Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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IX.

Sowie der Tag von Frau von Wernbergs Kommen feststand, schrieb Thekla an die alte Dame und bat sie, daß sie bei ihr wohnen möchte. Zwar könne sie in dem kleinen Hause nicht viel bieten, doch wolle sie versuchen, alles so bequem wie nur möglich herzurichten.

Die Excellenz ließ ihr durch Leo danken für das freundliche Anerbieten, sie könne jedoch keinen Gebrauch davon machen, da sie sich bei einer ihr befreundeten Familie bereits zum Wohnbesuch angesagt habe.

Thekla war aufrichtig betrübt über diese Ablehnung. Wäre es ihr vergönnt gewesen, die alte Dame mit kindlicher Sorgfalt und Liebe zu umgeben, dann hätte sie sich schon getrauen wollen, allmählich auch den Weg zu ihrem Herzen zu finden, der ihr bisher hartnäckig verweigert worden war.

»Wer sind denn die Freunde, bei denen deine Mutter wohnen wird?« fragte Thekla ihren Bräutigam.

»Ach, eine Familie Kalkmeyer! Er ist Geheimrat und Mitglied des Kultusministeriums. Meine Mutter schätzt die Leute sehr hoch. Ich habe ein schlechtes Gewissen ihnen gegenüber; habe sie lange nicht besucht und ihnen neulich sogar eine Einladung zu Tisch ausgeschlagen. Es mögen ja ganz gute Menschen sein, wenn sie nur nicht 367 so furchtbar fromm und tugendhaft wären! Evangelische Heilige sage ich dir! Die eine Tochter ist an einen Pastor verheiratet, die andere ist selbst einer. Ich saß einmal neben ihr bei Tisch, da bekam man das Gefühl, als sei man Kandidat der Theologie im Examen. Ausgequetscht geradezu hat mich diese Marie Kalkmeyer über meine Stellung zu allerhand kirchlichen Fragen. Ich fürchte, ich habe sehr schlecht bestanden. Schrecklich war's! Außerdem wird in dem Hause miserabel gegessen. Warum nur, kannst du mir das sagen, Thekla, müssen sich alle frommen Menschen immer so schlecht anziehen?« –

»Ich kenne die Familie!« erwiderte Thekla. »Ich habe mit Marie und Helene Kalkmeyer in einer Klasse gesessen.«

»Marie Kalkmeyer sieht um zehn Jahre älter aus als du. Seid ihr wirklich ein Jahrgang? Danach wäre also die Frömmigkeit nicht mal ein Konservierungsmittel! Die Dame pocht gewaltig auf ihre Tugend. Ich glaube, niemand hat jemals die Absicht gehabt, sie ihr zu rauben. Kennst du sie genauer?«

»Nach der Schulzeit habe ich Marie nur flüchtig in Gesellschaft wiedergesehen. Aber wir kennen uns. Es ist ein sehr eigentümliches Zusammentreffen, daß deine Mutter gerade dort wohnen muß.«

»Meine Mutter hat ein Faible für die Orthodoxie. Bei frommen Leuten sieht sie über alle Dehors hinweg. Sie hat, wenn sie hier gewesen ist, immer bei den Kalkmeyers gewohnt. Und ich muß dann in den sauren Apfel beißen, dort mindestens einmal zu Abend zu essen. Thee, kalter Aufschnitt, und harte Eier mit Sardellen belegt. Dazu religiöse Gespräche! Ich sehe schon die spitze Miene von Fräulein Marie, wenn sie mir bemerkbar machen wird, daß ich immer nur dann komme, wenn 368 meine Mutter bei ihnen wohnt. Du wirst auch die Kalkmeyers besuchen müssen, Thekla; meine Mutter wird das verlangen.«

Nun erst, wo sie erfahren hatte, daß sie bei den Kalkmeyers absteigen wolle, war der Gedanke, Leos Mutter nicht bei sich haben zu sollen, für Thekla bitter geworden. Gerade bei denen! Schwerlich würde Maries Gesinnung sich freundlicher gestalten gegen Leo Wernbergs Braut, als sie gegen die Klassengenossin gewesen war.

Thekla begab sich zum Empfange der Excellenz auf den Bahnhof. Marie Kalkmeyer war da. Die beiden Mädchen begrüßten sich. Marie beglückwünschte Thekla zur Verlobung. Die Art, wie sie das that, versetzte Thekla um zehn Jahre zurück. Das süßsaure Lächeln, die hochmütige Miene, der vorwurfsvoll spöttische Blick schienen sagen zu wollen: ›Bilde dir nur nicht zuviel ein! Ich kenne dich, du bist hoffärtig! Mit mir, mit Marie Kalkmeyer, darfst du dich doch nicht vergleichen!‹ –

Als die Excellenz ankam, wurde sie von Marie sofort mit Beschlag belegt. Es kam Thekla vor, als sei der Kuß, den die Tochter des Ministerialrats von der alten Dame erhielt, wärmer, als die flüchtige Umarmung, die ihr selbst zu teil wurde.

Frau von Wernberg verbrachte den ersten Abend bei den Kalkmeyers. Am nächsten Vormittage erst kam sie zu Thekla.

Thekla empfand eine gewisse Genugthuung bei der Aussicht, Leos Mutter in ihrem Hause empfangen zu können. Die Excellenz ließ sich jeden einzelnen Raum zeigen; sie sagte nicht viel. Sie musterte die Möbel, die Bilder, alles mit jenem ihr eigenen kühlen Blicke; ein Blick, in dem viel Klugheit lag, viel Menschen- und Weltkenntnis, aber keine Liebe.

