Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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Drittes Buch

I.

Wanda Lüdekinds Testament hatte eine große Überraschung gebracht. Thekla war darin zur alleinigen Erbin eingesetzt. Zum Testamentsvollstrecker hatte die Verstorbene ihren Anwalt Reppiner ernannt; er sollte auch die Vermögensverwaltung unter sich haben, so lange Thekla noch nicht mündig war.

Auf das junge Mädchen hatte das, was mancher anderen als ein unerhörter Glücksfall erschienen wäre, zunächst keinen tieferen Eindruck gemacht. Sie staunte mehr das große Vermögen an, in dessen Besitz sie so plötzlich und unerwartet geraten war, als daß sie sich daran erfreut hätte. Es rührte sie als ein neuer Beweis jener Güte und Vorsorge, die sie nun missen sollte; nur noch schmerzlicher ließ es ihr den Tod der Vielgeliebten erscheinen. Was galt das, was ihr zugefallen, im Vergleich zu dem, was sie verloren? Das einzige Erfreuliche an dieser Erbschaft war für sie, daß sie in Tante Wandas Hause wohnen konnte; denn auch das Haus war ihr mit allem, was dazu gehörte, vermacht worden.

Nachdem die erste Betäubung allmählich einer klareren und bewußteren Stimmung gewichen war, empfand Thekla, daß sie sich nun eine Art von Lebensplan machen müsse. 244 Sie stand jetzt noch unter dem Einflusse derer, die von ihr gegangen war. Das viele Geld, das sie geerbt, erschien ihr wirklich mehr als etwas Zufälliges; Wert hatte es nur durch die Möglichkeit, die es ihr gab, im Sinne der Verstorbenen zu wirken. Denn sie wollte Wanda Lüdekinds Leben weiterführen, ihr Werk dort aufnehmen, wo Wanda es hatte liegen lassen müssen. Nichts sollte geändert werden an Haus und Garten, als sei die Verstorbene gegenwärtig und könne jeden Augenblick eintreten. Nichts sollte auch sich verringern an den Beiträgen, die Wanda mit freigebiger Hand zu Stiftungen und an Hilfsbedürftige aller Art weggegeben hatte. Die Nichte wollte versuchen, diesen Verlassenen das zu werden, was Wanda ihnen gewesen war. Der hochherzige Sinn der Verewigten sollte der Leitstern sein ihres ganzen weiteren Lebens.

Mit dem Kapital, das ihr so unerwartet in den Schoß gefallen, war das Gefühl einer neuen Verantwortung über sie gekommen. Ja mehr noch als die Annehmlichkeiten, die es ihr gewähren konnte, sah sie die Pflichten, die ihr aus ihrem Vermögen erwuchsen. Noch zwar fühlte sie sich etwas neu in der Rolle einer wohlhabenden Person. Der Gedanke, daß sie jetzt in einer Woche vielleicht soviel zu verthun habe, wie ehemals ihr Jahres-Taschengeld betragen hatte, schien im ersten Augenblicke etwas Beängstigendes zu haben; aber ein Gefühl von größerer Freiheit, Unabhängigkeit und Bedeutung gab es ihr doch.

Wandas Tod war ein Abschnitt für sie gewesen, in mehr als einer Beziehung. Wie auf eine Warte gestellt, fühlte sie sich durch dieses Erlebnis, von der aus ihr das, was früher gewesen, fast lächerlich klein und unbedeutend erscheinen wollte. Und mehr noch als die greifbare Erbschaft, wirkte auf sie jenes unsichtbare Vermächtnis: die letzten Worte, die Wanda zu ihr gesprochen.

245 Was waren, gegen dieses Schicksal gehalten, ihre eigenen Erlebnisse? Was war die Episode ihrer Neigung, gesehen in diesem Lichte? – Wie verblaßte das, was sie an Enttäuschung und Kummer erlitten hatte, diesem Kampfe gegenüber, ausgefochten von einer Frau, ein Leben hindurch! – Nein, sie konnte ihr Geschick nicht an einem Tage nennen mit dem von Wanda Lüdekind!

