Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

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V.

Als er nach Hause kam, fing er in fiebernder Erregung an auf- und abzugehen.

In seiner Seele war es finster. Eine fressende Verzweiflung brachte ihn dem Wahnsinn nahe. Sein Herz schlug gewaltsam und sehr unregelmäßig.

Durch die verfluchten Ausschweifungen hab ich mir das Herz zerstört!

Er lachte boshaft und legte sich aufs Sofa.

Ein wenig Alkohol wird die Geschichte gleich in Ordnung bringen.

Er trank aus der Flasche. Er konnte nicht verstehen, warum er kein Glas gebrauchen konnte. Er mußte merkwürdigerweise jetzt immer aus der Flasche trinken.

Das gehört mit zur Psychologie der Satanskinder. Er lächelte verächtlich.

Der Alkohol hatte ihn schläfrig gemacht. Nein! Durchaus nicht der Alkohol, nur die Orgien, die Orgien, Freund Horatio! Zwei schlaflose Nächte in Käthes perverser Umarmung! Huh, wie ich müde bin ... Die Knochen ganz wie zerschlagen! Nun, verehrter Herr Ostap posthumus, laß mich jetzt in Ruhe. Der brave Herr Papa will schlafen ...

Aber er konnte nicht schlafen. Durchaus nicht.

Das ist ja weiter nicht schlimm. Die Alkoholiker fallen plötzlich, mit einem Mal in Schlaf, ganz wie ein Alexander der Große, ein Byron, ein Gordon ...

Er kicherte boshaft.

Ob Karl der Zwölfte ein Alkoholiker war?

Ha ha ha – und der mystische Sobek, der ideelle Sobek, den seit einem Jahre die Erde frißt! Ha ha ha ... Alle Achtung, du König von Syon! Der Sobek ist gut ... Geld wird es geben. Dafür kann man zehn Städte einäschern. Bravo, Gordon! Meinen Leib und meine Seele hab ich dir verschrieben, ich diene dir mit Freuden, mit Freuden, he he he ...

Er sah sich plötzlich bei Käthe im Huthschen Lokal ... Käthe! Das war das prachtvollste Mensch, das er je gesehen ...

»Komm herunter, Madonna Theresa ...«

Ha ha ha! sie übertraf sich selbst in Obszönitäten ... Eine Philosophie über die obszöne Unschuld zu schreiben, das wäre was ...

Ostap lächelte irr, erhob sich schwerfällig, blieb eine Weile sitzen, starrte lange stumpf vor sich hin, aber mit einem Mal fiel er in einen schweren, traumlosen Schlaf.

Plötzlich wachte er auf, zündete ein Streichholz an: er hatte über eine Stunde geschlafen. Er legte sich wieder hin. Er war entsetzlich müde. Sein Kopf tat ihm weh. Es kam ihm vor, ja, er hatte ein ganz distinktes Gefühl davon, daß die Hälfte seines Gehirnes sich in eine jauchige Masse aufgelöst habe.

Diese Idee schien ihm ganz besonders geistreich zu sein.

Wieder verfiel er in ein dumpfes Brüten. Nur hin und wieder war es ihm, als ob sich langsam ein Gedanke durch sein Gehirn schleiche ... ganz wie ein geborstener Ballon sich ein Stück auf der Erde schleppt, um dann wieder auf einer Stelle hin- und herzuschwanken.

Es verging eine Weile.

Plötzlich ging er eine alte Treppe hinauf. Die Treppe kam ihm so sonderbar bekannt vor. Er las die Namen der Schilder, die an den Türen angeschlagen waren, und auch die Namen schienen ihm bekannt zu sein. Er mußte sie schon früher gelesen haben ...

In seinem Herzen war eine grenzenlose Verzweiflung; er verstand nicht, warum er so verzweifelt war, er fühlte nur den Schmerz und den Haß breiter und mächtiger anschwellen. Er wurde verwirrt. Er blieb stehen, er wußte nicht, wo er war ... Da mit einem Ruck: er war natürlich zu Hause!

Er erschrak. Was sollte er zu Hause? Aber es war ihm, als würde er durch eine fremde Macht hinaufgepeitscht. Der Ausgang schien versperrt zu sein. Einen Schritt hinter ihm schien eine endlose Mauer aufzusteigen, eine Mauer, die in den Himmel hineinwuchs.

Er mußte höher hinauf, und die Mauer schien ihm Schritt für Schritt zu folgen.

Er war auf einem himmelhohen Turm. Unten gähnte der Abgrund. Hinunter konnte er nicht. Es wurde ihm auch plötzlich bewußt, daß der Turm keine Treppe hatte; er war jäh hinaufgeschossen, und nun war er im obersten Zimmer, einem kahlen, leeren Dachzimmer. Der Himmel brannte auf die Bleiplatten des Daches, daß man nicht atmen konnte, dann wurde es wieder kalt; er fror, er zitterte wie Espenlaub, die Zähne schlugen ihm vor Kälte aneinander.

Mit einem Mal hörte er das Geschrei eines Kindes ... Er trug es in den Armen. Das Kind schrie, daß er glaubte, die Lungen müßten ihm platzen. Das Geschrei kreilte ihm schmerzhaft in den Ohren; er litt unter dem Geschrei, wie er in seinem Leben nicht gelitten hatte ...