369 Später kam auch Leo hinzu. Er überreichte Thekla Blumen, ohne die er niemals kam, und fragte: »Nun, ist die Besichtigung der Cottage überstanden? Es heißt zwar, ›Raum ist in der kleinsten Hütte‹ . . . aber ich fürchte, ich fürchte, wir werden uns sehr klein machen müssen, wenn wir hier als ›glücklich liebendes Paar‹ leben sollen.«

Er tauschte mit seiner Mutter einen Blick des Einverständnisses. Thekla sah ihren Bräutigam vorwurfsvoll an; sie nahm jedes Wort, das gegen ihr geliebtes Häuschen gesagt wurde, als persönliche Kränkung.

Wernberg bemerkte, daß ihr die Thränen in den Augen standen. Er lenkte ein: »Nun, nun, Herzchen, das braucht ja heute nicht gerade entschieden zu werden.«

Am selben Tage noch machte Frau von Wernberg in Theklas und ihres Sohnes Begleitung den schuldigen Besuch bei Sängers. Theklas Mutter war darauf vorbereitet. Auch der Finanzrat war da. Wernberg, der ihn kannte, machte den wohlgemeinten Versuch, ihn bei Seite zu ziehen; aber leider mißlang das. Sänger ließ es sich nicht entgehen, wo er eine Excellenz im Hause hatte, zu zeigen, daß er ein Mann von Welt sei. Sofort setzte er sich neben Frau von Wernberg und vereitelte so den eigentlichen Zweck des Besuches, daß die beiderseitigen Mütter sich aussprechen sollten. Er redete auf sie ein, in jenem burschikos vertraulichen Tone, den er für das Wesen hielt der Intimität, »wie sie zwischen vornehmen Leuten selbstverständlich ist.« –

Je zuthunlicher er wurde – was sich durch immer näheres Heranrücken an den Gast ausdrückte – desto eisiger wurde die Excellenz. Frau Sänger kam gar nicht zur Geltung. Thekla saß wie auf Kohlen, schlimmer hätte es gar nicht gehen können.

370 Frau von Wernberg erhob sich zeitig, worüber Sänger sehr erstaunt war. Theklas Mutter brachte etwas überstürzt noch eine Einladung vor: Ihre Excellenz möge doch einen Tag bestimmen, wo sie mit dem Brautpaare bei ihnen essen wolle. Leos Mutter erklärte, daß sie den Kalkmeyers bereits zugesagt habe, jeden Tag bei ihnen zu speisen.

Der Abschied, den man von einander nahm, stand unter dem Eindrucke dieser bündigen Ablehnung.

* * *

Frau von Wernbergs Besuch war auf fünf Tage berechnet. Thekla konnte es nun doch nicht umgehen, das Kalkmeyersche Haus aufzusuchen, obgleich sie nichts dorthin zog.

Sie traf die Excellenz in Gesellschaft von Marie Kalkmeyer. Das Gespräch wollte schwer in Fluß kommen. Was sollte man auch sagen, wo Maries Augen beständig auf der Lauer lagen! –

Dann kam die Rede auf Fräulein Zuckmanns Institut. Marie Kalkmeyer fing selbst davon an. Es war ihr bekannt, daß Thekla das Unternehmen unterstützte. Sie müsse das bedauern, meinte Marie, denn der Ruf der Zuckmannschen Töchterschule sei neuerdings kein guter.

Thekla verteidigte das Institut mit Wärme. Wenn sie das Unternehmen unterstützt habe, so sei es geschehen, um eine Schuld abzutragen. Sie erinnerte Marie daran, daß auch sie der alten Lehrerin Dank schuldig sei.

Maries spitze Nase schien noch spitzer zu werden. In ihrer Art, von oben herab, erwiderte sie: »Ich bin 371 allerdings niemals mit der Zuckmann einverstanden gewesen, schon als ihre Schülerin nicht. Meine Schwester Helene und ich sind uns immer klar gewesen, daß in sittlicher Beziehung dort laxen Tendenzen gehuldigt wurde. Und der Beweis, wie richtig wir damals beobachtet haben, ist längst erbracht. Ist dir vielleicht der Stundenplan der Zuckmannschen Töchterschule bekannt?«

Thekla bejahte die Frage.

»So! Dann wundert es mich allerdings sehr, daß dir nichts daran aufgefallen ist!« Mit dem nächsten wandte sie sich an Frau von Wernberg. »Denken, Excellenz, in der betreffenden Schule findet nur dreimal in der Woche Religionsunterricht statt, während man für die Naturwissenschaften vier Stunden übrig hat. In meinen Augen ist ein solcher Lehrplan gerichtet. Ein Zeichen der wachsenden Glaubenslosigkeit unserer Zeit. Aber, ich weiß ja überhaupt nicht, Thekla, wie du zu der großen Frage stehst! – Ich halte es für meine Pflicht, da wir Schulfreundinnen sind, dich auf die Gefahr der Mißdeutung hinzuweisen, in die du dich begiebst, wenn du ein solches Unternehmen unterstützt.«

Thekla erwiderte darauf nichts weiter, als: Fräulein Zuckmann habe Feinde, sie halte sich einfach an das, was sie selbst von ihr wisse.

