Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

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V.

Ostap ging wieder hinauf, stellte die Lampe auf den Tisch und legte sich aufs Sofa. Nie hatte er sich trauriger und einsamer gefühlt. Er hatte ein physisch quälendes Gefühl der Einsamkeit, er konnte sich nicht vorstellen, daß irgend etwas um ihn existiere. Als wäre alles in ihm gebrochen.

Er fiel ganz zusammen.

Nun gab es keinen Menschen auf der Welt, keinen, den er nicht haßte! Er war losgerissen von der Welt und von den Menschen ... Was hatte er überhaupt mit Menschen zu tun? Warum sollte er auch nicht das machen, was sie von ihm verlangten? Er fühlte, daß er ebenso gleichgültig und selbstverständlich Gordon töten, wie den Diebstahl der Stadtkasse arrangieren würde ...

He he ... Das letzte wird aber die Menschheit mehr ärgern! Würde ich Gordon töten, so würde ich ihr nur eine Wohltat erweisen.

Na ja!

Er merkte, daß er jeden Augenblick seine Gedanken mit einem stumpfen Na ja! unterbrach ...

Er erzitterte plötzlich. Eine bebende Unruhe ließ ihn nicht eine Sekunde still sitzen. Er lief ratlos umher. Es war ihm, als müßte er notgedrungen an etwas denken, aber er wagte es nicht.

Wie eine Erlösung schoß es ihm durch den Kopf, daß er ja beim Bürgermeister eingeladen war.

Er wollte eigentlich nicht hingehen, aber jetzt war er fast glücklich über die Einladung.

Es war erst elf Uhr. Er konnte ruhig noch hingehen.

Er blieb nachdenklich stehen und überlegte.

Warum sollte er denn nicht hingehen? Er würde eine Nacht totschlagen, und das wäre gut! Das wäre sehr gut! Das wäre eine Wohltat!

Er ging langsam und nachdenklich die Treppen hinunter, blieb dann aber wieder lange stehen, bevor er die Tür aufschloß.

Ob er nicht doch lieber zurückgehen sollte? Was sollte er eigentlich bei dem dummen Bürgermeister?

Aber das düstere, höhnische Gefühl der Einsamkeit stellte sich von neuem und noch viel stärker ein. Dort würde wenigstens Licht sein, dort hörte man Menschen schwatzen, diese dummen, albernen Bestien!

Schon von weitem sah er das Haus des Bürgermeisters festlich erleuchtet.

Gordon natürlich auch da! He he, bei seinem Onkel zu Gast!

Er lächelte höhnisch.

Nun! Der liebe Onkel sollte noch helle Freude an seinem Neffen erleben ... Ha ha ha ...

Als er eintrat, sah er eine Gruppe von Herren lebhaft debattieren. Der Bürgermeister war sehr erregt und fuchtelte mit den Händen, sah aber Ostap eintreten.

»Ah, ah! Da haben wir unsern Herrn Ostap. Warum denn nur so spät?«

Ostap entschuldigte sich, während der Bürgermeister ihm herzlich die Hand drückte.

»Wir haben soeben über Sie gesprochen. Mein Neffe Gordon ...«

»Nun laß doch, Onkel« – Gordon lächelte – »Ostap weiß ganz genau, was ich von ihm halte.«

»Ja, ja, natürlich! Ihr seid doch die besten Freunde. Es ist ein Glück für unsere Stadt, daß sie eine solche Jugend sozusagen auferzogen hat ...«

Der Bürgermeister klopfte beiden vertraulich auf die Schultern.

Alle sammelten sich um einen jungen Priester, der vor Empörung stotterte.

