Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

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III.

Wronski war sehr erregt.

Der Mensch scheint mich wirklich für einen Knaben zu halten. Lächerlich! Sie glauben natürlich nicht, daß ich imstande bin, meinen Plan auszuführen. He he ... Sie glauben, ich will mich nur interessant machen.

Er ballte wütend die Fäuste.

Sie sollen es sehen.

Er kam in eine fieberhafte Aufregung. Sein Gehirn war zum Platzen voll, aber die Gedanken zersplitterten sich. Er konnte sie nicht sammeln. Alles, was er dachte, kam ihm wie ein unendlich langer Satz vor, zerrissen durch tausend Bedingungen, tausend Relativitäten ... Er konnte den Satz nicht übersehen. Er merkte nur, daß er beständig nach etwas suchte.

Er blieb mitten im Zimmer stehen und sann lange nach, wonach er eigentlich suchte.

Aha! Wollte er über die Gartenmauer hinüber, so mußte er doch ein Stemmeisen haben, oder so was ähnliches ...

Aber plötzlich vergaß er es ganz und gar. Er hatte sein Gehirn nicht mehr in seiner Macht, er ging an die Tür, schloß sie vorsichtig auf, ein unangenehmes Kältegefühl in den Füßen brachte ihn wieder zur Besinnung.

Die Stiefel, die Stiefel! Er mußte doch die Stiefel anziehen, wenn er ausgehen wollte.

Er suchte nach den Stiefeln, nahm einen Schal, den er sich um den Hals wickelte, und besann sich mit einemmal auf sich selbst.

Aber zum Donnerwetter, bin ich denn verrückt? Was will ich eigentlich machen? An die frische Luft natürlich ... Hier ersticke ich, ich muß ja atmen, einmal ordentlich aufatmen.

Er wiederholte es unaufhörlich. Eine ungewöhnliche Freude, daß er wieder einmal ordentlich aufatmen werde, bemächtigte sich seiner Seele.

Plötzlich stutzte er.

Ja, richtig, er müßte doch an Pola ein paar Worte zurücklassen, daß er bald zurückkommen werde.

Er suchte nach Tinte und Papier, aber von neuem wurde er zerstreut. Als er zu sich kam, saß er auf dem Tisch und hatte das Gesicht in die Fäuste geklemmt.

Er wurde rasend. Er werde doch nicht verrückt werden! So viel Kontrolle besäße er noch über sich selbst, daß er wisse, was er tue.

Er ging hinaus, schlich leise die Treppen hinunter und blieb im Haustor stehen. Es war ganz Frühlingsluft draußen, so mild und so gut. Der frisch gefallene Schnee taute wieder auf.

Er trat auf die Straße. Der Vollmond genierte ihn. Man muß doch unbemerkt bleiben! Er sah sich ängstlich um. Kein Mensch! Er lauschte: es war so ruhig. Kein Laut ...

Er ging quer über die Straße und erreichte schnell den Graben.

Ja, die Weidensträucher waren hoch genug. Sie würden ihn decken. Aber sie warfen den Schatten in den Graben hinein. Er mußte natürlich im Schatten bleiben. Das Gehen wurde sehr mühselig, denn die Böschung war steil und die Erde von dem Tauwetter gelockert. Hin und wieder war er nahe am Fallen, mußte sich sogar einmal auf den Rücken werfen, um nicht kopfüber in den Graben zu stürzen.

Er hielt sich fest an den Weidenästen, war anfangs in großer Angst, daß sie brechen könnten, aber nach und nach überzeugte er sich, daß sie sehr elastisch waren.

So kam er in die Nähe der Brücke.

Er lauschte. Wenn jetzt Menschen über die Brücke gingen, so würde er zweifellos bemerkt werden ...

Wie spät konnte es jetzt sein? Doch nicht über zehn? Nein, nein, unmöglich.

Er wollte weiter gehen, aber er wagte nicht, sich zu rühren.

Da kam ihm eine fürchterliche Idee in den Kopf. Wenn jemand ihn am Ende doch gesehen hatte und ihm leise nachgeschlichen war! Er hatte Fieber, das Brausen in seinem Kopfe verhinderte ihn am Hören.

