Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

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II.

Als Gordon auf den Korridor trat, sah er den alten Ostap mit vielen Aktenstücken unter dem Arm ankommen. Aber er war so in Gedanken vertieft, daß er Gordon gar nicht bemerkte.

Er scheint weiter nachzurechnen, dachte Gordon, empfand aber ein unangenehmes Gefühl dabei. Sein Herz schlug schneller.

Auf der Straße sah er sich um. Auf dem gegenüberliegenden Trottoir ging Botko langsam vor sich hin.

Der Teufel würde ihn jetzt in diesem Bart erkennen! Gordon lächelte zufrieden.

Sie wechselten flüchtig einen Blick. Gordon ging voran. Botko folgte ihm in weiter Entfernung.

Mitten in der Stadt war ein Park. Hier ging Gordon hinein. Es dunkelte. Der Park war menschenleer. Gordon ging ihn zu Ende und kehrte dann um. In der Mitte traf er Botko.

»Um elf Uhr kannst du mit der Fabrik beginnen«, flüsterte Gordon ihm zu. »Laß dich an möglichst vielen Stellen sehen. Geh vor allem zu Huth. Mach Käthe betrunken. Man kann ihr dann die unglaublichsten Suggestionen in den Kopf setzen.«

Sie trennten sich.

Kaum kam Gordon aus dem Park heraus, als er auf den jungen Priester stieß.

Er lachte innerlich.

»Ah! Der Herr Priester!«

»Guten Abend, Herr Gordon.«

Sie reichten sich die Hände.

»Haben Sie schon gehört, daß es in der Schnittlerschen Fabrik drunter und drüber geht?«

Gordon zuckte mit den Achseln.

»Daran ist Schnittler selbst schuld. Er behandelt die Arbeiter sehr schlecht und demoralisiert sie noch obendrein. Die Hälfte der unechten Kinder, die Sie taufen, sind seine. Man sollte den Menschen einsperren. Seine Fabrik ist zum Vulkan geworden, jeden Augenblick wird er tätig werden.«

Der Priester sah düster vor sich hin.

»Es ist Gottes Hand! Ich habe nie in meinem Leben eine solche moralische Fäulnis gesehen, wie grade hier.«

»Ja, leider ...« Gordon schien sehr betrübt zu sein. – »Das Volk nimmt das schlechte Beispiel von oben. Es vergeht doch keine Woche ohne irgend einen Skandal in der Gesellschaft. A propos: Haben Sie die letzte Proklamation gelesen? Ich habe sie bei meinem Onkel gesehen. Empörend!«

»Der Antichrist selbst hat sie geschrieben. Nur der Antichrist kann im Namen des Heilands das Volk zu Gewalttätigkeiten aufreizen.«

»Ja, es steht schlimm«, sagte Gordon.

»Ich werde jetzt aber keine Rücksicht mehr nehmen!« Der Priester glühte fanatisch. »Ich werde die Pesthöhlen, in denen Satan seine Orgien feiert, öffentlich von der Kanzel brandmarken. Hier – rings herum: die goldne Jugend!«

Er schwieg, seine Aufregung erlaubte ihm nicht weiter zu sprechen.

»Wir werden uns wohl heute bei meinem Onkel sehen?« fragte Gordon.

»Ja, ich bekam soeben eine Einladung.«

»Dann auf Wiedersehen.«

Sie schüttelten sich herzlich die Hände.

Gordon wurde sehr ernst. Es fror, und ein unangenehmer Wind schnitt ihm ins Gesicht.

Welches Glück, daß der Schnee weg ist! dachte er.

Nun mußte er zu Wronski gehen.

Ein Gefühl von Angst und Mitleid füllte seine Seele. Aber er ließ es nicht aufkommen.

Wronski muß ja sowieso sterben. Es bleibt sich ja gleich.

Er ging quer über den Markt. Er fühlte sich einsam und verlassen.

Er dachte an Ostap. Warum haßte ihn der Mensch so entsetzlich?

Aber das Denken tat ihm weh. Ganz mechanisch sah er zu Helas Wohnung hinauf.