Im übrigen nahm sie den Fehdehandschuh, den ihr Marie hingeworfen hatte, nicht auf. Vor Frau von Wernberg sich in eine Auseinandersetzung einzulassen, die nur häßlich ausfallen konnte, wäre unpassend gewesen. Sie war froh, als sie sich verabschieden durfte. Eine Einladung, die sie im stillen befürchtet hatte, war von Kalkmeyerscher Seite nicht erfolgt.

Auf Leos Wunsch machten Thekla und die Excellenz in den nächsten Tagen gemeinsam eine Anzahl Besorgungen 372 für die Ausstattung. Thekla hatte von Ellas und Agnes Ausstattung her die Erinnerung: wie wenig erquicklich im allgemeinen solche Gänge sind, und hegte darum im Geheimen einiges Bangen, wie es diesmal gehen würde. Aber alles wickelte sich viel besser ab, als sie gedacht. Frau von Wernberg hatte drei Töchter ausgestattet, besaß also Erfahrung. Außerdem fügten sich einer Frau von so offenkundiger Überlegenheit die Verkäufer und Verkäuferinnen ganz von selbst. Thekla sah ein, daß auch sie nichts Besseres thun könne, als ihrer Schwiegermutter in diesen Dingen blindlings zu folgen. Überhaupt wollte sie sich ja gern fügen. Es kam ihr vor, als sei es keine Schande, sich unterzuordnen, wo man bewunderte.

Einen Punkt gab es, der ihr Unruhe bereitete: Frau von Wernberg war offenbar dagegen, daß das junge Paar Theklas Haus beziehe. Mit Worten ausgesprochen hatte sie das bisher zwar nicht, aber es ging zur Genüge aus ihrem Verhalten hervor.

Wenn sich nun Thekla auch willig jedem Wunsche ihrer Schwiegermutter fügen wollte, hierin, das fühlte sie, konnte, ja durfte sie nicht nachgeben. Für Leo und für seine Mutter war ihr Haus eben ein gewöhnliches Haus; für sie, für Thekla, war es das Erbteil Tante Wandas. Es war ferner die Stätte, an die sie bereits manches eigene Erlebnis wie mit unsichtbaren Ketten band. Wie hätte sie diese teuren Räume jemals mit einer Mietswohnung vertauschen mögen, mochte diese auch schöner, bequemer und geräumiger sein!

Über diesen Punkt, das hatte sie sich vorgenommen, sollte Klarheit geschaffen werden, und zwar noch ehe die Excellenz wieder abreiste. Es war schon deshalb notwendig, weil Leo bereits von Anschaffung neuer Möbel gesprochen 373 hatte; und man mußte die Einrichtung doch den Räumen anpassen, in die sie kommen sollte.

Einige Stunden vor ihrer Abreise kam Frau von Wernberg verabredeterweise noch einmal zu Thekla, um mit ihr eine Anzahl Geschäftsofferten und Ausstattungskataloge durchzugehen. Als das erledigt war, begann Thekla ohne weiteres von dem, was ihr auf dem Herzen lag. Sie sagte, daß es ihr unmöglich sei, dieses Haus aufzugeben, und bat, daß man ihr doch hierin ihren Willen lassen möchte.

Frau von Wernberg hatte sie ausreden lassen, dann sagte sie gelassen, das seien: »Mädchenideen«. Hier komme es darauf an, das Praktische zu thun. Das Haus liege ungünstig für Leo; er müsse durch die ganze Stadt, um zu seinem Ministerium zu gelangen. Vor allem aber sei es zu klein. Wo solle zum Beispiel Leos Zimmer eingerichtet werden? Das Eßzimmer wäre völlig ungenügend; sie könnten nicht mehr als vier Menschen placieren. Und Leo sei es seiner Stellung schuldig, Leute bei sich zu sehen. Dienstboten würden sie kaum logieren können, ohne anzubauen. Das Häuschen reiche aus für ein altes Fräulein, aber nicht für ein junges Paar, das eine gewisse Rolle spielen wolle.

Thekla fühlte das Gewicht dieser Gründe wohl; im Grunde hatte sie sich Ähnliches auch schon gesagt. Aber was war das alles gehalten gegen ihren Herzenswunsch? – Es handelte sich doch nicht allein um das »Praktische«, sondern um das Glücklichwerden. Und sie wenigstens würde sich in anderen Räumen, als in diesen, niemals glücklich fühlen können.

Ein spöttischer Zug legte sich um Frau von Wernbergs Mund, als sie den Eifer sah, mit dem Thekla ihre Sache verfocht. »Wenn Leo nun versetzt würde, was ihm als 374 Beamten jeden Augenblick passieren kann, dann würdest du also nicht mit ihm gehen, weil du dein Haus verlassen müßtest?« – fragte sie.

