate reden, meinen wir, gerade wie bei einer Stadt oder einem Weg, immer ein Stück Menschheit oder ein menschliches Werk und zugleich ein Stück Erdboden . Der Staat muß vom Boden leben. Nur die Vorteile hat er fest in der Hand, deren Boden er festhält.

So entsteht die politische Organisierung des Bodens, durch die der Staat zu einem Organismus wird, in den ein bestimmter Teil der Erdoberfläche so mit eingeht, daß sich die Eigenschaften des Staates aus denen des Volkes und des Bodens zusammensetzen. Die wichtigsten davon sind die Größe, Lage und Grenzen, dann die Art und Form des Bodens samt seiner Bewachsung und seinen Gewässern und endlich sein Verhältnis zu anderen Teilen der Erdoberfläche. Und doch ist dies alles nur das Schema des lebendigen Körpers, das gar nichts ahnen läßt von der politischen Idee , die ihn beseelt. Auch diese hat ihre Entwicklung. In jenem einfachen Staat ist diese Idee wohl nur ein Herrscherwille und so vergänglich wie ein Menschenleben, in diesem Kulturstaat ist das ganze Volk ihr Träger. Damit erneuert die Seele des Staates unablässig ihr Leben, wie die Generationen aufeinander folgen. Die kräftigsten Staaten sind die, wo die politische Idee den ganzen Staatskörper bis in alle Teile erfüllt. Teile, wo die Idee, die Seele nicht hinwirkt, fallen ab, und zwei Seelen zerreißen den Zusammenhang des politischen Leibes.

In die Geschichte des Volkes, dem es gelungen ist, Jahrhunderte auf gleichem Boden seinen Staat zusammenzuhalten, prägt diese unveränderliche Grundlage sich so tief ein, daß es nicht mehr möglich ist, dieses Volk ohne seinen Boden zu denken.

In der politischen Idee ist immer nicht bloß das Volk, sondern auch sein Land. Auf einem Boden kann daher auch immer nur eine politische Macht so aufwachsen, daß sie den ganzen politischen Wert dieses Bodens in sich aufnimmt. Rechte eines Staates auf dem Boden eines anderen vernichten dessen Selbständigkeit. Was eine andere Macht aus demselben Boden zieht, muß der ersten verloren gehen. Es ist nicht wie das Aufwachsen der Eiche, unter deren Krone noch so manches Gras und Kraut gedeiht. Der Staat kann ohne Schwächung seiner selbst keinen zweiten und dritten auf seinem Boden dulden.

Je einfacher und unmittelbarer der Zusammenhang des Staates mit seinem Boden, desto gesünder ist jederzeit sein Leben und Wachstum. Vorzüglich gehört dazu auch, daß mindestens die Mehrzahl der Bevölkerung des Staates eine Verbindung mit seinem Boden so bewahrt, daß er auch ihr Boden ist; darin liegt die Bedeutung der Wirtschaft des Volkes für den Staat. Der Boden ist immer viel älter als sein Staat und hat auch eine viel größere Zukunft. Daher wird der Blick, der von den wechselnden Zuständen des Volkes sich auf den Boden richtet, von selbst zum Fernblick. Die Apeninnenhalbinsel konnte nicht immer Mittelpunkt eines Weltreiches bleiben und nicht immer von derselben staatenbildenden Rasse bewohnt sein; doch ist sie unter allen Wechselfällen eines der wichtigsten Länder der Welt geblieben. Gerade darin unterscheidet sich die politische Geographie von der politischen Geschichte, daß sie durch die Betonung des Unveränderlichen und Unverwüstlichen, das dem Boden eigen ist, auch eine Richtung auf das Werdende empfängt. Die Politik, die dem wachsenden Volke den unentbehrlichen Boden für die Zukunft sichert, weil sie die ferneren Ziele erkennt, denen der Staat zutreibt, ist eine echtere »Realpolitik« als die, die sich diesen Namen beilegt, weil sie nur das Greifbare vom Tag und für den Tag leistet.

Das stofflich Zusammenhängende am Staat ist nur der Boden , und daher denn die starke Neigung, auf ihn vor allem die politische Organisation zu stützen, als ob er die immer getrennt bleibenden Menschen zusammenzwingen könnte. Je größer die Möglichkeit des Auseinanderfallens, desto wichtiger wird allerdings der Boden, in dem sowohl die zusammenhängende Grundlage des Staates als auch das einzige greifbare und unzerstörbare Zeugnis seiner Einheit gegeben ist.

