Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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IV.

Es war eine herbe Enttäuschung für Thekla, als sie durch ihre Mutter erfuhr, daß ihr Wunsch verworfen sei. Natürlich gab es gegen diese Entscheidung keine Auflehnung. Sie hatte sich darein zu schicken, was die Mutter mit dem Vormund für gut befand, aber es bemächtigte sich ihrer doch etwas wie Verstimmung gegen die Erwachsenen. Sie fühlte heraus, daß man ihr nicht gerecht geworden sei. Und jedes Kind empfindet Ungerechtigkeit besonders bitter. Zum ersten Male kam ihr zum vollen Bewußtsein, daß sie verwaist sei. Welch unersetzlichen Verlust hatte sie durch den Tod ihres guten Vaters erlitten! –

Als Frau von Lüdekind sah, daß sich Thekla die abschlägige Entscheidung tiefer zu Herzen nahm, als erwartet, wurde ihr Mitleid rege. Sie war gutmütig, und vermochte in ihrer Umgebung ein vergrämtes Gesicht nicht zu ertragen. Sie betrieb es, daß Thekla nun wenigstens Unterricht im Malen und in der Musik erhielt, wie ihr in Aussicht gestellt worden war. Später sollte dann auch noch das Tanzen dazu kommen, das jetzt, wo das Trauerjahr noch lief, für nicht passend befunden wurde.

Es wurde der Witwe nicht leicht, sich in der Lehrerfrage zu entscheiden. Der Rat des Vormundes ward angerufen, und Sänger, der sich auf sein Kunstverständnis gern etwas zu gute that, erklärte sich bereit, auch die Regelung dieser Angelegenheit in die Hand zu nehmen. Er brauchte lange Zeit zur Prüfung der Bewerber. Endlich kam er mit einem ältlichen Fräulein für Klavier, und mit einem Greise, der den Titel Professor führte, für Zeichen- und Malunterricht an. Er behauptete von ihnen, sie seien »Kapazitäten«. Beide hatten das gemeinsam, daß ihre 75 Art zu unterrichten äußerst umständlich und altmodisch war, und daß sie bei ihren Schülern Interesse, Eigenart und Lust zur Sache sehr bald durch die eigene hoffnungslose Temperamentlosigkeit völlig lahm legten.

Thekla gab sich redliche Mühe. Aber sie merkte mit der Zeit, daß sie nicht vorwärts komme. Die Fingerfertigkeit, die man ihr beibrachte, für etwas Echtes zu nehmen, war sie zu ehrlich. Daß die Lehrer, welche man ihr gegeben, Stümper seien, die jedes Talent verderben mußten, ahnte sie nicht.

Sie hatte viel freie Zeit übrig, mit der sie nicht immer wußte, was anfangen. Das Spielen im Garten gab es nun auch nicht mehr. Die einzige Unterhaltung, die sie hatte, waren die Ausfahrten, welche sie in Gesellschaft ihrer Mutter und des Vormunds unternahm. Freilich da war auch nicht viel Zerstreuung dabei, in einem Mietwagen stundenlang auf staubiger Landstraße einhergezogen zu werden. Sie hätte viel lieber ihre jungen Gliedmaßen gerührt, wäre am liebsten jedem Schmetterling nachgesprungen; jede bunte Blume, wenn sie auch im dichten Getreidefelde oder auf sumpfiger Wiese stand, bedeutete eine Versuchung für sie. Warum konnte man nicht zu Fuß gehen? Auf die Berge, durch den Wald! Oder nach dem See, wo Kähne lagen, auf denen sie andere junge Menschen rudern sah.

Aber Finanzrat Sänger hielt dergleichen für unpassend, er eiferte gegen Tennis und Radeln, Dinge, die man in seiner Jugend nicht gekannt hatte. Dagegen war das Ausfahren im Mietwagen nach seinem Geschmacke. Das schien ein sicheres, solides und bequemes Fortkommen. Wenn es regnete, konnte man den Wagen ganz schließen lassen, und gegen die Sonne schützte das Halbverdeck. Wenn Bedürfnis dazu vorlag, wurde angehalten und ein 76 wenig ausgestiegen. Dann bot er der Witwe höflich den Arm und schritt, den Überzieher auf dem Arme, mit behutsam kleinen Schritten voran; weil er sich einbildete ein kleiner Fuß sei noch modern, trug er knappes Schuhwerk. Hinter ihnen ging Thekla. Das Vorauseilen, oder gar das Springen über Gräben und das Streifen auf Nebenwegen war ihr streng untersagt.