»Natürlich würde ich mit Leo gehen, weil es dann Notwendigkeit wäre! Aber so lange es angeht, möchte ich doch, daß er mir zu Liebe thut, was möglich ist. Mir zu Liebe soll er's thun, darauf kommt's an!«

Die alte Dame zuckte verächtlich mit den Achseln. »Das ist sentimental gedacht! Ich glaube nicht, daß du damit bei Leo durchdringen wirst.«

»Das glaube ich doch, denn er liebt mich!«

»Glaube mir, mein Kind, die Ehe beruht auf anderen Grundlagen noch als auf der Liebe.«

»Mag sein! Aber Liebe scheint mir das Große dabei und das Wichtige. Und wenn man sich liebt, muß man auch im stande sein, ein Opfer zu bringen.«

»Gut, Thekla! Dann bringe du das Opfer!«

»Warum ich? Verliere ich doch viel mehr, wenn ich mein Haus aufgeben muß, als Leo jemals dadurch gewinnen kann!«

»Nun, es giebt soetwas wie Unterordnung der Frau unter den Willen des Mannes!« sagte jetzt die Excellenz, nicht mehr so ruhig wie vorher. Theklas ungewohnter Widerspruch verdroß sie. »Und außerdem scheint es mir nur gerecht, wenn in solcher Frage derjenige Teil nachgiebt, der sowieso, wie mich dünkt, gut, wenn nicht am besten fährt.«

»Das verstehe ich nicht!« rief Thekla. Und das war nicht etwa von ihrer Seite Verstellung; sie verstand Frau von Wernbergs Gedankengang in der That nicht.

»Sehr einfach zu verstehen!« sagte die alte Dame, die ihre Fassung wieder ganz gewonnen hatte. »Ich werde es dir erklären, Thekla, da du dir selbst nicht zu sagen 375 vermagst, was so nahe liegt. Leo ist mein Sohn, aber deshalb kann ich doch aussprechen, was ich von ihm halte. Du heiratest keinen gewöhnlichen Mann. Solltest du es noch nicht wissen, so laß es dir hierdurch gesagt sein, daß es eine Ehre ist für dich, wie es für jedes Mädchen eine Ehre wäre, Frau von Wernberg zu werden. Im übrigen will ich nicht abschätzen und wägen! Ich meine, du hast ein gutes Loos gezogen. Du solltest zufrieden sein, Thekla, und dankbar!«

»Aber ich bin doch auch etwas!« stieß Thekla hervor, zu deren Füßen es sich wie ein Abgrund aufthat, aus dem sie ein eisiger Hauch anwehte.

»Ich sagte, ich wolle nicht abschätzen und wägen!« erwiderte Frau von Wernberg. »Aber wie's scheint, willst du es thun. Ob mein Sohn eine mehr oder weniger gute Partie macht . . .«

»O Gott, so habe ich es nicht gemeint!«

»Ob mein Sohn eine gute Partie macht, darauf kommt es mir nicht an. Für mich ist viel wichtiger, ob er sich standesgemäß verheiratet. Und da frage ich nicht allein nach Ebenbürtigkeit, ich frage auch nach der Verwandtschaft. Denn deine Familie wird in gewissem Sinne auch die seine. Ich möchte dich nicht kränken, Thekla, ich will nur, daß du wissen sollst, wenn einmal von Opfern die Rede ist, daß Leo manches in den Kauf nehmen muß!« –

Thekla senkte das Haupt. Das hatte getroffen. Es war ihr, als sei es Ehrensache, solchem Stolze gegenüber für ihre Familie einzutreten. Aber was sagen! Sie erwiderte nur: Frau von Wernberg kenne die Ihren wohl nicht genug, um das zu sagen.

»Ich meine auch eigentlich keine bestimmten Personen, Thekla! Die Deinen sind gewiß alle sehr brav und 376 ehrenwert; ich zweifle nicht daran. Ich spreche von den Verhältnissen im ganzen. Nach welchen Grundsätzen du erzogen bist, weiß ich nicht; weiß auch nicht, welche Grundsätze überhaupt in eurer Familie herrschen. Es ist im Leben die Hauptsache, daß man die richtigen Grundsätze hat und daß man fest darinnen steht. Auch das muß ein Mann wohl erwägen, wenn er ein Mädchen wählt, ob die Weltanschauungen harmonieren. Leo ist noch jung, und ich fürchte, er hat daran nicht gedacht.«

»Unsere Grundsätze sind, glaube ich, nicht schlechter, als die irgend einer anderen Familie!« rief Thekla in kaum verhehlter Erregung. »Mein Vater war Offizier, er hat uns die Erziehung gegeben, die er für recht hielt. Leider ist er viel zu früh gestorben für uns, und meine Mutter hat wieder geheiratet . . .«

»Ja, Thekla, deine Mutter hat wieder geheiratet. – Ich weiß, daß das ein Unglück ist für dich.«

»Aber das ist doch ausgeglichen worden. Meine Tante Wanda hat Mutterstelle an mir vertreten. Das Beste, was ich habe und was ich bin, verdanke ich ihr. Sie ist meine eigentliche Erzieherin gewesen, mehr als alle Lehrer und Lehrerinnen, die ich je gehabt habe. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, was ich dieser Tante verdanke, wie ich sie liebe, und wie gerne ich ihr ähnlich werden möchte!«

»Thekla!« sagte die alte Dame mit eigenartiger Betonung. »Da du selbst die Rede darauf bringst, will ich dir meine Ansicht nicht vorenthalten. Du sagst, du verdankst deiner Tante viel; in gewissem Sinne magst du recht haben. Aber daß sie dich auch zur Erbin ihrer Anschauungen gemacht hat, ob das gut für dich gewesen ist, bezweifle ich. Ich bin besser unterrichtet über dich und deinen Lebensgang, als du denkst; außerdem hat man auch 377 selbst seine Augen. Es ist zum mindesten ungewöhnlich, daß ein junges Mädchen, wie du es gethan hast, jahrelang allein wohnt und lebt. Nach unseren Begriffen gehört sich das einfach nicht. Das ist eben das, was ich Mangel an Grundsätzen nenne; ein solches Sich-emancipieren vom guten Ton. Daraus folgt dann alles andere: daß du zum Beispiel Herren hier empfangen hast, daß du dich mit Sachen beschäftigst, die ein junges Mädchen aus guter Familie nicht zu kennen braucht und auch nicht kennen soll. Ich mache dir nicht mal einen großen Vorwurf daraus; den Fehler haben die begangen, die dich in solches Fahrwasser brachten. Und nach allem, was ich höre, trifft dafür die Verantwortung eben jene Tante Wanda, die du so hochstellst.«