Es war finster.

Er lächelte traurig.

Als er in die kleine Gasse, die nach Wronskis Wohnung führte, hineinkam, fühlte er eine entsetzliche Beklemmung. Er war ganz wie gelähmt. Das Gefühl einer unsagbaren Traurigkeit sog sich ihm wie Gift in jeden Nerv.

Er ging hinauf und trat, ohne eine Antwort auf sein Klopfen abzuwarten, ein.

Wronski kam ihm entgegen. Sein Gesicht war wie verwandelt, seit Gordon ihn das letzte Mal gesehen hatte. Gordon war erstaunt. Er konnte sich nicht denken, wie ein Gesicht in ein paar Tagen eine solche Veränderung erleiden könne.

Im übrigen schien Wronski gefaßt.

»Nun Stefan?«

Gordon sah ihn forschend an.

»Ja?«

»Sind Sie bereit?«

»Ja.«

»Also heute!«

»Heute?«

Wronski wich unwillkürlich zurück und erzitterte.

»Heute?!« wiederholte er tonlos.

»Ja. Heute. Sind Sie nicht fähig dazu?« fragte Gordon und sah ihn lächelnd an.

Wronski faßte sich mühsam.

»Ja. Natürlich ... Es kam nur so unerwartet ... Ich – ich habe nicht geschlafen ein paar Nächte ... ich bin sehr nervös ...«

Er hustete.

»Heute also!« Gordon sprach abmachend und bestimmt – fast streng. »Um zehn Uhr müssen Sie sich einschließen lassen und dann warten, bis Sie das Läuten von Kirchenglocken hören.«

Wronski zitterte wie Espenlaub. Er konnte nicht stehen und wäre beinahe umgefallen, wenn Gordon ihn nicht gestützt hätte.

»Haben Sie Angst?« fragte ihn Gordon mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens.

Wronski antwortete nicht. Er hatte das Gesicht in seine Hände gegraben, aber seine Arme zitterten so heftig, daß das Gesicht hin- und herzufliegen schien.

Gordon wurde unruhig.

»Was fehlt Ihnen denn?« flüsterte er mit erregter Stimme.

Wronski flog auf, sah sich wirr um, starrte eine Weile Gordon an. Sein Mund bewegte sich heftig und verzerrte sich, aber er konnte kein Wort sagen.

»Ich kann nicht!« brachte er schließlich mühsam heraus.

Gordon zuckte auf. Es war ihm, als stürze sein ganzer Plan über ihm zusammen und begrabe ihn unter sich.

Er sah Wronski aufmerksam an.

»Nun, wenn Sie glauben, daß Sie nicht genug Mut dazu haben, so ...«

»Sprechen Sie nicht weiter«, schrie Wronski plötzlich auf, »sprechen Sie nicht!«

»Erlauben Sie, die Sache ist zu ernst, mein lieber Wronski ...«

Gordon hatte Mühe, ein starkes Zittern zu unterdrücken.

»Sehr ernst! Darauf ist ein ganzer Plan aufgebaut.«

Wronski lief wie im Fieber herum.

»Beruhigen Sie sich doch, regen Sie sich nicht so auf ... Übrigens lassen wir es!«

Gordon schickte sich an, zu gehen.

Wronski sprang auf ihn zu.

»Ich werde es tun! Ich werde es tun! Sprechen Sie nur mit mir ... Sprechen Sie ... Es kam nur im Augenblicke, als Sie so unerwartet sagten: Heute! ... Das war, als hätte ein Blitz in mich geschlagen. Jetzt komme ich zur Besinnung ... Es ist etwas andres in mir, das dies Nein sagte ...«

»Nein, Wronski, ich habe keine Zeit. Ich kann nicht riskieren, daß Sie im entscheidenden Momente Nein tun

Wronski schwieg. Er schien in eine dumpfe Raserei zu geraten. Schaum trat ihm auf den Mund.

Gordon sah ihn unruhig und verwundert an.

»Wenn ich – ich ...« Wronskis Stimme bebte so, daß er ganz unverständlich stotterte – »wenn ich sage, daß ich es tun werde, so – – so werde ich es tun!«

Gordon setzte sich wieder.

