Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

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V.

Hela stand am Fenster und kühlte sich die heiße Stirn an der Scheibe.

Draußen regnete es. Es regnete beständig.

Sie dachte an nichts. Es war ein Zustand von einem irren, zusammenhanglosen Brüten, aus dem sie hin und wieder emporschrak.

Oh, sie kannte es.

Es dämmerte, es wurde so schnell dunkel.

Sie zündete die Lampe an, setzte sich in den Lehnstuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

So saß sie sehr lange. Plötzlich fuhr sie auf: es klopfte.

Ostap trat herein. Er schien verwirrt zu sein, sah sich scheu um und setzte sich hin, ohne ein Wort zu sagen.

Sie stand und wartete.

Er sah verlegen zu ihr auf.

»Du hast wohl auf mich gewartet. Ich konnte mich so schwer entschließen, zu kommen. Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. Was ist es denn, was du mir zu sagen hast? Herrgott, du siehst so ernst aus. Was ist es denn?«

»Bist du krank?« fragte sie.

»Nein. Ich bin nur betrunken. Ich bin jetzt immer betrunken«, murmelte Ostap.

»Kannst du denn wenigstens verstehen, was ich zu dir sage?«

»Sprich nur, sprich!«

»Also hör mal, ich will dich niemals wieder sehen. Ich habe beschlossen, mit dir zu brechen.«

Er schnellte auf und sah sie blöde an.

»Du darfst mich nicht unterbrechen, sonst geh ich, ohne nur ein Wort zu sagen. Übrigens lügst du, daß du betrunken bist. Du bist gar nicht betrunken.«

»Nein!«

»Bist du denn krank?«

»Nein, nein! Sprich nur, sprich!«

Sie wurde noch ernster.

»Du lachst! Du glaubst, ich spreche in einem Anfall von meinen gewöhnlichen Launen. Das ist es nicht. Ich war niemals so ernst. Ich wurde jetzt erst so ernst ...«

Sie hielt inne, als hätte sie keine Kraft, weiter zu sprechen.

»Oh, ich bin so ernst«, wiederholte sie wie abwesend.

Sie raffte sich zusammen und setzte sich neben ihn hin.

»Ostap, ich habe dich belogen, als ich dir sagte, ich könnte dein sein. Deine Liebe war so heftig, ich berauschte mich an deiner Liebe. Ich war so glücklich. Du bist der erste, der mich liebt, aber ich liebe dich nicht.«

»Du liebst mich nicht?«

»Nein! Ich glaubte bei dir alles vergessen zu können – alles vergessen ... Aber du bist nicht stark genug. Ich muß Stärke und eine furchtbare Kraft um mich haben, sonst falle ich ... ja, ich falle – ich falle ... Oh, es gibt nicht einen Mann, der stark genug für mich ist. Ich muß eine Kraft um mich fühlen, daß ich in ihr wie ein winziger Punkt zusammenschrumpfe. Eine Kraft, die mich tausendfach umhüllen kann, so daß ich mich selbst vergesse und mich als ein hilfloses Kind fühle und wieder Kind werde ... Du bist nicht der Mann dazu. Du bist selbst schwach, und du hast immer Angst. Du hast viel mehr Angst als ich ...«

Sie schwieg.

Er faßte sie ums Handgelenk, preßte es schmerzlich und sagte heiser:

»Weiter, weiter!«

»Oh, laß, laß ... Das tut weh ... Ich muß getragen werden, ich muß fühlen, daß ich mitgerissen werde, dann fühle ich mich wieder Kind und vergesse den Ekel ... Aber du hast selbst Ekel. Viel Ekel vor dir und vor mir ...«