Thekla blickte die Excellenz sprachlos an. Träumte sie denn! – Sollte hier Wanda Lüdekind in ihrem eigenen Hause verunglimpft werden?

»Deine Tante hat gewiß ihre guten Seiten gehabt, Thekla. Aber eines giebt zu denken: eine Frau, die für die Kirche keinen Sinn hat, die freien Tendenzen huldigt, mit einem Worte, die irreligiös ist, kann nicht vorbildlich sein. Ihr Einfluß auf dich ist groß gewesen; du gestehst es selbst. Ich will nicht sagen, daß du verdorben wärest, nein, nur auf die rechten Autoritäten hat man dich nicht hingewiesen in der Jugend. Das thut mir leid. Für die Braut meines Sohnes wünschte ich mir ganz besonders, daß sie gefestigt wäre in den Grundsätzen, die nun mal die einzig wahren und ewig unverrückbaren sind.«

Thekla war wie zerschmettert. Die Frau hatte mit schonungsloser Hand an alles gerührt, was ihr lieb war und verehrungswürdig. Sollte sie sich verteidigen? Konnte man das überhaupt jemandem gegenüber, mit dem man 378 nicht das Geringste gemein hatte, jemandem gegenüber, der wie diese Frau eingepanzert war in »Grundsätze«? Es war hoffnungslos von Anfang an. Sie schwieg und seufzte.

Die Excellenz glaubte zu sehen, daß ihre Worte einen gewissen Eindruck hervorgebracht hatten auf das Mädchen. Das hatte sie ja gewollt! Sie war nun aufgeräumt und freundlich, wie wir meist sind, wenn wir das letzte Wort gehabt haben.

Eigentlich wurde angenommen, daß Thekla die alte Dame auf den Bahnhof begleiten solle, weil Leo durch dringende Geschäfte davon abgehalten war. Kurz vor Abgang des Zuges wollte er auf dem Bahnhofe sein, um sich von seiner Mutter zu verabschieden. Aber Frau von Wernberg riet nun selbst dazu, daß Thekla zu Haus bleiben möge.

Beim Abschied küßte sie Thekla auf das Haar. Es war das erste Mal, daß die alte Dame sie etwas wie Zärtlichkeit blicken ließ. Thekla merkte es kaum. In ihr hallten noch die Worte von vorhin wider. Stumm geleitete sie die Excellenz zur Thür, blieb dann wie träumend zurück.

Lange Zeit stand sie regungslos auf demselben Platze. Was war geschehen? Sie hatte eine Auseinandersetzung gehabt mit Leos Mutter. War das so schlimm? O, es war vielleicht gut! Es hatte Klarheit gebracht in vieles. Immerdar würde sie getrennt sein von dieser Frau, durch eine tiefe Kluft. Das wußte sie jetzt.

Mit dieser Erkenntnis war für Thekla eine große Hoffnung zerstört; die Hoffnung: eine Frau zu finden, die sie rückhaltlos verehren könne wie eine zweite Mutter. An ihrer Verbindung mit Leo war ihr das mit als das Lockendste erschienen. Daß Frau von Wernbergs Liebe 379 nicht im Sturme würde zu gewinnen sein, hatte sie von Anfang an gewußt. Aber wie gern hätte sie um diese höchste Auszeichnung gedient! Nach dieser Auseinandersetzung war das unmöglich geworden!

Thekla war weit davon entfernt, der Excellenz zu verargen, was sie gesagt hatte. Sie konnte die alte Dame verstehen, ja sie verstand sie eigentlich jetzt erst ganz. Frau von Wernberg mußte, so wie sie es gethan, urteilen, ihrem Charakter gemäß. Es war von Thekla ein aussichtsloses Verlangen gewesen, sich von Leos Mutter verstanden zu sehen. Eine solche Frau konnte niemanden lieben, der nicht von ihrer Art war. Ihr Stolz, ihr starrer, selbstgerechter Stolz hinderte sie daran. Darum konnte es ihr gegenüber nur ein blindes Sichunterwerfen geben – für den, der selbst keinen Stolz hatte – oder aber ein gleichgiltiges Nebeneinanderhergehen. Das Letztere war das, was ihr blieb; man würde mit einander auszukommen versuchen, um des Anstandes, um des Friedens willen. Ein trauriger Ersatz in der That für das, was sie geträumt hatte!