»Sehen Sie, meine Herren!« – Er zeigte ein Blatt bedruckten Papiers. – »Sehen Sie! dies schändliche Zeug ... Es wurde in tausenden von Exemplaren hier in der Stadt verteilt ... Es ist die unverschämteste Lüge, die ich jemals gelesen habe ... Es ist eine Schande – eine ... eine ... Hören Sie nur! 'Ein offener Brief an das arbeitende Volk vom Gottespriester Peter Sciegienny!' Sie wissen vielleicht, daß dieser unglückliche, verirrte Priester von den Russen nach Sibirien geschickt wurde ... Dort ist er vor langen Zeiten gestorben ... Jetzt haben die Lumpen seinen Namen gefälscht! Hören Sie nur, was hier steht ... Die unverschämteste, frechste Aufreizung zum Klassenhaß, die man sich nur denken kann. Die Arbeiter werden zu Gewalttätigkeiten aufgefordert ... Die Arbeiter sollen mit Gewalt das erreichen, was ihnen zusteht – sie sollen kein Mittel scheuen, um ihre Aussauger – damit sind wir natürlich gemeint – zu massakrieren ... Die Priester werden hier Lügner und Tagediebe genannt, die die Arbeiter wie Opfertiere dem unersättlichen Kapitalismus zuführen ... Denken Sie sich die Schamlosigkeit, mir dies Zeug mit der Post zuzuschicken! Ich bekomme übrigens jeden Tag anonyme Briefe, in denen mir Mord und Gewalt angedroht wird, wenn ich nicht aufhöre, gegen die unmenschliche Ausgeburt unserer Gesellschaft zu predigen ...«

Das Flugblatt wanderte von Hand zu Hand..

»Das ist ein sehr ungeschicktes Machwerk«, sagte Gordon gleichgültig. – »Ich glaube nicht, daß die Seele auch nur eines einzigen Arbeiters Schaden daran nehmen könnte.«

»Sie unterschätzen die Wirkung« – der Priester sprach sehr eifrig – »Sie unterschätzen das alles vollkommen. Je gröber und roher die Mittel, desto stärker die Wirkung. Das Flugblatt ist überall angeklebt. Ich selbst habe es heute von der Kirchentür weggerissen ...«

»Ja, es ist keine Frage, daß unsere Stadt ganz besonders von dieser Pest angesteckt ist ... Man kommt fortwährend damit in Berührung!« warf ein junger Rechtsanwalt ein.

Der Bürgermeister wurde ganz verzweifelt.

»Aber was soll man denn machen? Denken Sie sich doch nur, meine Herrn, wie die Sache liegt! Man sollte doch meinen, daß in einer Stadt von zehntausend Einwohnern die Verhältnisse so durchsichtig sind, daß man ohne weiteres die Agitatoren auffinden könnte. Aber es ist unmöglich! Kein Mensch hat den Schuldigen oder vielmehr die Schuldigen gesehen!«

»Von Außen wird nichts zugeschickt«, bemerkte der Postmeister. »Ich lasse alle verdächtigen Sendungen öffnen.«

Der Bürgermeister war ganz erschöpft und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich bin ganz verzweifelt, meine Herrn. Das Volk ist aufgewiegelt, es fängt an, frech zu werden. Es beruft sich auf die Löhne der Arbeiter in der Schweiz. Jeden Augenblick werfen die Arbeiter die Arbeit nieder. Das Volk hat keine Achtung vor den Vorgesetzten, vor der Religion, keine Angst vor der Strafe ... Gestern hat ein Arbeiter dem Arbeitsaufseher den Schädel mit dem Spaten entzwei geschlagen ... Nun munkelt man von einem großen Streik in der Zuckerfabrik ...«

Der Bürgermeister stöhnte und setzte sich hin. Die ganze Gesellschaft schien lebhaften Anteil an seinem Kummer zu nehmen. Das andächtige Schweigen wurde endlich von dem Priester unterbrochen.

»Selbst die Jugend in der Schule ist verpestet. Mindestens ein Viertel von den Bengeln sind Atheisten. Die frechsten wurden ausgewiesen, die andern sind nun vorsichtig geworden. Aber ich weiß, daß ein paar Exemplare von Büchner, Strauß und Renan von Hand zu Hand zirkulieren ... Sie können sich nicht vorstellen, welche Fragen die Jungens mit der frechsten und unschuldigsten Miene der Welt an mich stellen ... Nun! Ich werde nicht eher ruhen, bis ich die Böcke von den Schafen gesondert habe!«

»Aber das ist doch sonderbar«, bemerkte Gordon, »daß man nichts über die unsichtbare Quelle erfahren kann. Diese Verschwörer pflegen doch sonst sehr dumm und unvorsichtig zu Werke zu gehen.«

»Im allgemeinen – ja!« – Der Rechtsanwalt fühlte sich sehr wichtig.