»Ich liebe dich!« sagte Ostap tonlos. »Ich habe nie Ekel vor dir.«

»Du lügst! Du lügst! Du hast oft Ekel vor mir. Sehr oft. Soll ich dir sagen, wenn du ihn gefühlt hast? Erinnerst du dich, als wir auf dem Perron der Eisenbahnstation standen? Ein Mann küßte ein Mädchen, das sich scheu nach allen Seiten umsah. Sie hatte so viel Angst, so viel Liebe und so viel Schmerz, weil er abreisen mußte. Hast du da nicht gedacht: Ah, so hat sie einmal ihren Liebhaber, als er wegreisen mußte, begleitet. Ängstlich, daß sie nicht bemerkt werde, und zu Tode traurig, weil er wegfahren mußte?! Hast du das nicht von mir gedacht? Glaubst du, ich habe es nicht bemerkt, wie du vor Schmerz zusammenfuhrst? Die geringste Kleinigkeit schmerzt dich. Alles an mir, um mich schmerzt dich. Jedes Haus, jede Straße, jede Erinnerung wird dir zu Qual. Überall, wo du nur hinsiehst, begleitet dich der Gedanke: Oh, ist es hier, das Haus, wo sie zum Weibe wurde? Ist es hier, wo sie mit ihm saß und die Liebesnacht besprach? ... Siehst du, ich kann das nicht ertragen. Ich habe einen so grenzenlosen Ekel vor meiner Vergangenheit ... Ich will nicht fortwährend daran erinnert werden. Nein! Ich will es nicht! ... Oh, ich bin so müde!«

Sie ließ schlaff die Hände sinken.

»Du klammerst dich an mich«, sagte sie nach einer langen Pause. »Du hast so viel Angst. Du glaubst deine Angst in der Liebe zu vergessen. Ich habe gedacht, dich an deine Hände zu nehmen und in deiner Angst meinen Ekel aufzulösen. Aber ich habe nicht Kraft dazu ...«

Sie schwieg wieder, ihre Augen waren mit Tränen gefüllt.

Ostap versuchte zu sprechen, aber er brachte nur einen heiseren Laut hervor.

Sie sah ihn fragend an.

Seine Augen weiteten sich in kranker Angst.

»Verlaß mich nicht! Verlaß mich nicht ... Ohne dich geh ich auseinander. Seitdem ich dich hier traf ... seit ich dich liebe, wurde es besser mit mir ... Meine Liebe hat mich stark gemacht ... Ich habe jetzt nicht mehr die entsetzlichen Träume ...«

Er griff nach ihren Händen.

»Du hast mir Hoffnung gegeben ... Ich habe mich daran festgeklammert ... Ich liebe dich. Ich werde alles vergessen. Ich werde die Stärke und die Macht werden, die du brauchst, die du haben willst ...«

Er flennte wie ein Kind.

Sie wurde ungeduldig.

»Nein, nein! Du kannst nicht stark werden! Belüg dich doch nicht! Mach mir die Trennung doch nicht so schwer. Jetzt hast du vergessen, woran du noch vor fünf Minuten gedacht hast ... Wurde es dir wirklich nicht klar, daß ich die Maitresse von Gordon und früher noch die Maitresse eines lächerlichen Studenten war? Hier, ja hier in dieser Stadt! Willst du mit mir gehen, ich werde dir das Haus zeigen, in dem ich lange, lange Liebesstunden verlebt habe.«

Sie lachte höhnisch.

»Kannst du dir den Ekel nicht vorstellen, fühlst du ihn nicht, ein Weib zu nehmen, um dessen Leib sich schon die Hände eines andern geflochten haben? Ha ha ha ... Nur liebebedürftige Knaben pflegen darunter nicht zu leiden ... Ich will dich nicht sehen! Ich will dich nie wieder sehen! Ich liebe dich nicht!«

Ostap schien das Gleichgewicht zu verlieren. Er griff wieder nach ihren Händen und preßte sie gewaltsam.

»Laß mich dich doch wenigstens sehen, Königin! He he ... Du bist meine Königin. Ich fühle mich so stark bei dir. Soll ich dir ihn, verstehst du, ihn, den König, bringen? Soll ich dir Gordon herschaffen? Jag mich nur nicht weg! Ich werde dir ihn sofort herschaffen ...«

Er lachte irre ...

