Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

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VII.

Wronski hatte sich unbemerkt in das Rathaus eingeschlichen. Es war die höchste Zeit. Kurz darauf hörte er zehn Uhr schlagen.

Vielleicht war es auch nicht so kurz darauf. Es war so merkwürdig mit seiner Zeitbestimmung. Manchmal verlief eine Stunde wie eine Sekunde und manchmal konnte sie zur Ewigkeit werden.

Er war ganz ruhig, er verspürte auch nicht einen Hauch von Angst.

Nur seltsame, maniakalische Ideen quälten ihn unausgesetzt.

Er dachte mit Schrecken daran, daß er mitten auf dem Markte Streichhölzer anzünden wollte, weil es ihm vorkam, daß sie ganz naß waren.

»Was wäre aber dabei, wenn ich auf dem Markte ein Streichholz angezündet hätte«, dachte er beruhigt.

Schlimmer war es, als er eine zwingende Lust empfand, an Ostaps Tür anzuklopfen und ihm alles zu erzählen.

Jetzt saß er auf einem Ballen Papier und wartete auf das Läuten der Kirchenglocken.

Was war es nur, daß die Kirchenglocken geläutet werden sollten? ... Natürlich würde etwas mit der Fabrik geschehen. Die letzte Proklamation würde schon ihre Wirkung nicht verfehlen ...

Natürlich werde die Fabrik auch brennen. Selbstverständlich! Er erinnerte sich, daß Gordon ihm das schon öfters angedeutet hatte.

Aber das Rathaus war freilich die Hauptsache.

Er kicherte. Die Idee, daß sich das Rathaus bald in Feuer auflösen werde, kam ihm unendlich belustigend vor.

Natürlich würde das Rathaus nicht niedergebrannt, sondern in das reinigende und verklärende Element des Feuers, des Agni, des heiligen Feuers aufgelöst werden.

Er erinnerte sich plötzlich, daß Botko von Petroleum gesprochen hatte.

Es war doch entsetzlich, daß die wichtigsten Dinge ihm erst nach und nach einfielen.

Er wurde ganz verzweifelt ... Er ging seine ganze Unterhaltung mit Botko durch, merkte aber zu seinem größten Schrecken, daß ihm fast alles entfallen war.

Er sprang auf.

Jetzt hätte er beinahe wieder das Petroleum vergessen.

Er tappte vorsichtig umher.

Richtig! An der Tür stand eine große Kanne Petroleum.

Er nahm die Kanne und hielt sie in den Händen.

Sonst könnte ich sie noch im letzten Augenblick vergessen, dachte er.

Er setzte sich wieder hin und hielt die Kanne krampfhaft mit beiden Händen fest.

Nun war er zufrieden. Er dachte lang und breit über sein archäologisches Thema nach, über die Mühe, als er alle die Papiere hier oben durchsuchte ...

So fiel ihm plötzlich, ganz urplötzlich eine sehr geistreiche Kombination ein über die kunstvollen Löcher, die in die Ziegelsteine des Klosters im 17. Jahrhundert eingebohrt waren ...

Er mußte nun gleich sein Thema ergänzen. Auf diese Kombination war noch kein Mensch verfallen. Die Löcher waren an vielen Gebäuden aus jener Zeit zu finden.

Er entwickelte den Gedanken mit Genugtuung weiter, verfiel aber bald in einen müden, schläfrigen Zustand. Mit einemmal schrak er auf.

Von der Straße her hörte er eine ungewöhnliche Bewegung, er hörte Wagen vorüberrasseln, und in der Ferne ein wildes, abgebrochenes Geschrei ...

Jetzt würde er auch bald das Läuten hören.

Er war ruhig, fast apathisch.

Er hatte ganz vergessen, weswegen er da war.

Er saß so schön. Er fühlte auch nicht sonderlich die Kälte; nein, gar nicht ... Im allgemeinen fühlte er sich ganz wohl; ganz wohl, wiederholte er leise und lächelte zufrieden.

Es war nur sonderbar, daß er sich so schläfrig fühlte. Er brauchte nur die Augen zuzumachen, um gleich, sogleich einzuschlafen.

Warum sollte er nicht schlafen? Er hatte doch so viele Nächte durchwacht.

Er erschrak heftig.

Herrgott! Bin ich denn verrückt?

Er kam in eine unbeschreibliche Erregung. Was war denn mit ihm? War es das Fieber?

Sein Kopf wurde ganz wirr.

Sollte ihn das Fieber ganz und gar übermannt haben, daß er sich so vergessen konnte?

Er bekam Angst, daß er träume, aber plötzlich merkte er, daß er die Kanne krampfhaft in der Hand hielt.

Das brachte ihn vollends zur Besinnung.

Wenn er nur wüßte, wie spät es sei.