»Aber Sie müssen bedenken, daß wir es hier offenbar mit sehr gewiegten und routinierten Verbrechern zu tun haben. Das Wahrscheinlichste ist, daß sie hier in der Stadt als Arbeiter verkleidet und unkenntlich sind. Natürlich verstehen sie, sich ganz ausgezeichnet zu maskieren. Ich würde die Schuldigen grade unter den scheinbar dümmsten Arbeitern suchen.«

»Ja, das ist eine ganz ausgezeichnete Idee!« bemerkte Gordon.

»Diese dummen und dümmsten Arbeiter« – der Rechtsanwalt fuhr weiter fort – »empfangen die Proklamationen wahrscheinlich an früher verabredeten Stellen und verstehen sie nun geschickt und unsichtbar anzubringen. Ich habe mir die Herkunftsakten der Arbeiter bringen lassen, aber leider ist daraus nichts zu ersehen. Es ist ein aus aller Herrn Länder zusammengewürfeltes Pack ...«

Es wurden Spieltische gebracht. Die Gruppe zerstreute sich.

Ostap ging in das andere Zimmer. Er sah Hela und Pola bei einander sitzen. Sie sprachen und lachten mit einander. Hela schien aber Ostap zu erwarten, denn sie kam gleich auf ihn zu.

»Ich höre, du warst sehr krank nach dem Unfall bei mir.«

»Nein! Ich war nicht krank. Es war einer meiner gewöhnlichen Anfälle, die ich zu Zeiten bekomme.«

Ostap bekam plötzlich eine unüberwindliche Lust zu gähnen, beherrschte sich aber mit großer Mühe. Er war übrigens sehr zerstreut und suchte immer etwas mit den Augen.

»Ich habe dich noch nie so gesehen, wie heute«, sagte Hela leise. »Fehlt dir etwas?«

»Mir? ... Nein! Ich bin nur sehr müde ...«

Er sah sich gleichgültig und abwesend um.

»Ja, richtig! Nimm mir meine letzte Visite nicht übel. Ich hoffe, du hast es verstanden, daß alles nur eine Krankheit war ...«

Er schwieg eine Weile.

»Ich liebe dich übrigens nicht mehr«, sagte er plötzlich und gähnte.

Mit einem Mal sah er sich erschreckt um.

»Hab ich etwas gesagt?«

Hela sah ihn mit wachsendem Erstaunen an.

»Geh nach Hause!« sagte sie eindringlich. »Du bist ja krank. Du bist blaß wie ein Laken.«

»Bin ich?«

Er sah sie gehässig an und lachte dann mit einemmal auf, kehrte ihr den Rücken und setzte sich in eine Ecke.

Hela blieb blaß und zitternd stehen.

Er wurde rasend. Stand auf und flüsterte ihr boshaft zu:

»Geh doch zu Gordon! Dort steht er und wartet auf dich!«

Er setzte sich wieder hin und sah zerstreut die Gäste an. Er sah nicht einmal, daß Gordon auf ihn zukam und ihn unruhig anstieß.

»Geh doch! Du fällst auf!« Gordon sprach sehr unruhig. – »Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Warte auf mich bei Paetzel. In einer Stunde werde ich kommen. Sag, daß du nicht wohl bist und nach Hause gehen mußt.«

Ostap sah Gordon fast boshaft an. Er antwortete kein Wort, aber nach einer Weile erhob er sich und ging.

Er hatte das Gefühl, als wäre der ganze Himmel auf ihn heruntergefallen ... Das Gefühl einer tödlichen Apathie. Am Ende war ja doch alles gleichgültig.

Er sah noch ein paar Minuten dem Spiel zu, ging von einem Spieltisch zum andern, und als er merkte, daß niemand auf ihn Acht gab, verschwand er.

Gordon beobachtete ihn verstohlen.

»Warum hast du ihn weggeschickt?« hörte er plötzlich Hela flüstern. Ihre Augen funkelten in verbissener Wut.

»Es ist nicht gesund für ihn, sich in deiner Nähe aufzuhalten.«

Er lächelte still und sah sie an.