»Hören Sie, Stefan, wenn Sie es nicht tun können« – Gordon sprach sehr mild, – »so werde ich es selbst tun ... regen Sie sich nur nicht auf. Ich spreche vollkommen ruhig zu Ihnen. Ich werde es Ihnen durchaus nicht übel nehmen.«

»Genug davon! Ich tue es!«

Wronskis Augen funkelten.

»Haben Sie Tee, Wronski? Ich habe bis sieben, halbacht Zeit; ich möchte gern bei Ihnen sitzen und mit Ihnen sprechen.«

»Wollen Sie das?« Wronski atmete erleichtert auf. »Das ist gut, sehr gut«, sagte er. »Sehen Sie, ich bin ja wieder der Alte. Ich verstehe einfach diese plötzliche Schwäche nicht. Ich habe so lange nicht geschlafen, und Pola ist auch krank ...«

»Ist Pola krank?«

»Ja, sie hat sich stark erkältet, aber es ist nichts Schlimmes ... Mir geht es auch besser ... He he ... Natürlich, weil es friert. Ich lasse mich nicht dadurch düpieren. Sterben muß ich doch.«

Gordon sah ihn lange an.

»Hören Sie, Stefan, heute sind Sie es nicht allein, der arbeiten wird ... Es wird etwas geschehen, wobei alle Glocken läuten werden ... Draußen hinter der Stadt ... Alle Menschen werden draußen sein ... die ganze Stadt ...«

Wronski horchte auf. Er wurde sonderbar erleichtert.

»Und ich schwöre Ihnen, daß auch nicht ein Schatten Verdacht auf Sie fallen wird ... Übrigens werde ich auf Sie warten hinter der Brücke.«

Ein Gefühl von innigster Dankbarkeit durchströmte Wronski. Er ergriff Gordons Hände und preßte sie heftig in den seinen.

»Sie sind heute fieberfrei«, sagte Gordon. »Sie husten auch nicht mehr.«

»Nein, nein ... Ich habe auch sehr viel Kreosot genommen ... Fieber hab ich auch nicht. Nein, nein ...« Wronski strahlte.

»Das wird eine Illumination geben. Ich wurde nur so mutlos. Ich habe vor ein paar Tagen eine Probe gemacht, die mir mißlang ... Aber damals hatte ich starkes Fieber. Sie mißtrauen mir doch nicht?«

»Nein, Wronski, ich habe nur einen Augenblick gezweifelt; aber ich wußte, daß es Ihnen selbst nicht so recht zu Bewußtsein kam.«

Wronski kam förmlich in eine Verzückung. Seine Glieder bebten, als wären sie selbständige Organismen.

Gordon sah ihn beunruhigt an.

»Haben Sie etwas Cognac?«

»Ja, ja ...«

Sie tranken mit vollen Gläsern.

Wronski beruhigte sich wieder.

»Ich habe alles so eingerichtet, daß Sie unmöglich gefaßt werden können«, sagte Gordon. »Es soll Ihnen nicht ein Härchen gekrümmt werden.«

»Gut, gut ... aber erwarten Sie mich nur! ich muß Sie fühlen da draußen ... Ich muß Sie fühlen; verstehen Sie?«

»Ja.«

Sie schwiegen eine Weile.

Wronski schien allmählich in eine Apathie zu versinken.

Wieder sah ihn Gordon unruhig an.

»Denken Sie noch an die Villa?« fragte er.

»Die Villa?«

Wronski sah ihn an, als wäre er aus einem Traum erwacht.

»Ja, die Villa.«

»Ach ja! Natürlich. Ich habe gestern alles vorbereitet. Alles ist geordnet. Mit meinem Vetter zusammen hab ich es vorbereitet. Licht, Licht soll es geben. Der alte Goethe würde seine Freude daran haben.«

Er schüttelte sich plötzlich wie im Fieberfrost.

