Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

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Vierter Abschnitt

Das Vorspiel als Epilog

I.

»Das Rathaus ist ganz abgebrannt?« fragte Gordon sinnend, ohne Botko anzusehen.

»Als ich wegging, waren nur noch Reste von Umfassungsmauern ... Die Cortumsche Villa brennt noch lichterloh.«

»Und alle sind sicher, daß Sobek es gemacht hat?«

»Oh nein! das eben ist das Fatale. Okonek scheint sich verdächtig gemacht zu haben ...«

»Das ist freilich fatal«, bemerkte Gordon, schien sich aber nicht weiter dafür zu interessieren.

»Das Geld hat Hartmann?« fragte er dann wieder.

»Das weißt du ja schon.«

»Du hast noch mit Ostap gesprochen, bevor er sich erhängt hat?«

»Ja.«

»Hat er dir gesagt, daß er es tun werde?«

»Ja. Er bat mich, ich solle ihn in Ruhe lassen, denn zu so etwas brauche man viel Ruhe.«

»Wie spät konnte es sein, als er es getan hat?«

»Drei Uhr vielleicht.«

»Also kurz bevor ich kam?«

»Ja. Möchtest du vielleicht Wiederbelebungsversuche anstellen?«

Gordon schwieg.

»Du bist sehr unvorsichtig, Gordon«, bemerkte Botko. »Du solltest jetzt nicht fremde Menschen in dein Haus bringen. Was willst du jetzt mit dieser Kranken anfangen?«

Gordon saß in tiefem Nachdenken.

»Was ich anfangen will?«

Er grübelte.

»Was ich anfangen will? Natürlich nichts. Vorläufig sitzt Michalina bei ihr, und Maciej fuhr in die Stadt nach Mizerski.«

Botko sah ihn erschrocken an.

»Dann müssen wir ihn aber um Gotteswillen wegschaffen!« Er zeigte auf das Sofa.

Auf dem Sofa lag Ostap. Sein Gesicht sah in dem Schatten unheimlich aus. Die Lippen zu einer boshaften Grimasse verzerrt, die Zunge heraushängend, die Augen halb offen.

Gordon schnellte auf.

»Ja, um Himmelswillen! Wir müssen ihn sofort wegschaffen.«

»Aber wohin?«

»In die Scheune. Natürlich in die Scheune. Wir werden ihn im Stroh verstecken und dann die Scheune anzünden. Wie spät ist es denn?«

»Halb sieben ... Es wird uns doch niemand sehen?«

»Nein, nein ...«

»Na, also schnell! Fass ihn am Kopf!«

Botko packte Ostap an den Beinen.

Gordon starrte Botko eine Weile wie besinnungslos an.

»Nein, du, nein! Fass du ihn am Kopf. Ich kann dies Gesicht nicht ansehen.«

»Meinetwegen! Aber zum Donnerwetter, du zitterst doch nicht?«

»Nein, nein!«

Gordon nahm sich zusammen. Er fühlte Scham über seine Schwäche. Er öffnete die Tür nach dem Hofe zu und faßte den Toten mit einem brutalen Griff an den Schultern. Botko nahm ihn stillschweigend an den Beinen.

Sie gingen vorsichtig über den Hof, aber plötzlich strauchelte Botko und ließ Ostaps Beine fallen.

Gordon grinste.

»Geh, öffne die Scheune. Ich werde mir schon Rat mit ihm schaffen ...«

Er nahm Ostap auf seine Arme, stieß aber fortwährend mit dem Kopf des Toten gegen eine Wagenreihe, die vor der Scheune stand; er wurde wütend, legte ihn auf die Erde, packte ihn dann unter den Achseln und schleppte ihn so vorwärts. Der Tote schien viele Zentner schwer zu sein. Mit äußerster Mühe erreichte Gordon das Scheunentor.

»Bist du da?« flüsterte er. »So hilf mir doch!«

Sie schleppten nun beide Ostap in die Scheune und verscharrten ihn tief im Stroh.

»Da wird ers warm haben«, grinste Gordon mit leisem Lachen.

Als sie wieder ins Zimmer traten, warf sich Gordon erschöpft auf das Sofa, Botko ging mit großen Schritten auf und ab. Plötzlich blieb er stehen.

»Nun ist es höchste Zeit, daß ich verschwinde. Wenn der Abend kommt, geh ich auf die Wanderung.«

»Du willst nicht sehen, was heute geschieht?« fragte Gordon nachlässig.