Als Thekla von Leo erfahren, daß seine Mutter bei den Kalkmeyers wohnen werde, hatte sie sofort nichts Gutes geahnt. Es war ihr wahrscheinlich gewesen, daß Marie Kalkmeyer, wie sie nun mal war, die Gelegenheit benutzen werde zu Klatsch. Aber daß es ihr in diesem Maße gelingen würde sie anzuschwärzen, hatte Thekla freilich nicht annehmen können. Und das war das Demütigende, daß diese Auseinandersetzung sich nicht ergeben hatte aus den natürlichen Gegensätzen, sondern daß Fremde sich eingemischt hatten. Stand sie nicht verdächtigt vor Leos Mutter, als habe sie etwas verheimlicht aus ihrer Vergangenheit von ihrem innersten Wesen? – Das war der bitterste Stachel, den die letzte Stunde in ihr zurückgelassen hatte.

380 Und daran war Leo schuld! Er hatte weder der Mutter ein klares Bild von seiner Braut gegeben, noch hatte er ihr gesagt, wessen sie sich von der Mutter zu gewärtigen habe. Damit hätte er ihr, hätte er Thekla die Demütigung erspart, Wochen hindurch um etwas zu ringen, das ihr von vornherein versagt war.

Leo hatte sie, seine Braut, nicht der Wahrheit für würdig gehalten. Von diesem großen Unrecht konnte sie ihn nicht freisprechen.

* * *

Leo Wernberg traf mit seiner Mutter auf dem Bahnhofe zusammen. Nachdem er Gepäck und Billet der Excellenz besorgt hatte, begab man sich in das reservierte Zimmer.

Er setzte sich dicht neben sie auf das Sofa und ergriff vertraulich ihre Hand. »Mamachen! Ehe du gehst, mußt du mir noch ein paar Worte sagen. Hast du dich nun mit meiner Wahl ausgesöhnt?«

Die Excellenz schwieg eine Weile. »Ja und nein! Thekla ist ein gutes, ein ausgezeichnetes Mädchen!« –

»Sag mir nur das nicht, Mama! Gut ist kein Lob. Das sagt man, wenn man jemanden schonen will. Aus deinem Munde möchte ich doch was anderes über meine Braut hören. Ich will dir mal sagen, was ich von ihr halte. Ich behaupte: Thekla ist einfach eine Perle. Ich bin stolz darauf, sie gefunden zu haben. Bitte, Mama, nenne mir eine andere junge Dame, der man den Vorzug geben könnte vor ihr? Irgendwo hat es bei jeder einen Haken. Entweder die Herkunft mangelhaft, oder kein 381 Vermögen vorhanden, bei der einen läßt die Erscheinung zu wünschen übrig, bei der anderen der Charakter. Alles das ist bei Thekla erster Klasse. Ich behaupte, sie ist vollendet in ihrer Art.«

»Ich finde es ganz in der Ordnung, Leo, daß du schwärmst!«

»Nein, ich schwärme nicht. Über die Kinderkrankheit bin ich hinaus.«

»Immerhin siehst du deine Braut mit den Augen des Bräutigams. Das heißt, du siehst vor allem das Glück, das du von ihr erwartest. Als Mutter sehe ich dich und sie und eure ganze Zukunft . . .«

»Unsere Zukunft ist gesichert, Mama! Ich kann dir das nur wiederholen. Theklas Vermögen ist größer noch, als ich erwarten konnte. Und wenn du dich etwa an ihrer Verwandtschaft stößt – ich gebe zu, daß die Familie Sänger keine angenehme Zugabe ist – so kann ich dir versichern, die werde ich mir vom Halse zu halten wissen. Aber schließlich, es kann doch nicht jeder eine reichsunmittelbare Gräfin heiraten! Gesetzt, ich hätte einen Herzog zum Schwager, dann stünde ich gewissermaßen unter dem Drucke seines Ranges, nichtwahr? So gebe ich den Ton an. Siehst du das ein, Mama?«

»Leo, du hast mich nicht ganz verstanden. Um eure äußere Lage sorge ich mich nicht. Ich habe auch nie eine Fürstin zur Schwiegertochter verlangt. Es ist mir sehr recht, daß du nicht allzuhoch hinaus gewollt hast. Ich weiß, daß es so weiser gethan ist.«

»Ja, um des Himmels willen, was hast du denn dann noch für Bedenken, Mama?« rief der Sohn nicht ohne Zeichen von Ungeduld.

»Es wird nicht ganz leicht sein, einem Manne das klar zu machen, vor allem, da du als Bräutigam alles 382 in besonders rosigem Lichte siehst. Eine Mutter, wie gesagt, blickt weit in die Zukunft hinaus, sagen wir um zehn, zwanzig Jahre und länger! Ich glaube, du kennst deine Braut noch gar nicht! Es ist auch nicht leicht, ein Mädchen zu durchschauen, weil eben Mädchen unfertig sind, unbeschrieben, du verstehst mich! – Was aus ihr werden mag durch die Ehe, das können wir höchstens ahnen. Ich habe drei Töchter verheiratet, Leo! – Nur das wollte ich sagen: Thekla ist gar nicht so einfach konstruiert, wie du denkst. An ihr kannst du noch Überraschungen erleben. Darauf wollte ich dich vorbereitet haben!«

»Ich habe mir bisher immer eingebildet, daß ich die Frauen einigermaßen kennte!«

»Ja, wie ein unverheirateter Mann die Frauen kennt, von einer Seite! In der Ehe erst wirst du deine Frau erkennen, und damit die Frauen!«

»Unangenehme Überraschungen wird mir Thekla kaum bereiten. Sie ist frei von ›Temperamentsfehlern.‹ Entschuldige den sportsmäßigen Ausdruck, Mama, aber er bezeichnet genau, was ich meine. Sie ist das sanfteste, gutwilligste Wesen! Lenkbar, ganz Schmiegsamkeit und Fügsamkeit! Irgendwelche Mucken, Laune, Eigensinn, habe ich noch nicht an ihr bemerkt. Und sowas müßte sich doch mal zeigen!«