Kehrte man ein, so geschah es wohl, daß sie für eine Familie angesehen wurden: Vater, Mutter und Kind; worüber die Witwe stets errötete, Thekla sich im stillen ärgerte, während Sänger den Irrtum ganz gern zu sehen schien.

Thekla hegte gewiß allen Respekt vor ihrem Vormund, aber sie fand ihn manchmal recht herzlich langweilig. Sie begriff ihre Mutter nicht, die sich am Schlusse einer solchen Ausfahrt stets aufs lebhafteste bei ihm bedankte und auch von Thekla verlangte, daß sie ihm Dank abstatte für das »Opfer« das er ihnen gebracht. Sänger pflegte solchen Dank freundlichst anzunehmen, und meinte: es sei seine Pflicht und eine »sehr angenehme Pflicht«, die Damen zu »zerstreuen«.

So ging der Sommer hin. In ein Bad reiste man nicht, obgleich Doktor Beermann davon gesprochen hatte. Die Witwe erklärte, sie vermöge sich jetzt noch nicht vom Grabe ihres Gatten zu trennen.

Thekla schien es, als sei die Zeit noch nie so geschlichen, wie jetzt, wo sie soviel Zeit für sich hatte. Sie fühlte das Bedürfnis nach Thätigkeit. Gelegentlich ging sie in die Küche und half dort. Aber die Köchin, in der Angst, das gnädige Fräulein könne ihr ein Gericht verderben, überließ ihr nur ganz leichte Sachen. Im übrigen duldete sie als echter Küchendrache solchen Besuch nur, wenn er ihr paßte, und verstand es, selbst die Tochter des Hauses hinaus zu komplimentieren. Mit Jungfer und Stubenmädchen ließ sich 77 Thekla nicht ein; die beiden nutzten jede Intimität sofort aus und wurden aufdringlich. Anders schien darüber Arthur zu denken. Er unterhielt sich in Abwesenheit der Mutter gern mit der Jungfer, einem niedlichen kokett gekleideten Dinge; und wie man aus dem Geflüster und Gekicher schließen konnte, wurde dabei allerhand Kurzweil getrieben. Thekla schämte sich für ihren Bruder, daß er sich mit einer gewöhnlichen Zofe in Vertraulichkeiten einließ.

Am meisten noch hatte Thekla von dem Verkehr mit der alten Hanka. Die saß den ganzen Tag in der Plättstube, eine Näharbeit, die niemals fertig wurde, im Schoße; denn Hanka brachte mit ihren schwachen Augen und den zitterigen Händen nichts mehr zu stande. Die anderen Dienstboten nannten sie die »wendische Eule«. Und in der That, mit ihrer Brille, der scharf gebogenen Nase, und der aufgeplusterten Haube sah die Greisin diesem drollig würdevollen Vogel nicht ganz unähnlich.

Thekla saß gern bei ihr. Sie liebte die altmodischen Geschichten der Wendin. Alle Personen, die in Hankas Leben eine Rolle gespielt, waren ihr vertraut. Menschen, die sie mit Augen niemals gesehen hatte, die aber durch die drastische Schilderung der Alten völlig lebendig vor der Phantasie des Kindes standen.

Hankas Lebenslauf glich einem reichlich mit Schrecknissen und Abenteuern gespickten Romane. Ihr Mann war ein Thunichtgut gewesen und hatte sie mit einem ganzen Haufen kleiner Kinder sitzen lassen, um selbst mit einer Gauklergesellschaft auf und davon zu gehen. Auch auf einige von ihren Kindern war dieser Trieb zu unstätem Lebenswandel übergegangen. Der eine Sohn hatte es sogar bis zu fünf Jahren Gefängnis gebracht. Eine Tochter – und die war der Stolz der Mutter – war Garderobiere an einem Theater. All die Abenteuer ihres 78 Gatten und ihrer Kinder, sowie die eigenen Erlebnisse, die Schicksale all der Menschen, welche sie als kleine Kinder auf den Armen getragen, das zusammen bildete eine große Geschichte mit unzähligen Kapiteln, Haupt- und Nebenpersonen.

In diesem Labyrinth fand sich eigentlich nur noch Thekla zurecht. Sie hatte dieses abenteuerliche Durcheinander, das die Alte ohne jede Spur von Sentimentalität mit grausamer Nüchternheit vortrug, hingenommen, so wie Kinder eben alle Eindrücke in sich aufnehmen: die biblische Geschichte, wie die Mythologie, und die germanische Märchenwelt, kritiklos, als vollendete Thatsachen.