»Nein! Ich weiß es im Voraus ... Aber hör! Bevor ich gehe ... Du weißt doch wohl, daß du leicht in Verdacht kommen kannst?«

»Es ist ja nur noch Okonek da«, sagte Gordon.

Sie verstummten plötzlich. Beide wurden unruhig.

»Ich bin neugierig, wie Okonek es morgen machen wird«, sagte Gordon und stand auf.

Botko antwortete nicht. Sie schwiegen lange Zeit.

»Er weiß eigentlich viel zu viel von dir«, sagte Botko endlich ... »Ich sprach noch gestern mit ihm. Er ist ungewöhnlich schlau ... Er könnte sehr gefährlich werden ... Ich habe den Eindruck bekommen, daß er vielleicht auf Erpressungen ausgehen könnte.«

Gordon wurde unwillig, aber Botko ließ sich nicht abschrecken.

»Einem Knecht ist nie zu trauen. Es ist ja sehr leicht möglich, daß er sich selbst verraten wird ... Du weißt ja: dies verfluchte Mitteilungsbedürfnis bei diesen Menschen ... Und heute soll er ja die Rede halten. Er wird zweifellos verhaftet werden ...«

Schweigen.

»Vor zwei Jahren hat er sehr getrunken«, sagte Botko nach einer Weile. »Er hat sogar einen Deliriumanfall gehabt. Nicht wahr?«

»Ja.«

»Diese Menschen sind sehr unzuverlässig. Und du warst nicht vorsichtig genug mit ihm. Er ist sehr geschwätzig. Und gar nicht so dumm. Er weiß sogar, daß du in seiner Mordgeschichte wegen Mitwisserschaft bestraft werden kannst ...«

»Ich habe für ihn einen Paß nach Rußland«, sagte Gordon sehr unruhig.

»Wie weit wird er damit kommen? Ein Knecht kann nichts damit anfangen.«

»Ich gebe ihm Geld.«

Botko zuckte mit den Achseln und kaute nervös an der Zigarette, die ihm immer von neuem ausging.

»Heute Abend, so gegen zehn Uhr, soll er dich im Wald erwarten, gleich hinter dem großen Stein.«

Gordon starrte erschreckt Botko an.

»Hast du ihm das gesagt?«

»Ja.«

Sie sahen sich einen Augenblick lang feindselig in die Augen.

»Du mußt es tun!« flüsterte Botko. »Sonst werden wir alle zu Grunde gehen.«

Gordon setzte sich hin. Er war blaß wie ein Leinentuch.

»Du mußt!« flüsterte Botko nochmals.

»Schweig!« schrie Gordon plötzlich auf.

Sie schwiegen lange ...

»Merkwürdig, daß Mizerski noch immer nicht kommt«, sagte Gordon.

Pause.

»Du hast sehr viel getan, Botko«, sprach er endlich. »Ich hätte es ohne dich nicht vollbringen können ... Meine Energie ist erschlafft ... Man muß ganz frei sein, um dergleichen sicher und ruhig zu vollführen ...«

»Bist du nicht frei?« fragte Botko.

»Bald werde ich es sein ...«

Er stand auf.

»Jetzt mußt du gehen, Botko; der Arzt kann jeden Augenblick kommen. Und sag den dummen Idioten in London, sag nur dem lächerlichen Zentralkomitee«, Gordon lachte höhnisch – »daß ich auf ihre Organisationsgedanken spucke. Sag ihnen, daß ich von ihren Menschheitsideen nichts wissen will. Was ich tue, tu ich nur, um Leben zu zerstören. Sag ihnen, daß mein einziges Dogma Lebenszerstörung ist ...«

»Das werde ich nicht sagen.«

»Du spielst Komödie vor ihnen?« fragte Gordon verächtlich.

»Ja – weil sie dasselbe Vieh sind, das du hier in Bewegung gesetzt hast. Vorläufig brauche ich sie noch ... Vorläufig. Vielleicht werden die Menschen bald Geschmack dran finden, Leben zu zerstören, dann hat man nicht mehr nötig, ihnen eine bessere Zukunft vorzuspiegeln.«

»Vielleicht ...« Gordon grübelte.