»Du hältst sie für lenkbar. Bis zu einem gewissen Grade: ja! Aber poche nicht zu sehr darauf, Leo! Ich könnte mir Augenblicke denken – Gott schütze euch davor – wo du nichts mit ihr wirst ausrichten können, so sanft sie aussieht. In ihrem Wesen liegt vieles verborgen, was sie nicht zeigt. Sie ist empfindsam, um nicht zu sagen: empfindlich! Ich möchte kein hartes Wort gebrauchen; aber ob sie ganz frei ist von Schrullen? – Alles das wird erst die Zukunft lehren. Auf alle Fälle, Leo, ist Vorsicht geboten.«

383 »Mama, es wird mir das größte Vergnügen bereiten, dich in ein paar Jahren wieder zu sprechen und mir von dir bestätigen zu lassen, daß du Schwarzseherei getrieben hast!«

»Um so besser, Leo, wenn du recht behältst. Was ich zu sagen hatte über diesen Punkt, habe ich gesagt. Ich werde dich im übrigen mit Schwarzseherei nicht plagen.«

Was sie noch weiter sprachen bis zum Abgang des Zuges betraf Dinge alltäglicher Natur.

Leo Wernberg nahm am Bahnhofe einen Wagen und fuhr zu Thekla. Obgleich er sich's nicht hatte merken lassen wollen, waren seiner Mutter Worte doch nicht ganz ohne Eindruck auf ihn geblieben. In Menschenkenntnis und Lebensklugheit erkannte er in der alten Dame immer noch seine Meisterin.

Er fand Thekla dort, wo seine Mutter sie verlassen hatte, im kleinen Gartensalon. Der Empfang von ihrer Seite war minder warm, als er es gewöhnt. Was es mit ihrer Zurückhaltung auf sich habe, wollte er schon herausbekommen! Man kannte doch die Frauen; wenn seine Mutter ihm das auch hatte anzweifeln wollen!

»Ich bin hierher geflogen, Thekla! Ich hatte solche Sehnsucht nach dir, mein Herz! Nun ist meine gute Mutter fort! Aber – du hast wohl gar geweint? Hat's was mit meiner Mutter gegeben – wie?«

»Leo!« sagte Thekla und sah ihn dabei groß und eindringlich an. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Was, mein Liebling?«

»Daß deine Mutter so über mich denkt!«

»Es thut mir leid, Thekla, furchtbar leid! Nimm's nur nicht so tragisch! Sieh mal, meine Mutter ist eine Frau der alten Weltanschauung. Aber schließlich, du heiratest nicht sie, sondern mich! Das wird sich alles ausgleichen. Ihr beide werdet noch die besten Freunde 384 werden. Laß uns nur erst mal verheiratet sein. Das sind so Stürme des Brautstandes.«

»Ach, Leo, es wäre vielleicht besser . . .«

»Wie meinst du? Sprich mein Kind!«

»Wäre es nicht besser, wenn wir auseinandergingen?«

»Thekla! – Ich glaube wirklich, du bist nicht ganz bei Sinnen! Deshalb, weil du ein Zerwürfnis gehabt hast mit meiner Mutter!« –

»Ach, das ist es gar nicht. Damit bin ich längst fertig! – Ganz etwas anderes! – – Mir ist so bange! Ich weiß nicht, wie ich zu dir stehe, Leo?«

Sie bedeckte die Augen mit den Händen.

Leo betrachtete sie lächelnd. Wirklich, sie schien doch noch ein rechtes Kind! Das war es wohl, was seine Mutter ihre »Schrullen« genannt hatte? Ihn sollte das nicht bedenklich machen! Mädchenlaunen, weiter nichts! War es nicht eine reizende Zugabe von Unberechenbarkeit, die sie nur pikanter erscheinen ließ? – Er fühlte darin wie ein guter Reiter, den ein Pferd, das gar keine Untugenden hat, langweilt, weil es ihm niemals Gelegenheit giebt, seine Überlegenheit zu erproben. Wie er so stand, fiel sein Blick auf Haar und Hals der vor ihm Sitzenden. Der Kragen des losen Kleides ließ jene Stelle am Genick frei, wo das starke Haupthaar überging in ein Gekräusel von leichten Löckchen, die nur wie ein zarter Schatten die rosig durchschimmernde Haut bedeckten. Ein heißes Begehren stieg in ihm auf. Aber zur rechten Zeit fiel ihm noch seiner Mutter Warnung ein: daß Vorsicht geboten sei. Er hielt sich zurück. Wozu vorgreifen? Sie war ihm ja sicher! –

Er beugte sich zu ihr herab.