Jetzt, wo die Greisin allmählich die Personen und Ereignisse ihres eigenen Lebens zu verwechseln und durcheinanderzuwerfen anfing, kam ihr Thekla zu Hülfe. »Nein, Hanka, es war der Karl, der damals nach Amerika mußte, nicht der Traugott.« Oder in einem anderen Falle: »Damals hast du aber erzählt, daß der kleine Egon sich die Nadel in den Fuß getreten hat, nicht die kleine Vally.« So korrigierte sie das schwindende Gedächtnis der Alten aus dem, was sie selbst erst von ihr empfangen hatte. Der Schluß war dann immer, daß die Greisin mit zitterndem Haupte sagte: »Alte Leute sind zu nichts nich gutt meine Thekla! Hanka wird gnädige Herrschaft auch bald verlassen.«

Am häufigsten sah Thekla noch Ella Bartusch von ihren Freundinnen. Ella hatte gleich Thekla zu Ostern die Schule verlassen. Doch damit sollte ihre Ausbildung nicht zu Ende sein. Ihr Vater verlangte, sie müsse mindestens das Lehrerinnenexamen bestehen. Die Mutter war dagegen, denn sie fand es unter ihrer Würde, eine Tochter zu haben, die ein Brotstudium betrieb. Auch Ella selbst, der das 79 Lernen von jeher schwer gefallen, war nicht begeistert für den Plan. Aber viel zu verschüchtert und dem Vater gegenüber an murrloses Gehorchen gewöhnt, wagte sie es nicht, sich solchem Beschlusse zu widersetzen.

Im geheimen manche Thräne vergießend, besuchte Ella ein Seminar, in welchem junge Mädchen für den Erzieherinnenberuf ausgebildet wurden.

Ein launisches Geschick wollte es also, daß Ella, welche keine Neigung zur Weiterbildung in sich spürte, durch den väterlichen Willen gerade zu dem gezwungen wurde, was Thekla sich wünschte und was ihr untersagt worden war. Beide Mädchen seufzten, daß ihnen die verkehrten Lose zugefallen seien, aber ihr Mißgeschick wurde zum Anlaß, sich näher zu kommen. Thekla ließ sich die Aufgaben zeigen, die Ella mit heim brachte und versuchte sich an ihrer Lösung. Auch all die Bücher, welche die Freundin jetzt zu studieren hatte, las sie mit durch. Und oftmals konnte sie der armen Ella helfen bei ihrer Arbeit.

Noch inniger aber verband die beiden jungen Mädchen das Interesse an den beiderseitigen Brüdern. Ella teilte Theklas Sorgen, daß Arthur abermals durchfallen könne. Thekla wiederum ließ sich von Ella ganz gern die Briefe vorlesen, die Gabriel nach Haus schrieb. Er pflegte sein Schreiben an die Schwester und nicht an die Eltern zu richten. Manches darin mochte darauf berechnet sein, zu Theklas Ohren zu gelangen. Er hatte den Entschluß gefaßt, während der Sommerferien nicht nach Haus zurückzukehren, sondern seine Freiheit zu benützen, um zu Fuß eine Studienreise durch Süddeutschland zu unternehmen. Manche Aufnahme von Baudenkmälern, in der Eile hingeworfen, legte er seinen Briefen bei. Der Vater durfte dergleichen nicht sehen, denn er würde nur von neuem über Gabriels »unausrottbaren Dilettantismus« 80 gewettert haben. Thekla aber, der Ella diese Zeichnungen gern überließ, sammelte die Blätter mit Sorgfalt.

Auch Arthur lebte in einer ganz neuen Welt. Er sprach kaum noch von etwas anderem als von militärischen Dingen. Zum Herbst wollte er eintreten, um sein Jahr abzudienen. Die große Frage war nun: welches Regiment? Es hätte nahe für ihn gelegen, bei dem alten Regimente seines Vaters einzutreten. Aber er hatte sich's nun mal in den Kopf gesetzt, Kavallerist zu werden. Er unterhielt sich auch oft mit den Mädchen darüber. Thekla riet zu den Kürassieren, weil sie fand, Arthur habe die passende Figur dazu. Ella hingegen wünschte, er möchte bei den Ulanen eintreten, sie meinte die Tschapka müsse ihm ausgezeichnet zu Gesicht stehen. Ja, einmal war er ihr im Traume als schneidiger Ulanenoffizier erschienen. Doch erfuhr das einzig Thekla unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit.