Zu behaupten, daß Thekla niemals an Leo Wernberg gedacht habe, wäre Unwahrheit. Aber wenn sie sich im Geiste auch oft mit ihm beschäftigte, so war irgendwelche Leidenschaft doch nicht mehr im Spiele dabei. Sie sah ihn vor sich mit allen seinen Vorzügen: seiner Schönheit, seiner Unterhaltungsgabe, seiner Eleganz, aber es fehlte bei solchen Reflexionen die wirkliche warme Nähe. Die Erinnerung gab nur ein mehr und mehr verblassendes Bild, sie konnte den starken Eindruck der Wirklichkeit nicht erreichen. Zeit und Ereignisse hatten sich zwischen sie und diese erste stürmische Mädchenliebe geschoben. So etwas kam einmal im Leben und nicht wieder! Dieser Mann würde ihr immerdar etwas bedeuten. Er hatte eine ganz bestimmte wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt, wegwischen konnte sie ihn nicht daraus, ihn, der das erste starke Empfinden in ihr ausgelöst hatte. Aber sein Bild lag tief in ihrer Erinnerung vergraben, wohlerhalten, aber doch tot, mumifiziert gewissermaßen. Sie glaubte nicht, daß er jemals zu neuem Leben erwachen könne aus der Gruft ihres Herzens.

Thekla hätte glücklich sein können und zufrieden, wenn nicht die Ihrigen beliebt hätten, sie zu quälen.

Da war erstens ihre Mutter. Seit Wanda Lüdekind gestorben, war Frau Sänger auf einmal ganz erfüllt von den Tugenden der »teuren Verewigten«, die sie früher doch nie hatte gelten lassen wollen. Sie sprach ganz naiv 246 von ihr als von ihrer »liebsten Freundin«, von dem »herben Verluste«, den sie erlitten habe durch Wandas Tod. Auch der Finanzrat pflegte, wenn auf sie die Rede kam, eine schmerzlich bewegte Miene aufzusetzen. Denn, erklärte er, der Tod eines Menschen sei ja an sich ein schmerzliches Ereignis, welches einen an die eigene Hinfälligkeit erinnere, sodann sei aber bei der bekannten Freundschaft, die Tante Wanda mit ihrem verstorbenen Vetter Eberhardt verbunden, doch auch zwischen ihm, der das Glück genieße, mit dessen Witwe vermählt zu sein, und der kürzlich Verblichenen eine Art seelischen Konnexes hergestellt gewesen. – Sänger glaubte sich eben im Besitze der besonderen Begabung, in feinsinniger Weise Dinge auszudrücken, die andere lieber ungesagt ließen.

Früher hatte Sänger oft genug angedeutet, daß ihm mit den Kindern, besonders den Töchtern, welche seine Frau in die Ehe gebracht, ein großes Kreuz auferlegt sei. Jetzt, seit Thekla eine Erbin war, sah er das in etwas rosigerem Lichte. Er riet dringend davon ab, daß Thekla in das ihr von Tante Wanda vererbte Haus ziehe. Warum den »sicheren Port des Familienlebens« verlassen? Wollte sie sich auf das »klippenreiche Meer der Selbstständigkeit« hinausbegeben? – Sänger wußte es ganz genau, welche Gefahren »seelischer und anderer Art« einem jungen, alleinstehenden Mädchen drohten, besonders wenn sie nicht der äußeren Reize entbehre, wie er wohl, ohne ihr damit schmeicheln zu wollen, sagen dürfe, daß sie Thekla besitze. Frau Sänger, die ja nur sein Echo war, stimmte ihm darin bei.

Thekla war jetzt soweit selbständig in ihren Handlungen geworden, daß sie sich kein Bedenken gemacht haben würde, dem Verlangen ihres Stiefvaters zum Trotze, umzuziehen. Wußte sie doch nur zu gut, was das 247 Zusammenleben mit den Ihren bedeutete, und mußte sie doch fürchten, daß die Familie sie hindern würde, auf ihrem Wege zu den neugesteckten Zielen voranzuschreiten.