Die Organbildung des Staates ist notwendig beschränkt. Der Organismus unterscheidet sich vom Aggregat durch die Teilung der Arbeit, die sich Organe schafft. In der Eigentümlichkeit des Staatsorganismus liegt es, daß er nur in geringem Maße seine Elemente umbilden kann. Bei ihm liegen vielmehr in den Unterschieden seines Bodens und der räumlichen Verteilung seiner Bevölkerung über diesen Boden die wichtigsten Ursachen der Organbildung. Wir finden daher immer im Vordergrund die großen Gegensätze der peripherischen und zentralen Provinzen, der Seeküste und des Binnenlandes, der Gebirgs- und Flachlandprovinzen, der Städte und des Landes, der dicht und dünn bevölkerten Gebiete eines Staates. Sehr viele geschichtliche Unterschiede auch im Innern der Staaten beruhen auf diesen geographischen Grundlagen.

Einzelne Teile eines Organismus hängen enger mit dem Leben des Ganzen zusammen als andere, es sind die vitalen und immer auch ihre geographisch wertvollsten Teile der Staaten. Man muß ihre Stelle im Organismus kennen, um ihren politischen Wert zu verstehen. Jeder Staat hat Provinzen oder Bezirke, deren Verlust ihm den Tod bringt, und andere, die ohne Gefahr verloren werden können.

Jede menschliche Gemeinschaft ist mit der Außenwelt und mit sich selbst im Kampf um ihr selbständiges Leben. Sie will ein Organismus bleiben, und alles arbeitet in dem ewigen Wechsel von Auflösung und Neubildung, der die Geschichte bedeutet, daran, sie zum Organ herunterzudrücken.

 

Durch alle Wandlungen führt sicher die Regel, daß jede Beziehung eines Volkes oder Völkchens zum Boden politische Formen anzunehmen strebt, und daß jedes politische Gebilde die Verbindung mit dem Boden sucht. Deswegen kann auf keiner Stufe der Boden fehlen.

Für den Menschen und seine Geschichte ist die Größe der Erdoberfläche unveränderlich. Die Zahl der Menschen wächst, der Boden, auf dem sie wohnen und wirken müssen, bleibt derselbe. Er muß also immer mehr Menschen tragen und mehr Fruchte geben, wird dadurch auch immer begehrter und wertvoller.

Ein Teil der Entwicklung des Staates besteht in der Entfaltung der Eigenschaften seines Bodens. Die Entwicklung des Staates ist also eine räumliche Tatsache und nicht eine Entwicklung aus einem raumlosen Leben zu einem bestimmte Räume in Anspruch nehmenden. Die Entwicklung hat aber allerdings im Laufe der Geschichte Eigenschaften des Bodens entdeckt, die man vorher nicht gekannt hatte.

 

Da es viele natürliche Ähnlichkeiten und Übereinstimmung im Bau der Erdoberfläche gibt, muß es auch Staaten geben, deren Boden ähnlich gebaut ist. Da aber diese Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten sich immer nur auf die großen Merkmale beziehen, so haben geographische Vergleiche zwischen einzelnen Staaten nur Wert, wenn sie sich auf die Grundzüge beschränken; wo sie sich dagegen auf Einzelheiten richten, verfallen sie leicht ins Künstliche und sind von geringem Nutzen.

 

Überall in der Geschichte begegnen wir dem wesentlichen Unterschied zwischen einer territorialen oder geographischen Politik und einer sozusagen mehr politischen , allgemeinen Politik . Diese glaubt sich über den Boden, auf dem sie steht, zu erheben, indem sie ihn nur mit Rücksicht auf seine Befähigung betrachtet, durch seine räumliche Ausdehnung großen Entwürfen eine breite Unterlage zu schaffen; während jene in dem Boden etwas sieht, worauf man nur sicher fußen kann, wenn man es fest besitzt. Insofern jene auch über die Grenzen einer Nation hinausgreifen will, setzt man ihr, der Weltpolitik, der expansiven die nationale gegenüber, die sich konzentriert.