»Ich weiß ein Zauberwort! Er kommt sofort! Seine Liebe zur Macht ist größer, als seine Liebe zu dir ...«

Sie stampfte mit dem Fuß.

»Ich will ihn nicht! Ich hasse ihn!«

»Weil du ihn liebst, Königin. Ich liebe ihn auch ... Wir wollen ihn beide lieben. Wir wollen beide in seiner Kraft klein und glücklich werden, ha ha ha ... und keine Angst haben ... Ha ha ha ... ich habe soviel Angst ...«

Sie stand auf.

»Geh! Es ist zu Ende mit uns! Es ist mein letzter Wille! Ich will weder dich, noch ihn sehen. Ich will allein sein. Gordon ist ein Lügner. Er liebt niemanden. Er sucht sich nur einzubilden, daß er liebt, aber er tut es nicht.«

»Ja, dich, dich liebt er, dich, weil du ... weil du ...«

Er stand auf und wankte ...

»Hör, Hela ... Laß mich wenigstens ... Ja, das Eine ... Nur hin und wieder laß mich kommen, dich sehen ...«

»Nein! Ich will nicht! Ihr beschmutzt mich mit jedem Händedruck, mit euren Augen, mit dem Tonfall eurer Stimme ... Alle klammert ihr euch an mich mit dem Hintergedanken, daß ich leicht zu haben bin, weil ich schon diesem und dem anderen gehört habe. Ich habe Ekel vor euch allen! Geh doch! Geh!«

Er lächelte irrsinnig.

Sie schrak auf. Der wilde Ausdruck von verzweifeltester Angst in seinem Gesicht lähmte sie.

»Wovor hast du Angst?« flüsterte sie leise und wich unwillkürlich zurück.

Er ging auf sie zu.

»Wovor hast du Angst?« wiederholte sie.

Er sah sie plötzlich klar und ernst an.

»Komm her, ich werde es dir sagen. Komm, setz dich hier neben mich.«

Sie gehorchte.

Er beugte sich über sie ...

»Ich habe Angst, wei – weil ...«

Im selben Nu umfaßte er ihren Kopf und biß sie in den Hals.

Sie schrie vor Schmerz.

Er kam zum Bewußtsein. Er wich weit zurück und blieb mit schlaff herabhängenden Armen stehen.

Es verging eine lange Zeit. Sie bebte und zitterte und preßte sich angstvoll in die Ecke des Zimmers.

Er sah sie immer mit einem irren Lächeln an. Über seine Backen rollten unablässig große Tränen, ohne daß sich sonst auch nur ein Muskel in seinem Gesicht verzogen hätte.

Endlich schien er sich zu ermannen. Er wandte sich nach dem Fenster, stand lange regungslos und starrte hinaus. Dann drehte er sich langsam nach ihr um.

»Ich habe dich wohl sehr erschreckt«, fragte er gleichgültig. »Ich bekomme von Zeit zu Zeit solche Anfälle ... Nun ja ... Ich werde natürlich gehen ...«

Er setzte sich hin, stand aber wieder auf.

»Aber sag mal, soll ich dir wirklich nicht Gordon herschaffen?«

Er sah sie lange an, dann lächelte er.

»Nun, so leb wohl! ... du hast recht ... Ich habe sehr viel darunter gelitten ... unter ... unter – Nun ja ...«

Er berührte ihre Hand mit den Fingerspitzen.

Vor der Tür stieß er auf Pola Wronska.

Draußen mußte er sich festhalten, um nicht zu fallen.

Nach einer Weile fing er an, die Treppen herunterzugehen, aber die Kräfte schwanden ihm.

Er setzte sich auf den Stufen hin, alles begann um ihn zu kreisen, ein großer Himmel stand im Feuer, gelbe Blitze schlugen in die Sonne ein ...

Er verlor das Bewußtsein.


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