»Was ist Ihnen?«

»Nein, nichts! Es ging vorüber.« Er raffte sich fast gewaltsam auf. »Sehen Sie, es ist heute besser mit mir, aber ich fühle ihn näher und näher kommen. Nie habe ich ihn so nah empfunden.«

»Wen?«

»Den Tod! Den Tod! Ich rieche meinen Kadaver, ich sehe mich in Fäulnis übergehen.«

Er schien in der Todesangst zu wachsen.

»Und heute die letzte Freude ... Ich vergesse manchmal auf ein paar Minuten, daß ich sterben soll, und dann bekomme ich Angst, daß mir dies oder jenes schaden könnte. Aber mir kann ja nichts mehr schaden ...«

Er sank auf den Stuhl zurück.

»Man ist nicht normal, wenn man weiß, daß man sterben muß«, sagte er mit einem leisen, kranken Lächeln.

»Kann ich Ihre Schwester sehen?«

»Nein, nein, sie schläft. Lassen Sie das arme Huhn ... ja Huhn ... Haben Sie schon ein krankes Huhn gesehen? Es ist entsetzlich! Das Herz kann einem daran bersten ... Und sie ist krank. Ihr Herz ist krank. Ich glaube, diese Hela Mizerska hat einen fürchterlichen Einfluß auf sie gehabt. Sie spricht nicht, sie ist plötzlich so abgemagert ...«

Wronski brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus, aber nur einen Augenblick.

»Ich liebe sie«, sagte er und sah Gordon mit einem kindlichen, bebenden Lächeln an.

Gordon fühlte von neuem die endlose Einsamkeit und Traurigkeit über sich kommen, aber er raffte sich auf und trank das Glas leer.

»Haben Sie aber einen starken Cognac«, sagte er.

»Ja, nicht wahr? Mein Vetter beschafft ihn mir.«

Sie kamen plötzlich in eine sehr lustige Stimmung. Ganz unvermittelt.

»Mein Vetter ist nämlich für die Güterteilung.«

Sie lachten herzlich.

»Geschickt ist er wie eine Katze, er kann die Wände hinaufklettern.«

Wieder lachten sie über den prachtvollen Witz.

»Er klebt die Flugblätter an die öffentlichen Gebäude an« – Wronski strahlte vor Freude ... »Gestern wäre er beinah gefaßt worden. Er läuft, was er kann. Ein behender Polizist dicht hinter ihm. Da plötzlich duckt mein Vetter sich tief zur Erde, der Polizist fliegt über ihn weg und fällt lang hin aufs Trottoir, als wäre er aus einer Kanone geschossen.«

Sie lachten so, daß Wronski kaum weitersprechen konnte.

»Die ganze Haut vom Gesicht hat er sich an den Steinen abgeschunden.«

»Hat man ihn nicht erkannt?«

»Man weiß kaum, daß er existiert. Er führt ein Leben im Schatten. Ich erwarte ihn übrigens, er soll mir den letzten Bescheid bringen.«

»Ist es wirklich nicht möglich, Pola jetzt zu sehen?« fragte Gordon ganz unvermittelt.

»Nein, nein ... nicht jetzt ... sie schläft.«

Plötzlich öffnete sich leise die Tür, ein Knabe von sieben Jahren trat herein, stellte sich an den Ofen und sah verlegen beide an.

»Was ist denn das?« fragte Gordon.

Wronski wurde verlegen.

»Ich habe ihn vor ein paar Monaten aufgefunden ... Seine Mutter starb, und der Vater ließ ihn betteln gehen ...«

Gordon dachte an den Kanarienvogel. Er wurde unruhig. Er wußte selbst nicht, warum. Sollte Ostap wirklich Recht haben?

Er stand auf.

»Nun auf Wiedersehen, Stefan ... nach der Tat ...«

Er lächelte, nahm ein Goldstück aus der Tasche und gab es dem Knaben.

»Sie lieben Kinder?« fragte Wronski.

»Ja. Sehr. Ich möchte gerne Kinder haben ... Grüßen Sie Pola von mir ... Und ...« er flüsterte leise – »vergessen Sie nur nicht, daß Sie auf das Läuten der Kirchenglocken warten müssen ...«

»Nein! nein!«


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