 

Der Krieg , der für so viele politisch-geographische Fragen das rasch verlaufende Experiment darbietet, klärt auch die Beziehung zwischen Staat und Land auf. Jeder moderne Krieg hat den Zweck, dem Gegner die Beifügung über sein Land zu entreißen, wozu das einfachste Mittel die Niederlage des wehrhaften Teiles des Volkes ist. Die räumliche Abgesondertheit des Staates wird verneint, die Grenzen bestehen für die Kriegführenden nicht mehr, das Gebiet des Gegners wird besetzt und zugleich die Vernichtung aller Machtmittel angestrebt, durch die er es festhalten könnte. Trotz der Einfachheit des ganzen Prozesses hat doch die Möglichkeit der Auseinanderlegung von Boden und Staat zu verschiedenen Methoden der Kriegführung Anlaß gegeben, die den einen oder den anderen treffen wollen, während der einzig richtige Ausgangspunkt immer nur die Auffassung des Staates als Organismus sein kann. Dieser Organismus muß in einen Zustand versetzt werden, wo er sich nicht länger zur Wehr setzen kann, zu diesem Zweck muß ihm der Boden genommen und muß zugleich die Widerstandskraft seines Volkes gelähmt werden.

 

Landlos zu sein ist bei rein politischen Mächten nur ein vorübergehender Zustand. Mächte, die vorübergehend landlos waren, verbinden sich im Verlauf ihrer politischen Entwicklung immer mit dem Boden und streben dann oft gleich nach den weitesten Räumen, weil sie der Gewohnheit der beschränkenden Einwurzelung ledig geworden sind. Das Dalailamatum, das Papsttum, das Kalifat wurden große Mächte, indem sie sich mit einem kleinen oder großen Lande zu theokratischen Staaten verbanden; leicht gerieten sie mit langsameren und beschränkteren Ausbreitungen rein politischer Natur in Streit, die mit ihren theokratischen Raumansprüchen kollidierten.

Eine der eigentümlichen Erscheinungen, die innere Ähnlichkeiten scheinbar weit auseinandergehender Mächte enthüllen, bieten die Beziehungen zwischen landlosen Mächten und landlosen Völkern . Wie das Kalifat sich der Seldschuken bediente, machte das Papsttum gleichzeitig Gebrauch von den Normannen, an deren Stelle später bei der Einschränkung der politischen Ziele, hauptsächlich Deutsche und Schweizer traten. Die Beweglichkeit jener landlosen Völker entsprach der Weitsichtigkeit der politischen Entwürfe theokratischer Mächte, welche zudem von der Scheu beherrscht wurden, das Schwert in die eigene Hand zu nehmen.

 

Die Entwicklung der Beziehungen zwischen Volk und Boden zeigt, daß der Zustand des Allbesitzes der trockenen Erdoberfläche langsam im Laufe der Jahrtausende entstanden ist, in denen die Menschen auf der Erde immer zahlreicher und die Völker räumlich größer geworden sind.

Boden jeder Art und Güte wurde mit Beschlag belegt. Es ist der Sinn einer Großgrundspekulation , die natürlich nur berechtigt ist, wo der um sich greifende Staat die Mittel hat, das Erworbene festzuhalten, wie England es bisher vermocht hat. Die bekannten Erörterungen, ob Deutsch-Ost und Südwestafrika überhaupt wert seien, von der deutschen Flagge gedeckt Zu werden, zeigten nichts von dieser höheren Erkenntnis des politischen Bodenwertes und diesem weitblickenden Selbstvertrauen.

 

Der Besitz des Bodens und die Herrschaft über den Boden fallen auf den ersten Stufen der Entwicklung des Staates zusammen und rücken dann immer weiter auseinander. Darin liegt eine der Ursachen, warum die Auffassung des Staates als Organismus einseitig und unvollständig und damit die Entwicklungsgeschichte des Staates getrübt, ja undurchsichtig geworden ist, daß man nur die wirtschaftliche Besitznahme sieht, und nicht ahnt, daß in ihr die politische steckt.

Die Verstärkung des Besitzes am Boden bedeutet immer auch Befestigung der Macht über den Boden. Das Volk ist das organische Wesen, das im Laufe seiner Entwicklung durch die Arbeit der einzelnen immer inniger mit dem Boden verwächst und den Boden in diese Entwicklung überführt und hineinzieht. Man kann daher dem Wachstum des Staates über die Oberfläche der Erde hin auch ein Wachstum nach der Tiefe zur Seite stellen. Durch die Ausbreitung oder das räumliche Wachstum wird der Staat größer und vermehrt seine Hilfsquellen, durch die Befestigung im Boden entwickelt und stärkt er seine Grenzen und sichert seine Lage. Raum, Grenzen und Lage nehmen an Wert zu, indem der Staat sich fester mit seinen geographischen Grundlagen verbindet. Es ist mehr als bloß ein Bild, wenn man von Einwurzelung redet; denn der Staat zieht gerade wie die Wurzeln einer wachsenden Pflanze immer mehr Nahrung aus seinem Boden und wird daher immer fester mit ihm verbunden und auf ihn angewiesen.