»Er ist krank«, sagte er nach einer Weile – »er ist kränker, als du glaubst. Er hat die Angst verloren, und das ist die gefährlichste Krankheit.«

Er sah sie plötzlich aufmerksam an.

»Warum haßt du mich?« fragte er. »Du hast mir die höchste Beleidigung zugefügt, die man einem Manne zufügen kann ...«

Er trat zur Seite, um den Tanzenden nicht im Wege zu sein.

»Du hast mir alle meine Pläne mit Pola zerstört ... Ich hätte bei ihr Ruhe finden können ... Das alles hast du gemacht, und ich hasse dich nicht ...«

Er sah Pola drüben an einer Tür stehen und ihn mit einem kranken, leidenschaftlichen Schmerz anstarren.

Gordon stutzte. Ein tiefes Gefühl von Mitleid wühlte seine Seele auf. Nie hatte er von Pola einen so mächtigen Eindruck empfangen. Er sah Hela wütend an.

»Warum hast du die Seele dieses Kindes zerstört? Warum hast du ihr Leben vergiftet? Bist du so sehr Weib, daß du das tun mußt?!«

Hela sah ihn die ganze Zeit starr an, ohne nur ein Wort zu sagen. Aber plötzlich zuckte sie mit den Achseln und sagte verächtlich:

»Langweiliger Schwätzer!«

Gordon verbeugte sich freundlich, sah sich um und ging dann zu Pola.

Pola sah ihm beständig starr in die Augen, abwehrend, fast wegwerfend.

»Hör, Pola, wenn du gehst, so laß mich dich begleiten. Ich habe dir etwas sehr, sehr Wichtiges zu sagen.«

»Ich will nicht mit Ihnen gehen. Ich will nicht mit Ihnen sprechen.«

»Du mußt!«

Gordon sah sie durchdringend an.

»Du mußt! Ich werde dich nie wieder belästigen. Nie wieder. Nur das eine, wenn du willst, das letzte Mal ...«

Der Tonfall seiner Stimme war fast flehend. Er sah ihr Gesicht leicht aufzucken und die Lippen sich krampfhaft verziehen wie bei einem Kinde, das losweinen will.

»Ich flehe dich an, Pola« – er sprach innig und leidenschaftlich – »Ich muß mit dir sprechen.«

Sie spielte nervös mit ihrem Fächer, faßte sich plötzlich, und ohne zu antworten mischte sie sich unter ein paar junge Mädchen, die lebhaft mit einander sprachen und kicherten.

Es war grade eine Tanzpause.

Gordon wurde traurig und blaß. Er sah stumpf in den Saal hinein und begegnete Helas Augen, die ihn mit boshafter Wut anstarrten.

Er ging in das andere Zimmer und setzte sich neben seinen Onkel, der ihm freundlich zublinzelte: er hatte grade prachtvolle Karten bekommen.

Plötzlich hörte er ein krampfhaftes Gelächter. Es entstand eine große Verwirrung, ein paar Mädchen kamen schreiend hereingelaufen ... er sprang auf: er sah Pola auf dem Sofa sich in hysterischem Lachen winden, das dann in keuchendes Schluchzen umschlug.

Gordon bekam einen furchtbaren Schreck. Er nahm Pola auf seine Arme, faßte ein Glas Wasser, das ihm jemand reichte, gab ihr zu trinken und benetzte ihre Stirn und Schläfe.

Pola biß die Lippen aneinander. Sie schien verzweifelt mit einem neuen Anfall zu kämpfen. Aber es ging vorüber.

»Ich werde Fräulein Pola in meinem Schlitten nach Hause bringen«, sagte Gordon bestimmt.

Es war ihm so entsetzlich gleichgültig, was man über sein Verhältnis zu Pola denken mochte.

Pola sah ihn verwirrt an, wagte aber nichts zu erwidern. Seine Worte kamen ihr wie ein Befehl vor.

Niemand hatte übrigens etwas dagegen einzuwenden, nur Hela stand blaß wie ein Tuch da.

Gordon fühlte, wie sie jede seiner Bewegungen gierig verfolgte, aber er vermied es, sie anzusehen.


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