Aber ein anderer noch riet ihr von dem Umzuge ab; einer, den sie als Freund und Berater von Tante Wanda gleichsam mitgeerbt hatte: Doktor Beermann. Der alte erfahrene Arzt erklärte ihr offen, daß er Bedenken trage, sie sofort in das Haus ziehen zu lassen. Bei Lebzeiten von Wanda Lüdekind hatte er das Wort »Schwindsucht« nicht ausgesprochen, aber jetzt warnte er vor den Räumen, in welchen die Verstorbene ihre letzten Jahre zugebracht. Wenigstens ein Jahr möge Thekla noch im Hause der Eltern verharren.

Solchen Gründen hatte sich Thekla selbstverständlich zu fügen. Kathinka, die in ihren Dienst übergegangen war, blieb in dem Häuschen, um nach dem Rechten zu sehen. Und Thekla hatte den Trost, jederzeit dorthin gehen zu dürfen, in den Zimmern zu räumen und in dem Garten zu verweilen.

Natürlich drängten sich Bittsteller aller Art an Thekla heran, sobald erst bekannt worden war, welche Erbschaft dem jungen Mädchen zugefallen sei. Da waren alle vertreten: von der armen Witwe an mit einem kranken Manne und fünf unversorgten Kindern, bis zum verkrachten Aristokraten, der um Bezahlung seiner Schulden bat und ihr dafür die Ehre anbot, fortan seinen Namen zu tragen. Solche Dinge, an die jeder im Reichtum Geborene mehr oder weniger gewöhnt ist, verwirrten und ängstigten das Mädchen. Aber hier erwuchs ihr in ihrem Freunde Reppiner die beste Hilfe; er wußte die allzu Arglose vor Ausbeutung zu bewahren.

Eines Tages kam auch Theklas alte Lehrerin, Fräulein Zuckmann, mit einer Bitte. Sie klagte, daß ihr Institut 248 zurückgehe. Der Grund sei: Konkurrenz durch eine andere Töchterschule, welche vermittelst einiger rein äußerlicher Vorzüge die Schülerinnen an sich ziehe. Das einzige Mittel, ihre eigene Schule vor dem Verfall zu retten, sei ein Umbau des Gebäudes, Beschaffung neuer Lehrmittel, Anstellung renommierter Lehrer, kurz eine gründliche Reform nach modernen Prinzipien. Sie hatte Pläne mit und Anschläge.

Thekla, die sich für ihre alte Schule stets ein reges Interesse gewahrt hatte, war sofort Feuer und Flamme für das Unternehmen. Sie empfand es geradezu als persönliche Kränkung, daß diese Pflanzstätte der Bildung und Erziehung durch den Wettbewerb einer andern, sicherlich minderwertigen Anstalt zu Grunde gerichtet werden sollte. Fräulein Zuckmann fand es daher leicht, ihrer Bitte um ein Darlehen bei Thekla Gehör zu verschaffen. Das junge Mädchen hätte im Hochgefühl der Großmut am liebsten die verlangte Summe geschenkt; aber ihre alte Lehrerin war maßvoll genug, sie nur geborgt anzunehmen.

Mit diesem Plane machte Thekla sehr wenig Glück bei Reppiner. Der Advokat meinte, ihre Herzensgüte bedeute geradezu eine Versuchung zum Mißbrauch. Der ausgemachte Zinsfuß war nach seiner Ansicht ein viel zu niedriger, nach Theklas ein viel zu hoher. Es blieb für den vorsichtigen Freund nichts weiter zu thun übrig, als für genügende Sicherstellung des Geldes zu sorgen. Das Darlehen wurde als Hypothek mit Amortisation auf das Schulgrundstück eingetragen. Thekla als Gönnerin des Unternehmens, sollte fortan stetig von dem Fortgange des Unternehmens unterrichtet werden.