Ein krankhaftes Verlangen, zu erfahren, wie spät es sei, quälte ihn mehr als alle seine bisherigen Fieberzustände.

Mein Gott, mein Gott! Wenn ich es nur irgendwie erfahren könnte!

Tausend Pläne fuhren ihm durch den Kopf, wie er es wohl anstellen müßte; da kam er wieder zu sich ...

O Blödsinn! Natürlich nur wieder das Fieber.

Dann dachte er wieder an Gordon. Er erinnerte sich plötzlich, daß Gordon ihn hinter der Brücke in den Weidenbüschen erwarten wollte. Also müßte er den gefährlichen Weg an den Giebeln der Häuser den Kanal entlang machen. Er könnte auch von der Brücke aus gesehen werden, wenn er so im Graben herumkroch ...

Sonderbarerweise wurde er wegen einer solchen Lappalie garnicht unruhig.

Er wurde ganz verwundert.

Die ganze Geschichte kam ihm so lächerlich leicht vor. Mit grenzenloser Verachtung dachte er über die Angst nach, die er damals ausgestanden hatte. Er wollte garnicht weiter drüber nachdenken. Sonst würde er sich nur über sich selbst schämen müssen.

Jetzt würde er wohl bald das Läuten hören ... Lange würde er nicht mehr zu warten brauchen. Das fühlte er deutlich.

Und mit einem Mal erschauerte er. Er begann zu zittern, daß die Kanne hin- und herflog. Er klapperte mit den Zähnen und empfand ein eisiges Frostgefühl.

Jetzt bald! Bevor er bis Tausend zählen könnte.

Kalter Schweiß trat ihm auf den Körper. Er begann zu zählen.

Da – plötzlich – Glocken! ...

Sein Herz wollte stillstehn. Hatte er Glocken gehört? Er war nicht sicher. Herrgott! das war wohl nur der Aufruhr seines Blutes.

Er wartete. Eine Ewigkeit verging. Er suchte sich zu bemeistern, vermochte es aber nicht.

Aber das Läuten dröhnte ihm immer stärker in den Ohren; langes, schauriges Stöhnen.

Er horchte auf ...

Er irrte sich nicht!

Ganz mechanisch entkorkte er die Kanne. Er schwang sie in der Luft, aber seine Kräfte verließen ihn: er fiel mit dem Gefäß lang hin.

Da wurde er rasend. Er raffte sich auf, goß das Petroleum auf einen Haufen Papier aus, suchte mit bebenden, fliegenden Händen nach den Streichhölzchen, aber er zitterte so, daß er das Streichholz nicht an die Reibfläche ansetzen konnte. Endlich gelang es ihm, das Ding zu entzünden. Er wich mechanisch ein paar Schritte zurück und warf das Streichholz hin; im Nu schlugen die Flammen hoch.

Er stürzte nach dem Ausgang. Aber er vermochte die Tür nicht aufzumachen. Im selben Augenblick erinnerte er sich, wie furchtbar schwer es ihm geworden war, sie zu öffnen, als er vorhin hereinkam. ... Er wußte nicht mehr, wie er sie aufgemacht hatte ... er war der Ohnmacht nahe ... der Qualm erstickte ihn ... In Todesangst fuhr er mit beiden Händen an der Tür umher, kratzte sich blutig an den verrosteten Eisenbeschlägen des uralten Schlosses ... In wüster Verzweiflung warf er sich auf sie, rüttelte an ihr, schlug mit den Fäusten gegen sie, stampfte mit den Füßen ... nichts half.

Da begann er vor Todesangst zu schreien. Wie ein Tier. Daß die Lungen auseinanderrissen. Husten erstickte ihn. Er fühlte Blut herausströmen ...

Die Flammen griffen blitzschnell um sich. Sie leckten schon an seinen Schuhen. Instinktiv riß er die Kleider von sich, warf sie über das Feuer, er versuchte es zu ersticken; er arbeitete mit letzter Anstrengung, raffte alles, was er zur Hand bekam, zusammen und warf es in die Flammen hinein. Er schrie und lachte. Er vergaß die Lebensgefahr. Schon kam es ihm vor, daß das Feuer ersticke. Er trat es mit den Füßen aus, er erwürgte es mit seinen Händen, er kämpfte mit einer tausendköpfigen Hydra – Hydra – Hydra! Aber plötzlich brach es von neuem hervor. Zuerst nur Rauch, dann oben ein Funkenrand, – eine Flammengarbe ... Er hustete auf, als müßte er sein ganzes Innere auswerfen: einen Strom von Blut.

Er schwanke, fiel hin. Eine furchtbare Helligkeit tanzte eine Sekunde lang vor seinen Augen ...

Dann nur schwarze Kreise – und so weich, so versinkend – so ... ach! so ...


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