Ebenso wie in der Größe der Staaten gibt es daher auch in der Verbindung zwischen Staat und Boden eine geschichtliche Stufenreihe.

 

Bei einem unterworfenen Volke scheint die politische Kraft des Bodens ganz verlorengegangen zu sein; nur der wirtschaftliche Vorteil scheint übrigzubleiben, den es aus seinem Anbau zieht. Und doch macht auch in diesem Falle der Boden seine Macht unmerklich und allmählich geltend, wenn die Besiegten nicht von ihm weggedrängt werden konnten. Immer haben diese dann den Vorzug, auf dem Boden zu wohnen, der durch Arbeit der ihre ist; sie sind im tieferen Sinn daheim. Ihre Besieger dagegen sind eingedrungene Fremde und werden abhängig von der Arbeit ihrer Untertanen auf dem Boden, den sie, die Herren, nur politisch besitzen. Gar oft vermehren sich jene stärker als diese, indem sie die Früchte des Bodens vervielfältigen. In ihrer Ansässigkeit halten sie sich zugleich auf einer Kulturstufe, die oft weit über der der Herrscher liegt. Scheinbar ist der Unterschied gewaltig zwischen einem Volk siegreicher Eroberer, das sich zum obersten Herrn eines Landes und seiner Bewohner gemacht hat, und landlosen Einwanderern, die sich zwischen den Altansässigen gleichsam durchzuwinden haben und nirgends einen festen Grund finden. Und doch bindet sie der Mangel der unmittelbaren Beziehungen zum Boden zusammen.

[Diese Erkenntnis hat z. B. dazu gefühlt, daß nahezu alle alten und neuen Staaten, denen durch die Friedensdiktate der Jahre 1919/20 deutscher Volksboden zugefallen war, sich nicht mit der politischen Herrschaft begnügten, sondern auch die Verdrängung der einzelnen deutschen Volksangehörigen aus dem Lande und ihre Auswechslung gegen Angehörige des staatsbestimmenden Volkes betrieben. So hofften sie, ihrer Eroberung Dauer zu verleihen. D. Hrsg.]

 

Ein starkes Hirtenvolk läßt nicht von seinen Herden und seinen Wanderzügen, und ein Ackerbauvolk geht nicht ungezwungen zum Nomadismus über. Die beiden wahren sich folgerichtig auch die Bodenflächen, die sie, jedes für den höchsten Zweck seines Daseins, brauchen, oder suchen sie noch zu erweitern. Es wäre verfehlt, zu glauben, der Ackerbau und die Viehzucht seien nur Erwerbszweige; es sind Formen des Lebens , in denen jede Tätigkeit und jedes Streben eine besondere Richtung empfängt: die Tracht, die Nahrung, die Lebens- und Wohnweise, die Familie, die Gesellschaft und der Staat, alle sind bei den beiden grundverschieden. Nur die härteste Notwendigkeit kann aus Ackerbauern Nomaden machen und umgekehrt.

Der Kampf des Hirten mit dem Ackerbauer ist so alt wie die Geschichte, die man als Weltgeschichte zu schreiben pflegt. Er tritt uns im alten Ägypten entgegen, und die Wurzeln des Judentums ruhen in ihm. Die altpersische Religion stellt in Ahura Mazdah und Nhriman das Wohltätige des Fruchtlandes dem Schädlichen der Steppe gegenüber. Ranke nennt diese Religion »auf den Anbau von Iran gegründet«; der Kampf der angesiedelten und wandernden Bevölkerungen nicht nur, auch der des bewässerten Landes gegen den Sand, der fruchtbringenden Bäche gegen die Düne spricht sich darin aus: der autochthone Zustand eines oasenreichen Steppen- und Wüstenlandes. So wie der Boden der alten Welt durch den großen Zug eines vom Atlantischen zum Stillen Meer sich erstreckenden Steppengürtels bezeichnet ist, den zu beiden Seiten fruchtbare Tiefländer begrenzen, so geht durch seine Geschichte die Wirkung der in diesem Gürtel wohnenden und wandernden Nomaden auf die Ansässigen zu beiden Seiten.