Sie, Protektorin von Fräulein Zuckmanns Schule! – Wie lange war es denn her, daß sie mit der Mappe am Arm dorthin gewandert war? Es lag etwas Großartiges 249 in solchem Bewußtsein! Es hätte einen übermütig machen können. Jedenfalls war es das erste Mal, daß Thekla von ihrem Gelde wirkliche Freude genoß.

Arthur hatte inzwischen sein erstes Staatsexamen abgelegt und war nun im Vorbereitungsdienste angestellt. Die Frage, wann er heiraten würde, trat damit wieder in den Vordergrund. Daß er dabei auf die Schwester blickte, deren Verhältnisse sich in letzter Zeit so günstig gestaltet hatten, war nur natürlich. Und Thekla, der die Verbindung von Ella und Arthur am Herzen gelegen hatte, als sie noch nichts besessen, war in veränderter Lage natürlich gern zum Helfen bereit. Arthur erklärte, wenn er für die ersten Jahre, während deren er kein Gehalt bezog, einen jährlichen Zuschuß von seiner Schwester sichergestellt bekomme, glaube er, ohne Mitgift heiraten zu können. Ihrem sonstigen Berater in Geschäftssachen, Reppiner, sagte Thekla davon nichts, weil es sich hier nicht um ihre eigene Angelegenheit handelte. Sie setzte vielmehr nach Rücksprache mit ihrem Bruder die Höhe des Zuschusses selbst fest. Arthur und Ella konnten zufrieden sein.

Thekla hatte den Eindruck, daß Arthur sich unter dem Einflusse der höheren Verantwortung, die neuerdings auf ihm lag, sehr zu seinen Gunsten verändert habe. Er hatte sich mal wirklich zusammenraffen müssen. Das war zunächst seinem äußeren Menschen zu gute gekommen. Er zeigte eine gesunde Farbe und hatte an Körperumfang abgenommen. Daß er dem studentischen Komment entrückt war, übte auf seine Lebensweise und sein Auftreten nur einen günstigen Einfluß. Es war, als sei durch die glücklichen Aussichten, die sich ihm mit einemmale eröffneten, ein neuer frischerer Zug in Arthurs ganzes Wesen gekommen. Seine Bequemlichkeit hatte einem rüstig männlichen Vorwärtsschreiten Platz gemacht.

250 Arthur hatte allerdings auch alle Energie nötig, denn Thekla ausgenommen fand er keinen Bundesgenossen. Seine Mutter war außer sich, daß ihr einziger Sohn ein Mädchen heiraten wolle, das schon darum in ihren Augen unmöglich war, weil sie Kindern Unterricht erteilte. Sänger mißbilligte die Partie vom Standpunkte der Vernunft und der Moral. Es sei eine leichtsinnig angeknüpfte Studentenliebe, erklärte er, und dergleichen dürfe man nicht durch Heirat sanktionieren. Ähnlich urteilten die meisten von Arthurs Bekannten. Man fand, daß er unter seinem Stande heirate. Thekla tadelte man, daß sie dem Bruder diese Heirat ermöglicht habe; ja, manche verurteilten das junge Mädchen geradezu als Anstifterin eines unvernünftigen Bundes. Danach zu fragen, ob etwa Pflichten vorlägen, die Arthur Ella gegenüber zu erfüllen habe, gaben sie sich nicht die Mühe.

Auch die Familie Bartusch war nicht unbedingt für die Partie eingenommen. Ellas Vater hegte eine alte Abneigung gegen alles, was Lüdekind hieß. Seiner Frau schmeichelte zwar der adelige Schwiegersohn, aber die Sache hatte doch auch in Frau Bartuschs Augen manchen Haken. Besonders, daß das junge Paar in seinem Einkommen zunächst von Theklas Gnade abhängen solle, war ihrem Hochmut zuwider.