Auch mit Lilly Ziegrist hatten die Beziehungen nicht aufgehört. Bei Lilly war die Mauserung vom Backfisch zur Weltdame äußerst schnell vor sich gegangen. Ihre Lieblingsthemata waren: Kleidermoden, über die sie sich durch ein französisches Damenjournal unterrichtete, Hofklatsch, in den sie durch ihren Vater, den Hofmarschall eingeweiht wurde, und gelegentlich auch ein kleiner Skandal, den sie mit früherschlossenen Sinnen überall anfzufangen wußte. Mit der Wahrheit hatte Lilly nie auf besonders vertrautem Fuße gestanden, sie log nicht gerade grob, die Klugheit sagte ihr, daß man damit meist hereinfällt, aber sie schmückte aus. Debutieren sollte sie in der großen Welt zwar erst im Winter, aber ihre Eltern nahmen sie zur Vorbereitung auf diesen wichtigen Schritt schon jetzt in kleinere Gesellschaften mit, angeblich um das gute Kind an Menschen zu gewöhnen, damit sie ihre Schüchternheit überwinden lerne.

81 Im Hochsommer gingen Herr und Frau von Ziegrist mit ihrer alten Herzogin nach einer ländlichen Residenz. Dort gab es für die Tochter natürlich keinen Platz. Daher erschien Frau von Lüdekinds Vorschlag äußerst annehmbar, daß Lilly während der Abwesenheit der Eltern bei ihnen leben solle.

Thekla freute sich herzlich.

Lilly zeigte sich als der angenehmste Gast. Sie konnte liebenswürdig sein, wenn sie wollte; und hier hielt sie das für angebracht. Denn so jung sie war, wußte sie doch schon, daß man sich selbst am besten unterhält, wenn man die Menschen, mit denen man zusammen ist, zu unterhalten versteht. Und sich zu unterhalten war Lillys Lebenszweck. Es gelang ihr wirklich, einiges Leben in das Lüdekindsche Haus zu bringen.

Man war dort gerade an dem Zeitpunkt angelangt, wo eine streng innegehaltene Trauerzeit anfängt, ihre Längen fühlbar zu machen. Ein Jahr beinahe war der Major nun tot. Die Witwe ging noch täglich an sein Grab, und sie und Thekla trugen der Augustsonne zum Trotze immer noch tiefes Schwarz. Man sah keine Gäste und nahm keine Einladung an. Aber doch eilten die Gedanken schon mit einer gewissen Ungeduld jenem Zeitpunkte entgegen, wo das Trauerjahr und sein natürlicher Zwang ihr Ende erreicht haben würden.

Die Witwe sah es daher nicht ungern, daß durch Lillys Besuch gewissermaßen die künstliche Mauer durchbrochen wurde, mit der man sich umgeben hatte. Die Ausfahrten mit dem Vormund nahmen einen etwas weniger feierlichen Charakter an. Lilly setzte es durch, daß zum Rudern und Tennisspielen Erlaubnis erteilt wurde. Sie wußte zu erreichen, was sie wollte. Selbst Finanzrat Sänger konnte ihr auf die Dauer nicht widerstehen. Am 82 schlimmsten aber war es mit Arthur. So kurz vor dem Examen einen Gast wie Lilly im Hause! Der arme Junge verwickelte sich völlig in die Schlingen, die ihre losen Augen um ihn legten. Und was er bis dahin noch nicht an Wissen in sich aufgenommen hatte, das erlernte er in diesen schwülen Hochsommertagen sicher nicht.

Lilly schlief in Theklas Zimmer. Die Mädchen hatten sich's so gewünscht. Und Frau von Lüdekind, die ein Fremdenzimmer für den Gast bereit gehalten hatte, fügte sich diesem Wunsche. Aus ihrer eigenen Jugendzeit wußte sie, daß eine Mädchenfreundschaft erst dann besiegelt ist, wenn man zusammen schläft.

Bis in die sinkende Nacht hinein wurde geschwätzt. Lilly wußte so unterhaltend zu plaudern. Sie war von erstaunlicher Offenheit, sprach von Dingen, an die Thekla kaum zu denken sich getraute, mit einer Gemütsruhe, die das Gewagteste selbstverständlich erscheinen ließ. Manchmal entrüstete sich Thekla und schalt die Freundin, aber Lilly wollte von »Moralpauken« nichts wissen. »So wie ich bin, bin ich nun mal!« war ihre einzige Entschuldigung.