 

Jede Raumumbildung hat unvermeidliche Rückwirkungen auf alle benachbarten Räume, in Europa z.B. stets auf den ganzen Erdteil, und ihre Fortpflanzung von einem Gebiet zum andern gehört zu den mächtigsten Ursachen geschichtlicher Entwicklung. In diesem »Raummotiv« sind die Richtungen auf Vergrößerung unaufhörlich als Bewegungsantriebe wirksam. Zu ihnen gesellt sich die Befestigung oder die Art des Zusammenhanges des Staates mit dem Boden als weiteres, den Gang des Wachstums und besonders die Dauer seiner Ergebnisse bestimmendes Motiv. Alle philosophischen Theorien der geschichtlichen Entwicklung sind besonders darin mangelhaft, daß sie diese nächsten Bedingungen der staatlichen Entwicklung übersehen; darin fehlen besonders die sogenannten Fortschrittstheorien, ob sie nun geradlinige, spiralige oder andere Entwicklungsgänge voraussetzen.

 

Der Krieg ist, geographisch aufgefaßt, eine heftige, stoßweise und gewaltsame Bewegung großer Menschenmassen von einem Lande in ein anderes hinein; politisch ist er das gewaltigste Mittel zur Weiterführung des im Frieden stockenden Staatenwachstums und zur Klärung verworrener Völkerverhältnisse, wobei die für den Frieden gültigen Grenzen mit allen daran geknüpften Verkehrsbeschränkungen für die Kriegführenden verschwinden von dem Augenblick der Kriegserklärung an, ihre beiderseitigen Gebiete in Eins verschmelzen und einen Kriegsschauplatz im weitesten Sinne bilden; gesellschaftlich zeigt er die männlichen Züge des Gesellschaftstriebes und des Herrscherwillens aufs höchste gesteigert, während dagegen der Friede das Familienleben begünstigt mit seinem Streben nach abgeschlossenen sicheren Verhältnissen und wunschloser Zufriedenheit, mit seiner Fesselung des Mannes an Weib und Nachkommenschaft, kurz mit seinem Vorwiegen des weiblichen konservativen Prinzips und des Geschlechtslebens. Der erste Zweck des Krieges ist immer, in das Gebiet des Gegners einzudringen, daher Wege zur Grenze, Grenzfestungen, Magazine, Militärgrenzen, die das für die eine Seite erleichtern, für die andere erschweren sollen.

 

Als eine besondere Art von innerer Differenzierung kann die Zuteilung rein politischer Funktionen an besondere politische Räume betrachtet werden. Der Grenzsaum, mit seinen Schutz- und Verteidigungsvorrichtungen, die Schutz- und Verteidigungsplätze im Lande selbst, die Verkehrswege, Markt- und Versammlungsplätze sind in den einfachsten Staaten, die wir kennen, dem Staate beibehaltene Räume; die Grenzen allein nehmen oft weit mehr als die Hälfte des ganzen Staatsraumes ein. Je zahlreicher die Menschen auf diesem Raume werden, um so mehr werden sie diese Inanspruchnahme ihres Bodens für reinstaatliche Zwecke als eine Beschränkung ihres Bodens empfinden.

Der wachsende Staat besetzt die guten Stellen eines Landes vor den schlechten, und wenn sein Wachsen mit der Verdrängung eines anderen Staates verbunden ist, nimmt er siegreich dessen gutes Land ein und verdrängt dieselben nach den schlechten hin.

[Nicht besetzte und fremdem Volk überlassene schlechte Böden können allerdings in Zeiten der Schwächung des Staates zu gefährlichen Sprengkammern gegen seine Existenz werden (so z. B. die polnischen Siedlungen in der Tucheler Heide gegen das Deutschtum der Weichselniederung bei den Friedensverhandlungen 1918/19). D. Hrsg.]

 

Die Betrachtung des organischen Zusammenhanges der Staaten und der inneren Differenzierung hat uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß jede Erdstelle ihren politischen Wert hat.

Dabei ist in erster Linie zu beachten die objektive und ganz unverwischliche Abstufung der drei großen polltisch-geographischen Eigenschaften: Lage, Raum und Grenze (und damit eingeschlossen Gestalt). Der Wert einer Lage ist unverlierbar. Zuerst kommt die Lage, dann der Raum, dann erst die Grenze.

Die Grenze ist als peripherisches Organ des Staates sowohl der Träger seines Wachstums wie auch seiner Befestigung und macht alle Wandlungen des Organismus des Staates mit. Das räumliche Wachstum äußert sich als peripherische Erscheinung in der Hinausschiebung der Grenze.


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