Aber er beruhigte sich sofort.

Das ist unmöglich! Hab ich Fieber, so sind natürlich meine Nerven schärfer als sonst, und dann müßte ich alles gehört und gesehen haben.

Eine plötzliche Energie erfüllte ihn mit neuer Kraft.

Er schlich sich an die Brücke heran, kletterte auf einen Längsbalken der Pfeilerrüstung, schob sich bis zur Mitte, wo er einen Querbalken vorfand, gelangte mit leichter Mühe auf die andere Seite, stieg herunter, aber nun wurde die Sache bedeutend schwieriger.

Die Ufer des Grabens gingen fast steil herunter, zu beiden Seiten die Mauer der Häuser, so daß sie mit den Ufern eine senkrechte Linie bildeten.

Er drehte sich langsam mit dem Gesichte nach den Mauern zu und schob sich nun mit Hilfe spärlicher Rasenstücke vorwärts.

Da fühlte er seine Kräfte erlahmen, sie verließen ihn mehr und mehr mit jeder Sekunde.

Wenn er jetzt ohnmächtig würde, müßte er unfehlbar in den Graben stürzen.

Er raffte seine letzten Kräfte zusammen, mit verzweifelter Anstrengung gelang es ihm endlich, die Gartenmauer zu erreichen. Hier faßte er festen Fuß, denn die Mauer stieß nicht direkt an den Graben heran. Es war ein ziemlich großer Abstand.

Er atmete erschöpft. Er zitterte an allen Gliedern.

Das könnte er nicht noch einmal machen. Das würde er nicht machen können. In diesem erschöpften Zustand würde er nichts erreichen.

Er wurde sehr traurig. Er mußte sich mit aller Kraft zurückhalten, um nicht loszuweinen.

Er fand einen Stein vor und setzte sich hin.

Nein, das ging nicht! Er mußte unbemerkt durch die Stadt gehen und sich in dem Rathaus einschließen lassen. Die Freude, die Aufregung würde ihm genug Kraft geben ... Ja, ja, dann würde er genug Kraft haben ... He he ...

Da fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf:

Aber mein Gott, bin ich denn verrückt? Hundert Menschen können sich ja auf der Brücke aufstellen und sehen, wie er an den Mauern der Häuser den Graben entlang kriecht, er war ja durch nichts gedeckt. Man konnte ihn ja ganz genau sehen ...

Gott! Gott! war er denn wirklich verrückt, daß er gar nicht daran dachte? War sein Gehirn gelähmt? Blind? Wozu nur die lächerliche Vorsicht, wenn er von der ganzen Welt gesehen werden konnte!

Er zitterte heftig.

Eine Menge Geschichten, die er über die Verbrecher gelesen hatte, wirbelte durch sein Gehirn. Es ist also doch wahr, daß die Verbrecher, trotz der peinlichsten Vorsicht, sich immer durch die dümmsten Dinge verraten. Also ist Verbrechen eine Krankheit, denn beim gesunden Verstande denkt man an so etwas zuerst ...

Er mußte über sich wachen. Er mußte jeden Schritt hundertmal überlegen, er mußte die geringste Kleinigkeit ganz genau untersuchen ...

Er raffte sich zusammen.

Man muß klar und kalt sein: ein abgebröckeltes Stück von der Mauer, das auf den Kleidern hängen bleibt, ist Beweis genug.

Er begann mit zwei Gehirnen zu denken. Er fühlte hinter seiner Gehirntätigkeit noch ein anderes Gehirn fiebern und in Angst erzittern, aber er sprach beständig mit sich selbst und ließ das andere Gehirn nicht durchbrechen.

Nun mußte er die Mauer untersuchen, wo er seinen Fuß einsetzen könnte.

Er tastete mit den Händen und fuhr mit den Fingern die Fugen entlang.

Aber seine Energie schmolz, er wurde wieder zerstreut und so schwach, daß er sich hinsetzen mußte.

Er sank ganz in sich zusammen.