Beim Ankleiden ging es mit großer Unbefangenheit zu. Staunend sah Thekla, was Lilly alles mit sich vornahm. Von Natur hatte sie dünnes Haar, dem sie aber durch entsprechende Behandlung den Anschein von Fülle zu geben wußte. Überhaupt war Lilly mit natürlichen Reizen nicht verschwenderisch ausgestattet. »Hübsch bin ich nicht, das weiß ich, aber ich möchte pikant sein, denn das ist viel mehr!« erklärte sie. »Gott, wenn ich deine Figur hätte, Thekla, was wollte ich anstellen! Donnerwetter, die Männer sollten stehen bleiben, mit offenem Munde!« –

Sie machte sich daran, Thekla anzuziehen, denn davon habe diese keine Ahnung. Eigenhändig behandelte sie das Haar der Freundin und baute ihr eine Frisur auf. Dann 83 wurde eine alte Balltaille hervorgeholt, die man im Kleiderschranke von Theklas Mutter entdeckt hatte, Lilly garnierte sie mit Geschick. Thekla mußte sich's gefallen lassen, daß sie gepudert und parfümiert wurde – »wie man's macht, ehe man in Gesellschaft geht«. Lilly war in höchster Extase über ihr Machwerk, und erklärte mit leuchtenden Augen, Thekla sähe zum Auffressen aus.

Dann verschwand sie auf einige Zeit, um auf einmal als Gigerl verkleidet wieder aufzutreten. Sie hatte dem zufällig abwesenden Arthur einen vollständigen Anzug mit allem, was dazu gehört, entwendet. Nun nahm sie eine tiefe Stimme an und spielte den jungen Mann mit ausgesprochener Kennerschaft. Ihre Liebeserklärung und ihre Küsse waren so feurig, daß Thekla geradezu erschrak und sich in plötzlich erwachtem Schamgefühl vor Lilly in das Nebenzimmer flüchtete, das sie verschloß. Als man sich später in natürlicher Tracht wiedersah, meinte Lilly, Thekla sein ein »Lamm«, und verstehe keinen Spaß.

Am Abend ehe Lilly das Lüdekindsche Haus verlassen sollte, saß sie zur Abschiedsfeier bei Thekla auf dem Bette. Man hatte eben darüber gesprochen, wie nett die Zeit gewesen und wie schnell sie verflossen, als Lilly plötzlich vollkommen unvermittelt fragte: »Sage mal, Thekla, hat eigentlich Finanzrat Sänger deiner Mutter den Hof schon gemacht, als dein Vater noch lebte?«

Thekla sah die Sprecherin mehr verständnislos als erschreckt an.

»Jedenfalls besorgt er es jetzt gründlich. Du wärest imstande, das gar nicht zu merken, Schäfchen! Hast du die verliebten Augen nicht gesehen, mit denen er deine Mutter immer ansieht.«

Thekla setzte sich kerzengrade im Bette auf. »Du bist schlecht, Lilly!«

84 »Ich sage das ja nur, um dich vorzubereiten. Früher oder später wird's doch so, paß mal auf! Du kriegst einen Stiefvater, weißt du, wie Lola Britzwalk einen hat. Da verlobte sich die Mutter auch ein Jahr nach dem Tode des ersten Mannes. Kannst du dich besinnen? Lola bekam ein neues Kleid zur Hochzeit.«

»O, Lilly, du bist schlecht!« wiederholte Thekla. Ihr wurde auf einmal so furchtbar bang zu Mute.

Lilly fuhr unbeirrt fort: »Du müßtest meiner Ansicht nach Stellung nehmen zu der Sache. Wenigstens würde ich das thun, wenn ich an deiner Stelle wäre. Dieser Herr Sänger bildet sich zwar sehr viel ein auf seine Erscheinung, trägt enge Schuhe und färbt sich das Haar, – aber ich denke ihn mir gar nicht nett als Vater. Außerdem ist er nur bürgerlich, und deine Mutter würde ihren Hofrang verlieren. Du mußt ihn tüchtig ärgern, Thekla. – Kind, was weinst du denn?«

»Du hast deinen Vater nicht verloren, Lilly!« schluchzte Thekla.

»Ach werde nur nicht traurig! Das nützt alles nichts. Deine Mutter hat sich ja auch schon getröstet. Du kriegst dann ein neues Kleid zur Hochzeit, wie Lola Britzwalk. Und in gewisser Beziehung denke ich es mir ganz interessant, einen Stiefvater zu haben.«

»O nein, nein!« jammerte Thekla und verbarg ihr Haupt in den Kissen.

* * *

Es kam eine wunderliche Zeit für Thekla Lüdekind. Sie fing eigentlich jetzt erst an, zu begreifen, daß sie nicht 85 mehr Schulmädchen sei. Ihre Freundin Lilly hatte wenigstens einen Lebenszweck, die wollte »pikant sein«. Aber Thekla verspürte dazu weder Lust noch Begabung in sich. Und niemand war da, der ihr irgend ein Ziel hätte vorstecken können, nach dem zu streben der Mühe wert gewesen wäre.