Wie sich Gabriel zu der Sache stelle, war nicht zu erfahren. Er hatte auf den Brief, in welchem ihm Ella ihre Verlobung mit Arthur mitteilte, überhaupt nicht geantwortet. Für Thekla wäre es besonders erwünscht gewesen, zu erfahren, was gerade er über die zukünftige Verbindung der beiden Familien denke. Der Eifer, mit dem sie für Ellas Glück wirkte, war nicht frei von dem geheimen Wunsche, gut zu machen an der Schwester, oder doch zu mildern, was Gabriel ihr vorwerfen zu können vermeinte.

251 Die Hochzeit sollte etwa in einem halben Jahre stattfinden. Inzwischen würde man in Muße Wohnung suchen und die Ausstattung beschaffen können. Die Braut hatte das Unterricht-Erteilen eingestellt und bereitete sich für ihren Beruf als Hausfrau vor.

Ein eigenartiges Zusammentreffen, das im Leben übrigens nicht selten ist, wollte es, daß Arthurs Verlobung nicht allein blieb in der Familie. Agnes war den Winter über flott ausgegangen in den nämlichen Kreisen, in denen Thekla debutiert hatte, ehe sie an den Hof der Herzogin-Witwe gezogen wurde. Sie war, wenn auch nicht gerade auffällig hübsch, so doch eine von jenen Erscheinungen, die unter ein paar Dutzend jungen Mädchen immer noch zu den auffälligen gehören. Sie besaß eine schlanke Figur, schönes Haar und zarte Farbe, und überdies jugendliche Frische und Gesundheit. Daß sie nicht unbeachtet bleiben konnte, dafür sorgten die ihr angeborene Unbefangenheit, ihr schlagfertiges Mundwerk und ihr munteres Augenpaar.

Thekla hatte in dieser ernsten Zeit begreiflicherweise nicht allzuviel Interesse für die gesellschaftlichen Abziehungen ihrer kleinen Schwester übrig. Aber gewisse Erscheinungen waren ihr doch nicht entgangen, wie: Bouquets, die abgegeben wurden, Briefe, die Agnes erhielt und schrieb, ein zeitweises, geheimnisvoll zurückhaltendes Wesen, das von dem früheren Übermut des Mädchens stark abstach. Alles das redete seine Sprache. Frau Sänger deutete zum Überfluß an, daß etwas im Werke sei.

Thekla hatte in letzter Zeit die Fühlung mit Agnes so gut wie ganz verloren. Es war ihr angedeutet worden von der Jüngeren, daß man nun auch erwachsen sei und der Bevormundung entraten könne. Sie hütete sich also wohl, irgend etwas zu thun, was den Schein der 252 Aufdringlichkeit hätte hervorbringen können. Aber es that ihr leid um Agnes willen. Wie manches hätte sie dem jungen Dinge sagen können und mögen, das sie jetzt dort stehen sah, wo sie selbst vor wenig Jahren gestanden hatte.

Um so erfreulicher war es daher für Thekla, daß Agnes eines Tages unaufgefordert zu ihr kam und ihr unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitteilte, sie sei verlobt mit Leutnant von Seeheim.

Thekla kannte ihn flüchtig, wie man einen Herrn kennt, mit dem man ein paarmal getanzt hat. Der Eindruck, der sich bei ihr festgesetzt hatte, war kein ungünstiger. Sie entsann sich eines stattlichen, recht gesetzten jungen Mannes von guten Manieren. Als sie fragte, wie es gekommen sei, wurde natürlich ein wahrer Wirbelwind stürmischer Begeisterung entfesselt. Seeheim war ein »großartiger, entzückender Mensch«, Agnes liebte ihn »schrecklich« und sie waren beide »unmenschlich glücklich«.