»Thekla!« flüsterte er mit gedämpfter Stimme an ihrem Ohre. »Meine Thekla! Sieh mich doch nur an!«

385 Sie sah auf mit dem Blicke eines verscheuchten Vogels.

»Was hast du, Thekla? Sage mir alles! Sieh mal, wir haben uns doch lieb – nicht wahr?«

»Wenn ich das nur wüßte, Leo! Mir ist alles unsicher geworden.«

»Zweifelst du an meiner Liebe?«

»Leo, ich denke manchmal: du bildest dir nur ein, mich zu lieben.«

»Närrchen, ich bin bei völlig klaren Sinnen! Ich weiß, daß ich dich über alles liebe, und nie aufhören werde, dich zu lieben! Genügt dir das? Soll ich schwören?« –

»Wir kennen einander so wenig!«

»Lernen wir uns nicht alle Tage besser kennen? Du bist nur ein wenig bange. Bin ich denn wirklich ein so schrecklicher Mensch – wie?«

»Nein, nein! Spaße nicht mit diesen Dingen, Leo! Ich sorge mich Tag und Nacht darum. Es kommt mir manchmal vor, als wären wir so weit von einander entfernt. Aber ich kann auch nicht erklären, wie das ist! Nur eines weiß ich, wenn alles richtig wäre zwischen uns, dann dürfte es so nicht sein. Meine Tante Wanda sagte mir einmal: daß Mann und Frau etwas ganz Verschiedenes suchten in der Liebe. Ob es das vielleicht ist?« –

»Wenn deine Tante gesagt hat: Mann und Frau sähen die Liebe unter verschiedenen Gesichtspunkten, so hat sie sehr recht gehabt. Ich bitte dich, Thekla, darin liegt doch gerade der Reiz jeder Neigung, daß man verschieden geartet ist. Gegensätze ziehen sich an! Wäre es nicht höchst langweilig, wenn wir beide über jede Sache dasselbe dächten? Man spricht sich aus, man vergleicht seine Ansichten. Das ist gut so! Es kommt eben bei jeder Sache darauf an, wie man sie ansieht. Du siehst im 386 Augenblicke alles trübe. Aber ich gebe dir mein Wort, Thekla, nicht eher verlasse ich dich, bis nicht deine lieben Augen wieder ganz hell sind.«

Er lächelte ihr ermutigend zu. Thekla saß in Gedanken versunken. Ob er nicht recht hatte am Ende? –

Es war, wie es schon so oft gewesen: seine männliche kraftvolle Gegenwart übte einen starken Einfluß auf sie aus; ihre Energie, ihr Hoffen fühlten sich mit einem Male gehoben. Unwillkürlich wurde sein Wille der ihre. Als ob sie einen bangen Traum geträumt hätte, war es dann; im Morgenlichte lächelte sie beruhigt über das, was sie eben noch geschreckt hatte.

Wernberg störte sie nicht im Nachsinnen. Er wartete ruhig die Wirkung seiner Worte ab. Erst als er sie wiederholt seufzen hörte, trat er zu ihr. »Thekla, man muß wissen, was man will! Neulich warst du dir doch völlig klar! Man sagt nicht heute ›ja!‹ und morgen ›nein!‹ Es giebt keine Treue auf Kündigung. An seinem Worte hält man fest; das gilt für Mann wie Frau!«

Er konnte nicht wissen, wie das, was er sagte, sich mit ihren Gedanken berührte. Thekla dachte an ein Wort, das Tante Wanda ihr sterbend zugerufen hatte: »Wenn dir einer begegnet, den du der Liebe wert findest, den halte fest über alles! Laß dich nie irre machen an einem Freunde!« – Verurteilte dieses Wort sie nicht geradezu? Warf er ihr nicht Halbheit vor, Lauheit, Untreue? –

Und was war ihr eigener Vorsatz gewesen, den sie in gehobener Stimmung gefaßt hatte: Lieben ohne Hintergedanken, ohne Rücksichten, ohne Furcht. Lieben um der Liebe willen!

Welcher Wunsch hatte sie denn beseelt, welches Ideal ihr vorgeschwebt in ihrer Mädchenzeit? Zu lieben, wenn 387 der Rechte gekommen sein würde. Und nun war die große Zeit da, hier stand der Erwählte ihres Herzens, und wie fand er sie: ängstlich, zaghaft und matt! Was für eine Braut war das, die vor dem Glücke zurückbebte, die nicht zu ergreifen wagte, was sie selbst gewollt. Wahrlich, unsäglich klein mußte sie ihm erscheinen!

Sie senkte noch einmal das Haupt. Tief wollte sie nachdenken, tief in sich hineinblicken, mit dem eigenen Herzen Zwiesprache halten über diese große Frage. Was schrieb es ihr vor? Welches Gesetz lebte dort, ihr Dasein beherrschend von Anfang an? Was war ihr eigenes tiefstes Bedürfnis, der heilige Zweck ihres Lebens? Ein Wort fand sie da geschrieben, zur Antwort auf alle Fragen, eingebrannt mit glühenden Buchstaben in ihre Seele: Liebe!

Etwas von dem wunderbaren Lichte, das sie eben erschaut hatte, leuchtete noch aus ihren Augen, als sie jetzt aufblickte und ihm ein glückstrahlendes Gesicht zuwandte.

Er konnte nicht verstehen, was in ihr vorgegangen sei; mit schnellem Blicke erkannte er nur das heraus, was ihm im Augenblicke das Wichtige war: er hatte gesiegt!

»Nun sind deine Augen wieder ganz hell, Thekla!« sagte er.

»Leo! Willst du mir verzeihen?«

»Alles! Wenn du mich so ansiehst! Aber, was bekomme ich zur Belohnung? Denn etwas will ich haben dafür, daß du mich so schlecht behandelt hast.«

»Das will ich dir geben! Alles sollst du haben, was du nur willst!«

Sie warf sich ihm in die Arme und suchte seinen Kuß.

 


 


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