Etwas wie matte Lässigkeit kam über das Mädchen. In der Schule war sie den Mitschülerinnen als ein Muster hingestellt worden von Fleiß, und jetzt konnte sie ganze Stunden vertrödeln mit Nichtigkeiten. Sie schlief lange in den Morgen hinein. Es gab ja nichts für sie, um deswillen es sich verlohnt hätte aufzustehen. Wie war sie früher aus dem Bette gehüpft, freudig und gespannt dem kommenden Tage entgegen. Da hatten tausend kleine Interessen und Aufregungen gewinkt. Jetzt gab es von alledem nichts mehr. Gähnend setzte sie sich nach dem Frühstück an's Klavier und spielte zum hundert und soundsovielsten Male ihre Fingerübungen durch, oder sie stickte an dem Rückenkissen, das Mama zu Weihnachten als Überraschung bekommen sollte; das Muster war bereits im Laden vorgezeichnet. Schließlich las sie auch ein wenig. Aber die Bücher waren meist langweilig. Der Vormund hatte sie ausgesucht.

Frau von Lüdekind war überzeugt, eine gute Mutter zu sein, und glaubte der Tochter gegenüber ihre Pflichten in jeder Beziehung zu erfüllen. Sie sorgte dafür, daß die Kinder gut genährt wurden, sich reinlich hielten, und jederzeit passend angezogen seien. Und auch für Geist und Gemüt wurde etwas gethan. Thekla hatte eine, allgemein als gut renommierte, höhere Töchterschule besucht, war konfirmiert worden, bekam Unterricht im Malen und Klavier. Jetzt sollte dazu auch noch Tanzstunde kommen; was wollte man mehr! Frau Ernestine hatte es in diesem Alter genau so gehabt. Alle Töchter aus den besseren 86 Familien bekamen in diesem Alter Unterricht im Malen, Klavier und Tanzen. Es war das Korrekte so, und außerdem schien es auch die passendste Ausfüllung der Zeit in jenem schwierigen Alter, wo die Mädchen nicht mehr Kinder sind, und doch auch nicht Damen vorstellen können. Auf diese Art und Weise waren sie doch wenigstens auf einige Stunden des Tages untergebracht.

Arthur war nun auch fort. Er hatte zu Michaelis sein Examen gemacht, zwar auch jetzt noch nicht mit Glanz, aber für ihn war die Hauptsache erreicht: das Pennälertum hatte nun sein langersehntes Ende gefunden. Dann war er eingetreten als Freiwilliger. Er hatte sich schließlich doch für die Ulanen entschieden. Ellas Traum war also in Erfüllung gegangen.

Schlimm war es für Thekla, daß sich auch Tante Wanda nicht mehr recht um sie kümmern wollte. Das alte Fräulein hielt sich überhaupt den Verwandten fern seit der letzten stürmischen Auseinandersetzung. Thekla empfand eine gewisse Scheu vor der Tante. Sie hatte es früher gar nicht so bemerkt, daß das alte Fräulein auch unfreundlich sein konnte. Sie, Thekla war doch nicht die Schuldige, wenn aus ihrem Plane nichts geworden war! Aber die Tante meinte höhnisch: »Du hast keinen Unternehmungsgeist mein Kind. Wenn man etwas wirklich will, setzt man es auch durch. Aber du verfällst bereits der Lüdekindschen Bequemlichkeit. Geh mir! In dir habe ich mich getäuscht.«

Wirklich, Tante Wanda war schwer zu verstehen. Sie war doch selbst eine Lüdekind! Und welche Verehrung hatte sie für den Verstorbenen gehabt! Sicherlich, sie war ungerecht! Ob die Mutter nicht doch recht hatte, wenn sie sagte: »Wanda ist eine alte verbitterte Jungfer!« –

Es kam so weit, daß Thekla anfing, Tante Wanda 87 zu meiden. Nur hin und wieder mußte sie ihr eine Anstandsvisite machen; darauf hielt Frau von Lüdekind. Die Witwe wollte nicht alle Verbindung mit der Cousine verlieren; wer weiß wozu Wanda noch einmal gut sein konnte! –

So pilgerte Thekla denn als gehorsames Kind gelegentlich nach dem Häuschen, in welchem das alte Fräulein völlig für sich wohnte. Doch war es nicht mehr das alte vertrauliche Verhältnis zwischen den beiden Fräuleins von Lüdekind, der Sechzigjährigen und der Sechzehnjährigen. Die Herzen waren weit von einander entfernt.

