Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Kaum war aber Gordon zur Tür hinaus, als Wronski aufs neue von einer fürchterlichen Unruhe befallen wurde.

Er versuchte sich zu zerstreuen, spielte und sprach mit dem Knaben, aber es half nichts.

Schließlich begann ihn die Anwesenheit des Knaben zu quälen. Er mußte allein sein, er mußte mit sich selber sprechen. Er schickte den Knaben weg.

Er legte sich auf das Bett.

Er hatte doch Angst, in Fieberträume zu fallen, und stellte die Weckuhr auf neun Uhr ein.

Wenn sie mich nur aus dem Tode aufwecken könnte, dachte er und lächelte. Dann dachte er, was das eine Illumination geben werde! Schade, daß heute nicht sein Geburtstag war. Schade! Aber gut, daß Gordon da stehen würde: wenn er ihn um sich fühlte, werde alles gut sein ... Er sah sich, wie er vorsichtig auf Gordon zuschlich, er sah Gordon bewundernden Blickes zu ihm hinsehen: sein Herz weitete sich.

Aber von neuem fing das Zittern an. Er war ganz verwundert.

Woher nur das verfluchte Zittern? Ich habe doch an etwas ganz anderes gedacht ... Nun! Nur still liegen, dann geht es vorüber ...

Aber es ging nicht vorüber, es wurde nur noch schlimmer.

Das war doch keine Angst! Nicht im geringsten. Gestern noch zitterte er vor Freude, als er an die prachtvolle Illumination dachte ... Er mußte nur seinen Haß wiederfinden!

Er ging genau sein ganzes Leben durch, ein Jahr nach dem andern, ein Jahr voll Armut, Hunger und Entbehrungen nach dem andern; er dachte an die zahllosen Demütigungen, denen er sich aussetzen mußte, als er um den Lebensunterhalt für sich und Pola betteln mußte. Er dachte an den grenzenlosen Jammer und Ekel rings um sich herum, er wurde rasend, aber den Haß von gestern konnte er nicht wiederfinden.

Nun! Dann werd ich mich lehren, ihn bekommen! sagte er rasend. Ich werde mir schon den nötigen Haß beibringen!

Er spie aus – über sich selbst.

Diese Schweinerei! Er war gedemütigt worden, geprügelt mit Worten und Blicken, und jetzt empfand er nicht einmal Haß! Dieser empfindungslose Lump, der er war! He he he ... Wozu nur dieses lächerliche Geschwätz? Wozu brauchte er sich überhaupt vorzubereiten; er werde, er müsse es einfach tun!

Seine Wut gegen sich selbst war so groß, daß er sich nur mit Mühe abhalten konnte, sich ins Gesicht zu schlagen.

Wie er nur dasaß! So zertrümmert und so gebrochen. Und vorhin dies lallende und schluchzende: ich kann nicht!

Er durfte gar nicht weiter daran denken. Übrigens lenkte der Husten seine Aufmerksamkeit ab.

Jetzt aber auch nicht ein Wort mehr!

Er schrie es in sich hinein.

Es war übrigens zu spät zum Nachdenken. Er grinste boshaft über sich selbst. Zu spät. Er wußte nicht, warum es zu spät war, dafür gab es keine Gründe. Jetzt mußte er es einfach tun, und wenn das Herz ihm aus dem Leibe springen wollte ...

Er stand auf, trank und legte sich nieder.

Plötzlich empfand er keine Angst mehr. Er wurde glücklich, daß er nicht weiter an seine Tat zu denken brauchte. Der Entschluß stand fest. Also wozu noch weiter denken?

Aber sonderbar, daß man vierzehn Tage lang fest entschlossen war, etwas zu tun, und dann plötzlich im letzten Augenblick zu schwanken begann ...

Das war die feige Hundenatur, die in ihm die Armut und die Demütigungen erzeugt hatten ... Die Demütigungen, die er Polas wegen hinnehmen mußte. Sollte er Pola verhungern lassen?