Dieser Enthusiasmus hatte etwas Ansteckendes. Thekla war bald von den außergewöhnlichen Vorzügen des Leutnants von Seeheim überzeugt und beglückwünschte die Schwester mit herzlichen Umarmungen. Sie wollte wissen, wann die Verlobung bekannt gemacht werden würde. Agnes erzählte voll Wichtigkeit: Egon habe zunächst noch auf die Erledigung verschiedener Angelegenheiten zu warten, unter anderem auf die Auszahlung einer Summe, die auf dem Gute seines älteren Bruders stand. »Formell« werde er in den nächsten Tagen um sie anhalten, nachdem sie bereits vor einer ganzen Weile unter sich eins geworden. Agnes nannte den Ball und den Tanz, bei dem sich das Wichtige ereignet hatte. Es sei jetzt gar nicht mehr Mode, die Eltern vorher zu fragen, man teile ihnen einfach die fertige Thatsache mit, belehrte sie die ältere Schwester, als habe sie langjährige Erfahrungen hinter sich.

253 Thekla staunte. Sie stand hier einer ähnlichen Erscheinung gegenüber wie damals bei Ella. Wie verändert doch die Liebe einen Menschen! Wie ließ sie so ein Mädel selbstbewußter und bedeutender erscheinen! Was war diese Agnes bisher gewesen? Als Kind und als Backfisch gedankenlos. Und nun war ein Wesen daraus geworden das ein tüchtiger Mann zur Lebensgefährtin begehren konnte! Sicherlich, er würde nicht schlecht mit ihr fahren. Die Liebe schien ein Zauberstab zu sein, der das Beste aus dem Menschen hervorlockte, ihn über sich selbst emporhob.

Thekla war im Innersten erwärmt. Agnes hatte nun das gefunden, wonach sich im Leben des Weibes alles streckt. Aber Theklas schwesterliche Freude war nicht ohne einen Beigeschmack von Wehmut. Niemals, so schien es, sollte für sie selbst diese hohe Zeit des Glückes kommen.

* * *

Das Brautpaar: Arthur-Ella gab Thekla mehr zu schaffen, als sie es anfänglich erwartet hatte. Frau Bartusch, die dem wirklichen Leben sehr fremd gegenüberstand, und die niemals viel über ihre gute Stube und den Leihbibliothekband hinausgeblickt hatte, fing an mit Ella von Geschäft zu Geschäft zu ziehen, um die Ausstattung zu besorgen. Es war ihr jederzeit gegenwärtig, daß auch sie einstmals vor ihrem Namen ein »von« gehabt hatte, sie hielt daher darauf, daß überall auf Wäsche und Tischzeug ein L mit der Krone deutlich sichtbar angebracht werde. Sie meinte, daß sie ihrer Tochter auf keinen Fall eine bescheidene Ausstattung mitgeben dürfe, wie sie in 254 kleinbürgerlichen Kreisen wohl üblich sein mochte. So stellte es sich denn nach einiger Zeit heraus, daß sie die vom Hausherrn als Äußerstes ausgeworfene Summe bereits überschritten hatte, als viele wichtige Anschaffungen noch gar nicht gemacht waren. Es blieb nichts übrig, als sich an Thekla zu wenden um Aushilfe, obgleich das für Frau Bartuschs Hochmut eine bittere Pille bedeutete.

Thekla war in der angenehmen Lage, nicht einmal Reppiner behelligen zu müssen, der über der Unantastbarkeit des Kapitals mit Argusaugen wachte. Der Überschuß ihrer Zinsen, von denen sie nur den kleineren Teil verbrauchte, langte hierfür völlig aus.

Dann kam das Wohnungsuchen. Die Wohnung zu beschaffen, war ja eigentlich Arthurs, als des zukünftigen Hausherrn, Sache. Infolgedessen betrachtete es Frau Sänger als ihr gutes Recht, hierin die letzte Entscheidung abzugeben. Aber auch Frau Bartusch wollte gehört sein. Das gab eine wundervolle Gelegenheit, sich kleinere und größere Bosheiten zu sagen, wie sie nur eifersüchtigen Frauen zu Gebote stehen. Ella und Arthur standen zwischen den Müttern in keiner angenehmen Lage. Denn jede Mutter verlangte von ihrem Kinde, daß es ihre Partei nehmen solle. Man sah sich eine Menge Wohnungen an, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen. Gefiel eine der Frau Sänger, so stand von vornherein fest, daß Frau Bartusch sie unmöglich finden werde, und umgekehrt. Bis schließlich Arthur, um dem unleidlichen Zustande ein Ende zu machen, auf eigene Faust eine Wohnung mietete, die ihm und Ella gleichmäßig gefiel, die aber die beiderseitigen Mütter – in diesem Falle zum erstenmale einig – durchaus ungeeignet fanden.