Am lustigsten ging es noch in der Tanzstunde zu. Die Lehrerin, eine ehemalige Ballettänzerin, jetzt eine würdevolle Dame, verstand es, den Ehrgeiz ihrer Schülerinnen anzustacheln. »Nicht jede Dame kann schön sein,« das war einer ihrer Leitsätze, »aber jede Dame kann graziös werden, wenn sie will und wenn sie in die richtige Behandlung kommt.« Übrigens schien sie für ihre Behauptung selbst das beredteste Beispiel. Ihrer auseinandergegangenen Figur zum Trotze wußte sie auf zierlichen Füßchen behende und leicht jeden Pas zu tanzen. »Sehen Sie, so, meine Damen, mit Gefühl! Das Herz muß in den Füßen sitzen, wenn Sie tanzen. So! . .« Und sie hob ihre Röcke leicht mit den Fingerspitzen auf, daß man den koketten Halbschuh sah. »Sehen Sie, so! Und wenn Sie dazu mit den Augen noch die nötige Begleitung geben, dann garantiere ich Ihnen, daß kein Männerherz widerstehen kann.«

Ihr Gatte, ebenfalls Tänzer von Beruf, ein Mann mit volltönendem italienischen Namen, leitete die Herrenklasse. Beiden Parteien wurde in Aussicht gestellt, daß man sie bei guten Leistungen schließlich zu einander führen wolle. Thekla war Kind genug, diesem Ereignis voll Aufregung, ja mit Bangen entgegenzusehen. Sie gab sich die größte Mühe, den Grad von Grazie zu erreichen, den 88 die Lehrerin für notwendig erachtete, um gewürdigt zu werden, mit Schülern Sandrinis, des Professors der Tanzkunst, zu tanzen. Wußte Thekla doch auch von ihrem Bruder Arthur her, der im Jahr zuvor diese Dressur durchgemacht hatte, daß die jungen Herrn sofort mit Kritik und Spott zur Hand waren, wenn ein Mädel ihrer Ansicht nach »ledern tanzte«.

Zweimal in der Woche fand der Unterricht statt. Er bildete eine angenehme Unterbrechung in der grauen Eintönigkeit der Wintermonate, wo man vom Garten nichts hatte und Landpartien nicht unternehmen konnte.

Gelegentlich schlich sich Thekla, um der Langeweile zu entfliehen, in die obere Etage zu Bartuschs. Ella verbrachte jetzt den halben Tag in ihrem Institut und zeigte sich, wenn zu Haus, ziemlich ungenießbar. Obgleich ursprünglich gar nicht begeistert für ihre Thätigkeit, war sie nun doch mit einem gewissen Eigensinne beflissen, durchzusetzen, was ihr die Natur eigentlich versagt hatte. Für Thekla bedeutete es immer ein peinliches Gefühl, Ella von ihrer Thätigkeit sprechen zu hören: was sie alles lernen müsse und wie weit sie jetzt schon sei; ja, nächstens sollte sie bereits eine kleine Kinderklasse probeweise übernehmen. Thekla wurde dadurch immer wieder schmerzlich an das erinnert, was sie selbst einmal gewollt.

Frau Bartusch nörgelte zwar viel über Ellas Thätigkeit und beklagte ihr eigenes trauriges Loos, aber gegen ihre Gäste – deren sie nur wenige hatte – war sie die Liebenswürdigkeit in Person. Fräulein von Lüdekind erschien dieser Frau, die an fortgesetzter Langeweile litt, als stets willkommener Besuch. Hier wurde Thekla von einer Erwachsenen mal ganz als Vertrauensperson behandelt; und welchem jungen Dinge verfehlte das Eindruck zu machen? –

89 Gern brachte die Mutter das Gespräch auf ihren Sohn, der ihr Stolz war. Wenn sie von Gabriel sprach, dann konnten ihre sonst griesgrämigen Züge etwas wie Verklärung annehmen. Er war jetzt in der Schweiz, wo er den ganzen Winter über bleiben wollte. Selbst zu Weihnachten kam er nicht nach Haus, der Reisekosten halber. Sein Studium verschlang sowieso viel Geld.