»Ja ja, du hast wohl Recht«, sagte er dann plötzlich. »Vorläufig noch ... Vielleicht können wir im nächsten Jahr alles ohne ihre Hilfe machen? Du, der Priester, Hartmann und ich ...«

»Hartmann ist prachtvoll. Nach dem Einbruch philosophierte er ganz ruhig mit Ostap über Bakunin und Schopenhauer. He he ... Beide seien Pessimisten, aber Schopenhauer wolle nicht das Leben hingeben. Bakunin wolle alles unerbittlich zerstört wissen ... Hartmann hat eine fabelhafte Ruhe ... Na ja, leb wohl. Bei Philippi und so weiter ...«

Sie umarmten sich.

Gordon horchte auf: der Schlitten war vorgefahren.

»Du mußt es tun!« sagte Botko eindringlich und scharf.

»Ja!«

Botko verschwand.

Gordon ging in den Flur, Mizerski entgegen. Zu seinem Erstaunen sah er, daß Hela mitgekommen war.

»Hela wollte durchaus mit, um Pola zu pflegen«, sagte Mizerski. »Nun, sie ist ja ein halber Arzt. Aber das arme Mädchen, wie ist sie denn hergekommen?«

Gordon erklärte in kurzen, abgebrochenen Worten. Er wußte kaum, was er sagte.

Im selben Augenblick sah er Helas Augen durchdringend auf sich gerichtet.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Fräulein, daß Sie gekommen sind ...«

Sie sah weg.

»Wo liegt sie denn?«

Gordon machte die Tür zu seinem Schlafzimmer auf und ging wieder in das Arbeitszimmer zurück. Er war so müde, daß er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.

»Das ist gut«, murmelte er. »Sonst würden die Erschütterungen mit den Kanarienvögeln nicht so spurlos an mir vorübergehen.«

Und wieder fühlte er die grausame Gleichgültigkeit vom vorigen Abend gegen sich und alle.

Hinter ihm fraß das Feuer die Stadt.

Würde ihn jemand fragen: hast du es getan, würde er unbedingt antworten: Ja.

Ja, ja, tausendmal ja.

Er hatte es sich viel größer, viel mächtiger vorgestellt.

Es ekelte ihn fast.

Er hatte geglaubt, er würde seinen Haß sättigen können, aber er wurde ihm nur zum Ekel.

Wie klein, wie schmutzig das alles! Dies lumpige bißchen Feuer. Dies lumpige bißchen Geld. Das reichte kaum hin, einen größeren Arbeitsaufstand zu arrangieren.

Und die Menschen, wie dumme Bestien in ihren Angstdelirien! Er dachte an ihr Schreien, an ihr Heulen, ihre Prozessionen, ihr sinnloses Hin- und Herrennen.

Lächerlich!

Aber jetzt mußte ers zu Ende führen, um das Große vollbringen zu können.

Er starrte lange, lange zum Fenster hinaus in den werdenden Tag.

Ja, es wurde Tag. Der lächerliche, banale Tag mit seiner Lebensbrunst.

Der Arzt kam.

»Mit dem armen Mädchen steht es sehr schlimm ...«

Er wusch sich die Hände.

Gordon sah ihm schweigend zu.

»Nun, was sagen Sie zu dem furchtbaren Brand?«

»Das bißchen Feuer!« Gordon sagte es ganz unwillkürlich.

Mizerski sah ihn aufmerksam an.

»Mit Ihnen scheint es auch nicht gut zu stehen. Sie fiebern ja ...«

Gordon wurde es sehr unangenehm, daß der Alte ihn so aufmerksam betrachtete.

»Sie sehen mich wohl schon als Ihren künftigen Patienten an. Damit hat es noch Zeit ...« Er versuchte zu lächeln, aber er war so müde, daß er es als Anstrengung empfand.

»Ich will hoffen ...« Mizerski zog den Pelz an. – »Na, Hela will hier bleiben. Dagegen haben Sie doch wohl nichts.«

»Ganz im Gegenteil ... Ich bin sehr glücklich darüber ... Ich werde Sie jetzt begleiten. Muß den armen Wronski aufsuchen.«

Er suchte nach seinem Hut.

»Wird sie sterben?« fragte er plötzlich.

»Das wird sich noch heute entscheiden.«

»Heute noch?«

»Ich glaube.«

In diesem Augenblick fühlte Gordon mit einer seltsamen Sicherheit, daß Pola sterben werde. Und im selben Nu sah er visionär Helas Augen mit einem furchtbaren Vorwurf sich in seine Seele bohren.

Er lachte kurz auf.

»Na, so wollen wir fahren, Herr Doktor.«


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