Die große Hauptsache ist, sagte er sich, daß man einen Entschluß faßt, daß dieser Entschluß so mächtig wird, daß er einen in die Luft hochheben kann ... Er dachte an den Zauberer Simon Magus, der auch in der Luft schweben konnte. Warum denn nicht?

Ich fühle mich doch deutlich als zwei Menschen, zwei scharf getrennte, von einander himmelweit verschiedene Menschen. Warum sollte nicht der Mensch, der den Entschluß gefaßt hatte, den andern, der vor Angst zittert, tragen können? Der eine von den beiden Menschen ist natürlich Gordons Wille, Gordons Befehl: aber das bleibt ja gleichgültig.

Er lag auf dem Bett. Hin und wieder schrak er auf. Es kam ihm vor, als staute sich das Blut von Zeit zu Zeit in seinen Adern, um erst nach einer Pause den weiteren Weg zu finden. Aber das beunruhigte ihn nicht sonderlich, er war ja daran gewöhnt.

Er hörte die Uhr ticken, ärgerte sich, weil ihm die Schläge nicht ganz regelmäßig vorkamen, strengte sich an, genau zu konstatieren, daß es nicht der Fall war, und fiel wieder in den apathischen Zustand.

Plötzlich bekam er eine besondere Idee.

Wie, wenn er nicht imstande wäre, sich zu erheben? nicht imstande wäre, aus dem Zimmer zu gehen, geschweige sich über die Straßen bis zum Rathaus zu schleichen? ...

Es kam ihm vor, daß er es tatsächlich nicht imstande war. Er rang verzweifelt mit sich selbst. Seine Glieder waren gelähmt. Er fühlte die Beine wie erstorben. Er vermochte die Hand nicht hochzuheben. Die Stubendecke senkte sich allmählich auf ihn herab, sie wurde wie eine fließende Metallmasse, die hin und herwogte, sich zu einer Riesenkugel formte, sich plötzlich hochwarf wie zu einem Anlauf, um mit größter Macht sich auf ihn niederzustürzen und ihn zu zermalmen.

O, Blödsinn! schrie er auf. Das ist ja nur das Fieber.

Er lächelte verächtlich.

Aber er durfte nicht liegen. Er mußte aufstehen und Pola wecken ... Aber wer hatte ihm denn gesagt, daß sie schlief? Woher hatte er nur die fixe Idee bekommen, daß sie schlief? Natürlich schliefe sie nicht ...

Aber er blieb liegen, er hatte im selben Moment vergessen, daß er zu ihr gehen wollte.

Er drehte sich nach der Wand um, die Wand war naß.

Aha! die Pilze, die Pilze!

Er betrachtete aufmerksam die andre Wand.

Nun ist ein Viertel der Wand schimmlig. In einem Monat werden die Pilze über den Tapetenstreifen da kriechen, einen Monat später kommen sie bis zu dem Blumenmuster ...

Er richtete sich erschrocken auf.

»Ah, du bist es, Franz.«

Franz machte vorsichtig die Tür zu.

»Es kommt doch niemand hierher?«

»Nein!«

Franz kam dicht an Wronski heran und flüsterte:

»Alles ist in schönster Ordnung. Du mußt durch die Tür des Wintergartens hineingehen. Der Gärtner ist mit dem Kutscher auf einer Hochzeit. Es ist nur Ulicha da. Zurück kannst du durch die Verandatür. Ich werde auf dich warten und dir alles ganz genau zeigen.«

»Gut, gut!« Wronski sagte es ganz apathisch.

»Willst du es wirklich tun?« flüsterte Franz mißtrauisch.

Wronski wurde rasend, sah Franz wütend an, sagte aber kein Wort.

»Nein ... sei doch nicht so wütend – ich meinte ja nur ... Übrigens ists ja nur ein Kinderspiel.«

»Wie geht es mit den Flugblättern?«

Franz schnalzte mit der Zunge und lächelte.