Für Thekla hatten die Besuche bei Frau Bartusch noch etwas besonders Anziehendes: diese Dame las nämlich ungewöhnlich viel und hatte stets Bücher im Hause. Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß sie ihr Bedürfnis durch die Leihbibliothek befriedigte. Theklas jüngst erwachter Lesetrieb aber fand seine Schranke in der lästigen Aufsicht, die Finanzrat Sänger ausübte. Sowie Frau Bartusch erst mal herausgefunden hatte, daß das junge Mädchen ihre Leidenschaft teile, wußte sie ihr Bücher genug in die Hände zu spielen. Thekla war ein dankbares Publikum. Von der modernen Unterhaltungslitteratur hatte sie so gut wie noch nichts kennen gelernt.

Anfangs las sie nur, wenn sie bei Frau Bartusch zu Besuch war, auf den Husch, hier ein Kapitel und da einen Abschnitt. Aber das war ein unvollkommenes Vergnügen! Als ihr aber die Bücher geradezu aufgedrängt wurden, nahm sie sie mit und las im Bett, oftmals bis in den Morgen hinein. Dann wunderte sich das Stubenmädchen über die tief herabgebrannten Kerzen, und Frau von Lüdekind über das blasse Aussehen und das verträumte Wesen ihres Kindes.

Hin und wieder aber schlug doch das Gewissen. Es war gewiß großes Unrecht, was sie that! Das Heimliche an solchem Treiben widerstrebte ihr. Sie nahm sich vor, das Lesen zu lassen, aber da trat die Versuchung in Gestalt von Frau Bartusch, die wieder ein »hochinteressantes 90 Buch« entdeckt hatte, von neuem an sie heran. Der Trieb war doch stärker als der gute Vorsatz; und in der Nacht darauf lag das junge Mädchen, den Kopf aufgestützt, und durchflog mit glänzenden Augen und verhaltenem Atem Seite um Seite irgend eines romantischen Abenteuers, das sich eine blühende Dichterphantasie ausersonnen hatte.

Ihre Freundin Lilly sah Thekla in diesem Winter nur selten. Lillys Zeit war ganz durch Geselligkeit mit Beschlag belegt. Sie lachte über Thekla, die noch Tanzstunde nehmen mußte. Sie flog bereits von einem Ball zum andren.

Der Argwohn, den Lilly in das Gemüt ihrer Freundin gesenkt, war dort nicht eingeschlafen, im stillen wirkte er fort. Mit minder arglosen Blicken sah die Tochter zu, wenn die Mutter Vorbereitungen traf, für den Empfang des Vormunds. Alles wurde ihm ja geradezu von den Augen abgelesen; sein Wunsch war Befehl. »Der Herr Finanzrat will es so!« das war das entscheidende Wort für den ganzen Haushalt.

Die Witwe entschuldigte eines Tages ihr Verhalten selbst. Der Herr Finanzrat thue ihr so leid. Es sei nicht leicht für einen Junggesellen, das ewige Gasthofessen und den Mangel einer wirklichen Häuslichkeit zu ertragen. Sie halte es für ihre Pflicht, dem bewährten Freunde des Verstorbenen das Leben etwas angenehmer zu machen.

Thekla wußte nun erst recht nicht, was sie denken sollte. Die Verlegenheit ihrer Mutter war ihr nicht entgangen. Wenn Lilly doch recht haben sollte! – Alles was gut und anständig war, schien sich gegen diesen Gedanken zu empören. Gewiß war es schlecht und unnatürlich von ihr, so etwas nur zu denken. Aber schließlich, man konnte doch seinen Augen nicht verbieten, zu sehen!

Sänger selbst that übrigens nichts, was Theklas 91 Verdacht hätte bestätigen können. Er sagte nach wie vor »gnädige Frau« zu der Witwe, und legte ihr gegenüber ein umständlich steifes Wesen an den Tag. Bei Tisch pflegte er wiederzugeben, was er an Neuigkeiten aus den Zeitungen aufgelesen hatte. Nach Tisch rauchte er seine Cigarre und philosophierte über den Weltlauf. Thekla fand ihn so uninteressant, wie nur möglich.

Eine Stunde etwa nach dem Abendessen, pflegte er nach der Uhr zu sehen und mit der stets wiederkehrenden Wendung zu sagen: »Wie die Zeit vergeht! Es ist schon wieder um neun Uhr. Ich werde nun bald an Aufbruch denken müssen.«

Und als Echo darauf meinte die Witwe: »Thekla, du wirst müde sein. Junge Menschen brauchen Schlaf,« oder etwas dergleichen.

Thekla sagte »Gutenacht« und ging nach ihrem Zimmer. Aber noch lange nicht gab ihr dann die Hausthürglocke das Zeichen, daß Sänger gegangen sei.

Schrecklich zu denken, daß die Mutter lügen könne! –

 


 


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