Dem anderen Brautpaare: Agnes-Seeheim wurde das Leben längst nicht so schwer gemacht; sie verstanden 255 es auch besser, sich mit ihrer Umgebung abzufinden. Agnes, die trotz ihres Verlobtseins noch viel von dem alten Wildfang behalten hatte, neckte ihren Bräutigam beständig und ersann die lächerlichsten Namen für ihn. Seeheim ertrug das mit Anstand. Er gab in Kleinigkeiten ihren Mädchenlaunen nach, in wichtigen Dingen wußte er seinem Willen durch Ruhe und Konsequenz um so sicherer Geltung zu verschaffen. Thekla bewunderte seine Art und Weise, sich in den gewiß nicht leichten Verhältnissen zurecht zu finden. Er verstand es, sich mit allen auf guten Fuß zu setzen, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Seine schlichte, dabei sichere Art flößte Respekt ein. Selbst der Finanzrat ließ ihn gelten, als einen »wohlerzogenen, jungen Mann, den er sehr gern in die Familie aufnehme«. Frau Sänger schwärmte als echte Schwiegermutter natürlich längst für den zukünftigen Gatten ihrer Tochter; und auch Thekla befand sich sehr bald in freundschaftlichem Verhältnis zu ihm, das auf Gegenseitigkeit beruhte, so daß Agnes gelegentlich eifersüchtig wurde, oder doch wenigstens vorgab, es zu sein.

Die Familienverhältnisse, in welche Agnes durch ihre Verheiratung kommen würde, waren die angenehmsten. Seeheim stammte aus einer kinderreichen Familie. Er war der Jüngste. Die Eltern lebten nicht mehr. Die Geschwister saßen ohne Ausnahme auf dem Lande. Die Verwandten kamen gelegentlich in die Stadt, um die Braut kennen zu lernen. Sie machten einen soliden, vertrauenerweckenden Eindruck. Biedere Grundbesitzer, welche die neue Schwägerin ein wenig laut und breitspurig, aber mit Herzlichkeit begrüßten. Mit solchen Leuten, besonders wenn man sie nicht täglich sah, würde sich's leben lassen. Es war klar, daß Agnes ein gutes Los gezogen hatte.

Wie viel schwieriger war im Vergleiche dazu die 256 Familie Bartusch! Nicht bloß die beiden Mütter führten einen steten Guerillakrieg, auch Vater Bartusch und der Finanzrat waren einander nicht günstig gesinnt. Von Gabriel, der seiner Schwester noch immer nicht gratuliert hatte, ganz zu schweigen!

Man war dahin übereingekommen, daß die beiden Paare gemeinsam vor den Altar treten sollten. Der Herbst war dazu als passende Zeit ausersehen worden.

Als Seeheim in's Manöver auszog, das diesmal mit Hin- und Rückmarsch vier Wochen dauerte, stellte sich Agnes an, als begebe sich ihr Bräutigam auf eine lange gefährliche Reise. Sie blieb thränenvoll, bis ihr jemand sagte: zu einem richtigen Brautstande gehöre auch eine Trennung, schon der Briefe wegen. Von diesem Augenblicke an war sie getröstet; nun fühlte sie sich Ella gegenüber sogar überlegen, die ihren Bräutigam stets zur Hand hatte. Das war keine Kunst! Aber täglich einen Brief schreiben und einen bekommen, das sei schon eher etwas, erklärte sie.

 


 


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