Er wollte weglaufen, er konnte nicht; er hatte auch das Gefühl, daß er von dem Kinde nie wegkommen könne, nie, nie ... Das Geschrei wurde noch geller, noch schneidender, das Kind wurde schwerer und schwerer, er konnte es kaum mehr halten ...

Da schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf: Töte es! Töte es!

Er sah sich um nach etwas, womit er es töten könnte: nichts war da. Er raste gegen das Kind, er packte es in tierischer Wut, riß ihm das Hemdchen entzwei, die Kälte schien in einem Nu den kleinen Körper starr zu machen.

Ein wilder Triumph brauste durch seine Nerven: er faßte einen Krug eiskalten Wassers und goß es über das Kind.

Das Kind hörte auf zu schreien. Es entstand ein brennendes, höllisches Schweigen, und in dieses Schweigen hinein glühten zwei sterbende Kinderaugen, er sah ein krampfverzerrtes Lächeln.

Auf einmal sprang das Kind hoch ... Nein, kein Kind ... eine wilde Katze war es. Sie sprang auf ihn zu, packte ihn mit den Tatzen an der Kehle ... Er riß sie weg; er fühlte, daß er Stücke eigenen Fleisches mit weggerissen hatte, er faßte die Katze mit den Händen, warf sie auf den Boden, trat sie mit den Füßen, aber das tolle Tier biß, kratzte, zerfleischte ihn ...

Mit einem Mal bekam er eine eiserne Stange zu fassen, er schlug auf das Tier mit verzweifelter Kraft. Die Katze schrie und stöhnte wie ein Kind ... Er schlug wie rasend zu, er sah nichts, er hörte nichts, er fühlte nur, daß die Katze weiterlebte, daß er sie nie los werden könne; schon sprang sie von neuem auf ihn zu, biß sich in sein Gesicht fest..

Er wachte auf. Seine Zähne schlugen heftig aneinander. Er hörte lange, gurgelnde Töne, er konnte sein Gesicht nicht bemeistern: jeder Muskel, jeder Nerv flog unter fürchterlichen Schmerzen.

Als er zu sich kam, saß er in eine Ecke gekauert dicht am Ofen.

Er sprang in wildester Verzweiflung auf.

Aha! Jetzt kommt der Wahnsinn! Aha! Aha!

Er wollte die Lampe anzünden, aber seine Hände zitterten so, daß die Lampenglocke seinen Händen entfiel und in tausend Scherben zersprang.

Aha! jetzt kommt es! jetzt kommt es! wiederholte er unablässig.

Endlich gelang es ihm, die Lampe anzuzünden.

Er setzte sich hin und saß in blödem, starrem Brüten.

Plötzlich hatte ihn jemand angestoßen.

Er sah langsam auf.

»Kennen Sie mich nicht?«

»Ah, Sie sind es, Hartmann? Hab ich geschlafen?«

»Das wohl nicht. Aber es war wohl eine Art von Lethargie«, sagte Hartmann sehr ruhig. »Ich habe es einmal bei einem Freunde in London gesehen. Er saß auf diese Weise über zwanzig Stunden.«

»So? So? Was hat das wohl zu bedeuten?« fragte Ostap zerstreut. »Was glauben Sie?«

»Was es bei Ihnen zu bedeuten hat, weiß ich nicht ... Mein Freund hat sich zwei Tage später erhängt.«

»Erhängt?!«

»Ja. Er behauptete immer, daß es die leichteste Todesart wäre, weil sie mit angenehmen Empfindungen verknüpft sein soll. Sie wissen, eine sexuelle Erregung im letzten Moment. Ich glaube es übrigens nicht.«

Hartmann sah auf die Uhr. Ostap dachte tief nach.

»Wir haben noch ein wenig Zeit. Man kann doch von Ihrem Fenster aus die Fabrik sehen?«

»Fabrik?«

»Ja.«

»Soll sie niedergebrannt werden?« Ostap lächelte boshaft. »Also hat er doch meinen Rat befolgt? He he he ...«

»Wenn es anfängt, dann müssen wir an die Arbeit«, sagte Hartmann sehr ernst.

»Aha!«

Lange Pause.

»Ihr Vater ist bereits abgereist?«

»Ich denke; ich habe ihn nicht gesehen.«

Wieder langes Schweigen.

»Ihre Schlüsselmodelle waren ganz ausgezeichnet« – Hartmann sah Ostap aufmerksam an ... »Sie haben wohl schon früher damit zu tun gehabt?«

»Ja!« Ostap warf es sonderbar zerstreut hin. Sie schwiegen lange.

»Wollen Sie sich nicht überzeugen, ob nicht doch am Ende jemand im Rathaus zurückgeblieben ist?«

Ostap stand mechanisch auf.

»Machen Sie unterdessen Tee! Dort steht Whisky ...«

Er wollte Licht anzünden.

Hartmann sah ihn erschrocken an.

»Was machen Sie denn? Wollen Sie sich verraten?«

Ostap starrte verständnislos.

»Ja richtig, ja ... Ich bin so zerstreut ...«

Er ging hinaus.


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