»Jetzt werd ich sie an die Kirchtürme ankleben ... Hast du etwas zu trinken?«

»Da!«

Wronski sah ihn nach einer Weile gereizt an.

»Es ist doch unglaublich, wie so ein grüner Bengel saufen kann!«

Franz wurde beleidigt.

»Bin neugierig, was du ohne den grünen Bengel anfangen würdest. Du kannst dich ja kaum schleppen! Aber gib mir eine Decke oder so etwas ähnliches, ich friere ... Als es Schnee gab, schneite es hinein, die Dielen wurden ganz naß und sind jetzt zugefroren. Man könnte Schlittschuh laufen ...«

»Lüg doch nicht so unverschämt!«

»Du bist heute so frech, Stefan. Hast wohl wieder einen Rappel im Kopf ... Nun, nichts für ungut. Wir kennen uns ja ... Aber wenn du es nicht tun kannst, so werde ich es selbst tun. Ich werde bis ein Uhr auf dich warten. Dann tue ich es selbst. Auf Wiedersehn!«

»Geh zum Teufel!« schrie ihm Wronski nach.

Er blieb nachdenklich im Zimmer stehen. Wie lange er so stand, wußte er nicht. Er konnte sich auch nicht entsinnen, daß er an etwas gedacht hatte.

Er sah sich um, ging in die Küche und lauschte, öffnete dann vorsichtig die Tür und trat ein.

Pola schlief nicht.

Sie saß im Bett und starrte auf Stefan.

»Wie ist dir, Pola?«

»Oh, besser, besser ... Ich möchte nur Ruhe haben ... Laß mich in Ruhe, Stefan.«

Sie sah ihn flehend an.

»Ja, ja ... Aber du, ich muß weggehen ... Beunruhige dich nicht ... Ich werde in einer oder zwei Stunden zurück sein.«

»Du willst jetzt weggehn? In der Nacht?«

»Nein, nein ... es ist nur über die Straße. Ein Kamerad ist gekommen und schickte nach mir. Es ist nur in dem Hotel am Markt ...«

Er setzte sich mechanisch hin und starrte sie fiebrig an.

»Was ist dir, Pola? Warum bist du so traurig?«

Sie antwortete nicht.

»Willst du, kannst du mirs nicht sagen?«

»Frag nicht! Frag nicht!«

»Ist es Gordon?« fragte er fast atemlos und stand auf.

Sie sah ihn erschrocken an.

»Ist es Gordon?« fragte er zitternd.

»Was, was meinst du?« Sie sah ihn mit wachsender Angst an.

»Verstehst du mich nicht?«

»Nein!«

Er setzte sich wieder hin, nahm ihre Hände in die seinen, streichelte sie liebkosend, dann stand er auf ohne ein Wort zu sagen und ging.

Auf der Treppe betastete er ganz mechanisch seine Taschen.

Herrgott, ich habe ja keine Streichhölzer!

Er kehrte um und blieb wieder lange mitten im Zimmer stehen.

Er erschrak.

Wenn es so weiter geht, werde ich eingesperrt, bevor ich zum Rathaus komme, dachte er verzweifelt. Ich muß jetzt alle meine Kräfte anspannen, ich muß über mich wachen.

Er wurde sehr tätig, suchte unnützerweise sehr lange nach den Streichhölzern, wobei es ihm vorkam, daß er glücklich ein paar Hindernisse überwunden habe, steckte sie ein, überzeugte sich mit peinlichster Sorgfalt, daß er keine Löcher in den Taschen hatte, wollte dann die Lampe auslöschen, besann sich aber sehr lange, obgleich er nicht wußte, warum er sie nicht auslöschen sollte, und ging.

Erst viel später dachte er quälend darüber nach, daß er vergessen hatte, die Tür zuzuschließen.


 << zurück weiter >>