Ich kann ja gar nicht mehr denken. Ich kann ja die grenzenlose Zerstreuung nicht mehr bemeistern. Ich werde mich durch den ersten Schritt verraten und ich werde ergriffen, bevor ich noch etwas gemacht habe. Ich werde gelyncht werden!

Die Idee, daß er gelyncht werde, wurde ihm plötzlich zur Gewißheit. Er sah sich von einer wütenden Volksmenge umgeben. Fürchterliche Faustschläge regneten auf ihn nieder. Er duckte sich, er wollte entfliehen, aber ein wuchtiger Schlag traf ihn ins Genick ...

Er schnellte auf. Er fühlte sich ganz in Schweiß gebadet. Fast sinnlos lief er an die kleine Tür der Gartenmauer und rüttelte an ihr. Sie war geschlossen.

Mit einem Ruck übersah er seine fürchterliche Lage. Alles kam ihm zum Bewußtsein.

Er mußte zurück! Ja. Zurück! Er blieb stehen. Jetzt war er eingeschlossen. Zu beiden Seiten der Gartenmauer sah er die Häusergiebel steil emporragen. Er hatte nicht mehr Kraft, um wieder an dem Graben entlang zurückzukriechen. Jetzt würde er auch sicher gesehen werden.

Er fing an zu lachen, er steckte sich die Faust in den Mund, um nicht laut aufzukreischen, aber von neuem packte ihn die Verzweiflung und die Angst.

Seine Zähne schlugen hörbar aneinander und sein Körper zuckte in Fieberschauern. Er lief rastlos hin und her und sah den Graben an. Es war unmöglich! Er würde sicher herunterfallen und ertrinken.

Er mußte hinüberklettern. Er mußte es! Er biß die Zähne aneinander ...

Er mußte!

Er stieß auf einen großen Stein, der an der Mauer lag. Ohne sich zu bedenken, stieg er auf ihn, schwang sich mit einer unnatürlichen Kraft hoch, bekam die Firstziegel zu fassen ... noch einen Ruck: er saß oben und sprang in den Garten hinunter.

Das Ganze war ihm unbegreiflich. Er verstand nicht, wie es vor sich ging.

Nur den Husten mußte er ersticken. Das machte ihm eine unendliche Mühe. Aber nun erfaßte ihn der Husten mit einer solchen Macht, daß er ihn nicht mehr zurückhalten konnte. Er steckte sich das Taschentuch in den Mund, die Qual drohte ihm alle Adern in dem Gehirn zu zerreißen.

Aber er fühlte keine Angst mehr. Seine Seele war in der Verzweiflung stumpf geworden.

War es noch nicht zehn Uhr, so würde er durch den Korridor des Rathauses auf die Straße hinauskommen. War es später, so mußte er klopfen. Das war ja klar; er konnte nicht die ganze Nacht im Garten bleiben. Nun war es ja gleichgültig, was er machte.

Aber trotzdem behielt er die Vorsicht, sich im Schatten zu halten.

Die Tür des Rathauses nach dem Garten zu war nicht geschlossen. Es kam ihm so selbstverständlich vor, daß sie nicht geschlossen war. Als er aber in den langen Korridor kam, packte ihn die Angst.

Im Erdgeschoß wohnte ja der Gerichtsdiener ... Wenn er jetzt plötzlich herauskäme, würde er verloren sein ...

Da erinnerte er sich, daß ja Ostap im Rathaus wohnte, aber mit Ostap war er verfeindet. Nun ... schlimmstenfalls könnte er ja nach ihm fragen.

Er schlich auf den Zehen, er wagte nicht zu atmen, ein neuer Hustenanfall würgte ihn qualvoll ... Er hörte hinter einer Tür ein lautes Gespräch, verlor plötzlich die Selbstherrschaft, hustete laut, erschrak heftig, seine Schritte dröhnten ihm im Kopf wie Donnerstöße ...

In demselben Augenblick öffnete sich die Tür. Von der Straße flutete helles Gaslicht herein. Er prallte entsetzt zurück.

In der Tür sah er Ostap stehen.


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